Mit dem EU-Türkei-Deal geht Europa einen von Australien eingeschlagenen Pfad, durch den das Leben derer, die jetzt und in Zukunft vor Kriegen fliehen, auf dem Spiel steht. Der Deal gefährdet das Konzept „Flüchtling“ als solches.
Ein Gastbeitrag von Paul McPhun, Australien-Chef von Ärzte ohne Grenzen.
Vergangene Woche feierte Europa zum Europa-Tag Einheit und Frieden auf dem Kontinent. Doch anno 2016 müssen wir befürchten, dass Europas Führer eher darin geeint sind, Menschen, die unseren Schutz suchen, den Rücken zuzukehren.
Im März verabschiedeten die europäischen Staats- und Regierungschefs ein Abkommen mit der Türkei, welches es Griechenland ermöglicht, Flüchtlinge zurück in die Türkei abzuschieben. Im Gegenzug erhält Ankara – neben weiteren Annehmlichkeiten wie der geplanten EU-Visafreiheit für Türkinnen und Türken – ein Multimilliarden-Euro-Hilfspaket.
Genau wie Australiens „push back“-Politik und sein Offshore-Inhaftierungsprogramm bedroht dieses neue Abkommen – der so genannte „EU-Türkei-Deal“ – das Recht aller hilfsbedürftigen Menschen auf Asyl und verstößt gegen die Pflicht von Regierungen, jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind in ihrer Suche nach Schutz zur Seite zu stehen. Das Leben und die Gesundheit von flüchtenden Menschen aufs Spiel zu setzen und Asylsuchenden enormes Leid zu bereiten, ist unter keinen Umständen ein zu rechtfertigendes Mittel, um andere Menschen davon abzuhalten, auf dem Meer ihr Leben zu riskieren, oder schlimmer noch, um schlicht Grenzsicherung zu betreiben.
Menschen in Transitländer zurückzudrängen oder in Offshore-Haftanstalten zu deportieren, lässt das Recht auf Asyl zu nichts anderem als einem Faustpfand im politischen Machtpoker verkommen, mit dem Ziel, Flüchtlinge so weit wie nur irgend möglich von unseren Grenzen fern zu halten – und von den Augen der Wähler.
Im Gegenzug für diesen Deal verspricht Europa „humanitäre“ und Entwicklungshilfe, um den Bedürfnissen der syrischen Flüchtlinge in der Türkei gerecht zu werden und präsentiert diese Gelder als Werkzeug, um menschliches Leid zu lindern. Diese Hilfsgelder an willfährige Nachbarn wie die Türkei auszuschütten, ist jedoch damit verbunden, menschliches Leid vor die Küsten auszulagern. Es verrät das humanitäre Prinzip der unparteiischen Hilfeleistung, die auf Not basiert – und auf Not allein – und nicht an politische Bedingungen geknüpft ist. Mit der Bereitstellung von Milliardenbeträgen für Menschen in der Türkei, weit außerhalb des europäischen Sichtfelds, macht Europa so auch verschiedenste Hilfsorganisationen mitschuldig bei ihrem Vorhaben zur Abschottung der Grenzen.
Auch die australische Regierung hat ihre „push back“-Politik stets als „humanitär“ bezeichnet. Und auch sie hat diese Politik in ähnlicher Weise über ihren Haushalt für Entwicklungshilfe finanziert. Doch Menschen ihr Recht auf Schutz zu verweigern, und sie stattdessen außer Sichtweite leiden und sterben zu lassen, hat nicht das Geringste mit „humanitärer Hilfe“ zu tun.
Bis zum heutigen Tage ist dieser EU-Türkei-Deal der am besten organisierte kollektiv-europäische Vorstoß mit dem Ziel, Menschen abzuschieben, anstatt ihnen Hilfe zu leisten. Hiermit sendet Europa – genau wie Australien – ein gefährliches Signal an den Rest der Welt: Ihr könnt euch aus eurer Pflicht zur Gewährung von Schutz und Asyl freikaufen.
