Klassen im Kampf – Aber wenn, wie viele?

Seit einiger Zeit wird innerhalb der deutschen Linken wieder intensiver über Klassenpolitik diskutiert. Das ist erfreulich. Die ak (Analyse und Kritik a.d.R.) etwa öffnete ihre Seiten für eine Artikelreihe, in der die möglichen Achsen und Konturen einer möglichen ‚neuen Klassenpolitik‘ bestimmt werden sollten. Und auch im Umfeld der LINKEN wird, im Zusammenhang mit Diskussionen um richtige Antworten auf den Aufstieg der AfD und die Notwendigkeit eines Mitte-Unten-Bündnisses, ‚Klasse‘[1] wieder stärker zum Thema.

Noch ist die inhaltliche Auseinandersetzung aber an ihrem Anfang. Bisher kristallisieren sich drei grundlegende Fragen heraus, deren Beantwortung entscheidende strategische Konsequenzen haben wird.

Die erste lautet, wie viele Klassen es in unserer Gesellschaft eigentlich gibt – mithin, ob alle Menschen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, zur ArbeiterInnenklasse gehören. Die zweite ist, ob SozialistInnen, die die kapitalistische Produktionsweise mit Hilfe ‚revolutionärer Realpolitik‘ zu überwinden suchen, ein klassenübergreifendes Bündnis schaffen müssen. Drittens wird „gefragt“, ob es aufgrund der ungleichen Entwicklung der globalen Arbeits- und Lebensverhältnisse nicht Teil fortschrittlicher Klassenpolitik sein müsse, Arbeitsmigration zu „regulieren“, also hier lebende ArbeiterInnen vor der Konkurrenz zu schützen.

Im Folgenden werde ich diese Frage in fünf Schritten beantworten. Zuerst werde ich darstellen, was MarxistInnen gemeinhin unter Klassen verstehen. Im zweiten Schritt arbeite ich heraus, worin die Eigenart von Klassengesellschaften zu finden ist, in denen die kapitalistische Produktionsweise dominiert oder sich völlig durchgesetzt hat. Vor diesem Hintergrund werde ich drittens umreißen, welche Klassen es in der heutigen Gesellschaft gibt. Unterscheiden werde ich zwischen Monopol-, Mittel- und Kleinkapital, zwischen einem traditionellen Kleinbürgertum, lohnabhängigen kleinbürgerlichen Zwischenschichten und der buntscheckigen ArbeiterInnenklasse. Beide Formen des Kleinbürgertums bilden zusammen mit der ArbeiterInnenklasse die subalternen bzw. Klassen unserer Gesellschaft. Davon ausgehend werde ich schließlich argumentieren, warum wir ein ‚klassenübergreifendes‘ populares Bündnis unter der Hegemonie der ArbeiterInnenklasse schmieden müssen. Ich nenne dieses Bündnis ‚Volk der Linken‘. Dieses ‚Volk der Linken‘ muss zwingend postnational sein und kann im gemeinsamen Kampf gegen die AusbeuterInnen entstehen. Nicht Abschottung von anderen ArbeiterInnen, die hinterrücks die Konkurrenz vertiefen und nationalen Chauvinismus stärken wird, sondern die gemeinsame Organisierung und Aufklärung ist Gebot der Stunde[2].

Arbeiterklasse?

1. Was sind überhaupt Klassen?

„Ich gehöre eher zur Mittelklasse, ich kann mir immerhin einen VW-Golf leisten!“ Solche Aussagen sind nicht selten. Im Alltagsverstand werden Klassen häufig über die Höhe des Einkommens, über Konsummöglichkeiten oder auch über ungleiche Bildung hergeleitet, wenngleich solche Wahrnehmungen von (wirtschaftlicher und kultureller) Verteilungsungleichheit oft auch mit mehr oder weniger klaren Vorstellungen über ungleiche Macht und unterschiedlich große (politische) Einflussmöglichkeiten verbunden sind[3].

Die Verteilung von Ressourcen, Macht und der ungleiche Zugang zur Kultur spielen auch in marxistischen Klassenanalysen eine zentrale Rolle. Dennoch bricht sie mit den gängigen Alltagsvorstellungen, die sich auch in üblichen soziologischen Ungleichheitsansätzen niederschlagen. Sofern diese von Klassen ausgehen, bestimmen sie diese als Erwerbs- und Einkommensklassen, in den interessanteren Ansätzen noch ergänzt bzw. verfeinert durch die Berücksichtigung von (Aus-) Bildung, Beruflichkeit und kulturellen Vorlieben[4].

Produktionsweisen und Klassenausbeutung

Die marxistische Klassenanalyse stellt dagegen grundlegende Ausbeutungsbeziehungen sowie damit verbundene soziale und politische Herrschaftsverhältnisse in den Mittelpunkt. Deshalb unterscheidet sie ausgebeutete und beherrschte von ausbeutenden und herrschenden Klassen. Insofern sind Verteilungsfragen und Fragen der politischen Durchsetzungsfähigkeit auch für MarxistInnen wichtig, allerdings im Rahmen einer historisierenden Theorie der Ausbeutung, der Herrschaft und der Kämpfe darin und dagegen. Die Geschichte, so Marx und Engels, ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Und das erkennende mögliche kollektive Subjekt, das so zum Agenten der Befreiung werden könnte, das ist die unterdrückte, die kämpfende Klasse selbst[5]. Die marxistische ist daher eine Theorie des Klassenkampfes, die auf einer komplexen Analyse sozialer Beziehungen beruht.

Die bürgerliche Gesellschaft ist aus dieser Perspektive nicht die erste Klassengesellschaft, sondern lediglich die erste, in der sich Menschen selbst im Begriff der Klasse verstanden haben. Es war das aufstrebende und sich durchsetzende Bürgertum, das sich in Konflikt mit oder doch in Spannung gegenüber den alten feudalen Kräften als dynamische und produktive Mittelklasse dachte, die – anders als Adel und Klerus – zum „Wohlstand der Nation“ beitrug. Im „Manifest der Kommunistischen Partei“, dem wohl bekanntesten politischen Essay aus der Feder von Marx und Engels, wird diese Geschichtsperspektive wie folgt geöffnet:

„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.

Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.

In den früheren Epochen der Geschichte finden wir fast überall eine vollständige Gliederung der Gesellschaft in verschiedene Stände, eine mannigfaltige Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen. Im alten Rom haben wir Patrizier, Ritter, Plebejer, Sklaven; im Mittelalter Feudalherren, Vasallen, Zunftbürger, Gesellen, Leibeigene, und noch dazu in fast jeder dieser Klassen besondere Abstufungen.

Die aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt.

Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.

Aus den Leibeigenen des Mittelalters gingen die Pfahlbürger der ersten Städte hervor; aus dieser Pfahlbürgerschaft entwickelten sich die ersten Elemente der Bourgeoisie.“[6]

Freier und Sklave, Baron und Leibeigener – das sind die jeweiligen zwei Hauptklassen, die es in jeder Produktionsweise gibt. In der antiken sind es die Sklaven und die Freien (z. B. freie Bauern), in der feudalen sind es die abhängigen Bauern und der Adel und in der kapitalistischen sind es die ArbeiterInnenklasse und das Bürgertum.

Die Trennung in unmittelbare ProduzentInnen und die sie ausbeutenden Klassen existieren aufgrund einer gesellschaftlichen Arbeitsteilung, in der sich dauerhaft ein Teil einer Gesellschaft das von einem anderen Teil erarbeitete Mehrprodukt aneignen kann. Die Klassenbildung ist allerdings ein Ergebnis, keine Konstante der Menschheitsgeschichte[7].