Wenn dieses Herangehen von anderen Staaten übernommen wird, hört das Konzept „Flüchtling“ auf zu existieren. Die Menschen werden in Kriegsgebieten eingeschlossen, außer Stande, ihr Heil in der Flucht zu suchen, unter ständiger Bedrohung, von Kriegsparteien auch in Flüchtlingscamps entlang geschlossener Grenzen bombardiert zu werden – wie wir es vor Kurzem erst in Syrien erlebt haben.
Dies hat nicht nur dramatische Auswirkungen auf diejenigen, die heute Schutz im Flüchtlingssystem suchen, sondern untergräbt auch erheblich die Glaubwürdigkeit der Flüchtlingskonvention generell. Wenn Unterzeichnerstaaten wie Australien und die europäischen Länder diese Normen systematisch missachten, wie können wir von unseren asiatischen Nachbarn erwarten, internationale Verantwortung zu übernehmen?
Die EU und Australien unternehmen größte Anstrengungen, um darzulegen, dass ihre Deals internationalem und europäischem Recht genügen. Wir sind nicht überzeugt. Ähnliche Versprechen haben in der Vergangenheit versagt. Unsere „Ärzte ohne Grenzen“-Teams vor Ort werden immer wieder Zeugen von Menschenrechtsverletzungen auf europäischem Boden, einschließlich des brutalen Abfangens von Booten in der Ägäis durch türkische Sicherheitskräfte.
Dasselbe gilt in Südostasien, wo durch die australische Abschottungspolitik das Leben von schutzbedürftigen Menschen mehr und mehr in Gefahr gebracht und das Leiden von staatenlosen Flüchtlingen und Vertriebenen in Kauf genommen wird.
Erst vor Kurzem haben wir von der europäischen Polizei gebrochene Knochen wieder zusammengeflickt, von ihren Gummigeschossen in den Kopf getroffene Kinder behandelt und die Augen von Babys gespült, die mit ihrem Tränengas besprüht wurden.
Der „herzliche“ Empfang, der den Menschen in Australien bereitet wurde, hallt nun in dem für die Menschen in Griechenland wider, und löscht oft den letzten Funken Hoffnung aus, der ihnen noch geblieben ist.
Auf den „Hotspots“ der Mittelmeer-Insel wurden faktisch keinerlei Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Frauen fürchten, die Toiletten zu benutzen, sobald die Dunkelheit einkehrt, Mütter betteln um Milch für ihre Babys. Männer jeden Alters verlieren jegliche Würde, wenn sie um Abfälle oder den nächsten Platz in der Warteschlange kämpfen.
Wir verstehen, dass das Meistern der globalen Flüchtlingskrise zu einem hochumstrittenen politischen Thema geworden ist, doch es ist in erster Linie eine humanitäre Angelegenheit. Es ist eigentlich ganz einfach: Menschen brauchen unsere Hilfe und unseren Schutz.
Während unzählige Menschen auf der ganzen Welt aufgestanden sind und diese Herausforderung durch ihr freiwilliges Engagement angegangen sind, indem sie anderen einfach halfen, hinken die Herrscher dieser Welt hinterher – aus Angst vor politischen Konsequenzen.
Wir fordern die Führer von Europa, Australien und der ganzen Welt auf, sich den Herausforderungen zu stellen: hört auf, das Elend vor die Küsten abzuschieben, hört auf, euch aus eurer Verantwortung freizukaufen, instrumentalisiert eure Hilfeleistungen nicht als Taktik zur Grenzsicherung, und nutzt stattdessen eure umfangreichen Mittel, um diejenigen zu schützen, die eure Hilfe brauchen.
Dieser Text von Paul McPhun wurde von Jakob Reimann übersetzt und erschien auch zuerst auf Jakobs blog JusticeNow! – connect critical journalism!