„Durch das Mehrprodukt kann die Gesellschaft in einen Teil, der es produziert und einen, der es aneignet und über seine Verwendung verfügt, gespalten werden. Das ist die Grundlage jeder im Verlauf der Geschichte auftretenden antagonistischen Gesellschaft, gleichgültig wie jeweils die reale Klassengliederung aussieht. Die Konsequenz, die sich aus dem Aufkommen eines gesellschaftlichen Mehrprodukts und aus der Problematik seiner Verteilung und Steigerung herleiten, sind umwälzend. In der Entfaltung des widersprüchlichen Verhältnisses zwischen der gesellschaftlichen Arbeit und der partikularen Aneignung des Mehrprodukts liegt für Marx der Schlüssel zur Erklärung einer mehrtausendjähringen Entwicklung der Gesellschaft; von Aufstieg, Niedergang und Umwälzung verschiedener nebeneinander bestehender und aufeinander folgender Klassengesellschaften. Der Hebel, um die Verfügung über Mehrarbeit und ihr Resultat, das Mehrprodukt, zu erhalten, ist die Kontrolle über die Produktionsmittel (Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstände).“[8]

Die gesellschaftliche Arbeitsteilung wird auf Basis der gesellschaftlichen Produktivkraftentwicklung (z.B. Technik, Wissenschaft, menschliche Fähigkeiten) organisiert. Die so entstandenen Klassenverhältnisse sind Teil der Produktionsverhältnisse, in denen gearbeitet und produziert wird. Die unmittelbaren ProduzentInnen schaffen ein ökonomisches Gesamtprodukt, das – nach Abzug der Mittel, die zu ihrer eigenen Reproduktion nötig sind – als Mehrprodukt von den ausbeutenden Klassen angeeignet wird.

Wie genau dieses Produkt erzeugt wird, welche Form es annimmt, wie das Mehrprodukt angeeignet bzw. verteilt wird durch die Ausbeutenden und wie die genauen sozialen Beziehungen zwischen den unmittelbaren ProduzentInnen und den AusbeuterInnen aussieht, charakterisiert die jeweiligen Produktionsweisen:

„In einer Klassengesellschaft werden die Produktionsverhältnisse durch eine doppelte Beziehung gebildet, die die Verhältnisse der Menschen zur Natur in der materiellen Produktion einschließt. Die beiden Beziehungen sind Beziehungen der Agenten der Produktion zum Gegenstand und zu den Mitteln der Arbeit (den Produktivkräften) und auf diese Weise über diesen Umweg Beziehungen der Menschen untereinander, Klassenverhältnisse:

  1. a) die Beziehung des Nicht-Arbeiter (Eigentümers) zum Gegenstand und zu den Mitteln der Arbeit;
  2. b) die Beziehung des unmittelbaren Produzenten (oder des unmittelbar produzierenden Arbeiters) zum Gegenstand und zu den Mitteln der Arbeit.

Diese Beziehungen umfassen zwei Aspekte:

  1. a) das ökonomische Eigentum: darunter versteht man die wirkliche ökonomische Kontrolle der Produktionsmittel, d.h. die Macht, die Produktionsmittel gegebenen Verwendungszwecken zuzuweisen und somit über die erhaltenen Produkte zu verfügen;
  2. b) den Besitz: darunter versteht man die Fähigkeit, die Produktionsmittel in Gang zu setzen, d.h. die Beherrschung des Arbeitsprozesses.

In jeder Klassengesellschaft deckt sich die erste Beziehung (Eigentümer/Produktionsmittel) immer mit dem ersten Aspekt: die Eigentümer haben die wirkliche Kontrolle der Produktionsmittel und beuten so die unmittelbar produzierenden Arbeiter aus, indem sie ihnen in mehreren Formen die Mehrarbeit abpressen. (…).

Die zweite Beziehung, die der unmittelbaren Produzenten – der Arbeiter – zu den Mitteln und dem Gegenstand der Arbeit, konstituiert die Beziehung, die innerhalb der Produktionsverhältnisse die ausgebeutete Klasse bestimmt.

Diese Beziehung kann gemäß der verschiedenen Produktionsweise verschiedene Formen annehmen.

In den ‚vorkapitalistischen‘ Produktionsweisen waren die unmittelbaren Produzenten – die Arbeiter – nicht völlig von den Mitteln und dem Gegenstand der Arbeit ‚getrennt‘. Nehmen wir den Fall der feudalen Produktionsweise: obwohl der Herr zugleich das juristische und das ökonomische Eigentum am Boden hatte, war der Leibeigene im Besitz seines Stück Bodens; er stand unter dem Schutz der Gewohnheitsrechte und der Herr konnte ihn nicht einfach und ohne weiteres seines Besitzes berauben (…). Im Fall dieser Produktionsweise erfolgte die vorherrschende Ausbeutung über die unmittelbare Ab-schöpfung der Mehrarbeit in Form der Fron oder der Naturalsteuer. (…).

Dagegen sind in der kapitalistischen Produktionsweise die unmittelbaren Produzenten – die Arbeiterklasse – vollständig ihrer Arbeitsmittel beraub und selbst deren Besitz fällt dem Kapital zu. Dies ist die vollendete Form der Trennung der Arbeiter von ihren Produktionsmitteln, die die Erscheinung dessen bedingt, was Marx als ‚nackten Arbeiter‘ bezeichnet. Der Arbeiter besitzt nur seine Arbeitskraft, die er verkauft. Gerade diese entscheidende Modifikation der Stellung der unmittelbaren Produzenten in den Produktionsverhältnissen bewirkt, daß die Arbeit selbst eine Ware wird, d.h. sie bestimmt die Verallgemeinerung der Warenform und nicht umgekehrt (…).“[9]

In der feudalen Produktionsweise ist die beherrschte und ausgebeutete Hauptklasse z. B. die Bauernschaft, die besitzende, ausbeutende und herrschende der Adel. Das Produkt wird hier – idealtypisch zugespitzt – in Produktionsverhältnissen erzeugt, in dem Land als Produktionsmittel einem Fürsten gehört, dem Adel zum Lehen gegeben wird und schließlich von direkt abhängigen (z. B. leibeigenen) Bauern bewirtschaftet wird. Das erzeugte Produkt wird aufgeteilt. Entweder Bauern arbeiten einen bestimmten Zeitraum auf dem Land des Herren, sie zahlen eine direkte Pacht oder Abgaben in Naturalform (den Zehnten). Das Mehrprodukt wird entweder in Form der mehrgeleisteten Arbeit auf dem Land der Ausbeuter oder in Form der Abgaben angeeignet[10]. Klassenausbeutung beruht insofern zwingend auf Herrschaft – auf ökonomischer sowie politischer Herrschaft.

Wer hat die Macht über Mensch und Natur?

Politische Herrschaft und Kultur

Bisher war von den ökonomischen Ausbeutungsverhältnissen die Rede, das Verhältnis zu den Formen politischer Herrschaft und kultureller Ungleichheit wurde bisher ausgeklammert.

Zu den Formen der politischen Herrschaft nur so viel: In den vorkapitalistischen Produktionsweisen, namentlich der antiken und feudalen, waren die ökonomisch auch die direkt politisch Herrschenden. In den demokratischen Stadtstaaten Sparta und Athen etwa eine freie Stadtbürgerschaft, die auf Kosten von Sklaven lebte. In der feudalen der Adel, der nicht nur von den Abgaben der Bauern lebte, sondern auch Recht über sie sprach. In diesem Sinne fielen ökonomische Ausbeutung und politische Herrschaft nicht auseinander[11], auch wenn sich die politischen Herrschaftsformen in der antiken und feudalen Produktionsweise ansonsten voneinander unterschieden haben[12]. In kapitalistischen Gesellschaften konnten wir – neben einer Reihe von Militär- und Präsidialdiktaturen – zwei grundlegend unterschiedliche politische Herrschaftsformen beobachten, durch die bürgerliche Klassenherrschaft ausgeübt wurde, den Faschismus und den bürgerlich-demokratischen Staat. Der Faschismus ist eine terroristische Herrschaftsform und unterscheidet sich von der Demokratie grundlegend. Was Faschismus, andere Formen der Diktaturen und die Demokratie dennoch eint: Die ökonomisch Herrschenden sind nicht die direkt politisch Herrschenden, wenngleich es enge Verflechtungen geben kann[13]. Im demokratisch-kapitalistischen Staat setzen sich Kapitalinteressen zwar durch, zum einen aufgrund des grundlegenden kapitalistischen Charakters des Staates, zum anderen aufgrund von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen (in denen Kapitalfraktionen in der Regel die Oberhand haben) – aber es sind nicht die KapitalistInnen, die direkt politische Macht ausüben.

Abschließend lediglich in aller Kürze noch zur Frage der Kultur: Es ist offensichtlich, dass der Zugang zur Kultur in allen Klassengesellschaften den herrschenden und privilegierten Klassen stark vorbehalten blieb. Das gilt im Prinzip auch für bürgerlich-demokratische Gesellschaften, wenngleich hier durch Massenkultur und Massenbildung wichtige Fortschritte gemacht wurden. Neben dem ungleichen Zugang zu Kulturgütern ist ein anderer Aspekt der Kultur in Klassengesellschaften wichtig, sie ist nicht „unabhängig“, sie trägt das Mal der Herrschaft und ist nicht „neutral“:

„Die Kultur erwächst aus dem Kampf des Menschen mit der Natur für seine Existenz, zur Verbesserung seiner Lebensbedingungen, zur Erhöhung seiner Macht. Aber aus dieser Grundlage erwachsen auch die Klassen. In diesem Prozess der Anpassung an die Natur, im Kampf gegen die feindlichen Kräfte, gestaltet sich die menschliche Gesellschaft zu einer komplizierten Klassenorganisation. Der Bau der Klassengesellschaft bestimmt aber in entscheidendem Grade Inhalt und Form der menschlichen Geschichte, das heißt ihre materiellen Beziehungen und ihre ideologischen Widerspiegelungen. Damit ist gesagt, dass die historische Kultur einen Klassencharakter hat.

Die sklavenbesitzende Gesellschaft, die feudal-leibeigene und die bürgerliche Gesellschaft erzeugten auch eine entsprechende Kultur, auf verschiedenen Etappen verschiedenartige Kulturen mit zahllosen Übergangsformen. Die historische Gesellschaft ist eine Organisation des Ausnutzens des einen Menschen durch den andren. Die Kultur dient der Klassenorganisation der Gesellschaft. Die ausbeutende Gesellschaft erzeugt eine Kultur der Ausbeutung.“[14]

Teil dieser Kultur sind auch die sich entwickelnden Produktivkräfte, von denen in mechanischen bzw. ökonomistischen Varianten des Marxismus angenommen wird, ihre Entwicklung würde zu Spannungen und Widersprüchen führen, durch die die Produktivkräfte wenn nicht gesprengt, so doch tief erschüttert würden. Das ist ein Irrtum

„(…) weil die Produktivkräfte kein neutrales, den Gesellschaftsformen gegenüber objektives Produkt sind, sondern tief von dem Signum der Produktionsweise, in der sie sich herausbilden, geprägt werden. Es gibt keine Wissenschaft, keine Technik, keine Kultur und auch kein System menschlicher Produktivkräfte ‚an sich‘: Allesamt bilden sie sich nach dem Mechanismus eines bestimmten gesellschaftlichen Systems und konditionieren es ihrerseits.“[15]

Foto: Jimmy Bulanik

Gesellschaftsformationen und Produktionsweisen

Keine konkrete Gesellschaftsformation, sagen wir: Spanien 1490 oder Russland 1917, besteht lediglich aus zwei Hauptklassen. Was ist, ließe sich etwa fragen, mit den spanischen Schiffsbauern, die die Nina, die Pinta und die Santa Maria bauten, mit deren Hilfe Columbus die „Neue Welt“ entdeckte? Wozu gehörte der Klerus? Oder: Im Russland des Jahres 1917 dominierte noch immer die feudale Produktionsweise, eine abhängige Bauernschaft und ein rückständiger Adel prägten die Sozialstruktur und die Politik des Landes. Gleichzeitig gewann die kapitalistische Produktionsweise an Bedeutung, die – u.a. aufgrund staatlicher und ausländischer Investitionen – ein modernes Proletariat, das sich in einigen Städten konzentrierte, und ein schwaches Bürgertum schuf. Das Ergebnis: Am Abend der russischen Revolution existierten in Russland zwei ausgebeutete Klassen, die Bauernschaft und das Proletariat. Nach Schätzungen gehörten 1913 nur 14% der russischen Bevölkerung zur ArbeiterInnenklasse, aber 67% zur Bauernschaft[16].

Mit anderen Worten: In konkreten Gesellschaftsformationen können mehrere Produktionsweisen miteinander koexistieren, von denen eine die gesamte gesellschaftliche Entwicklung allerdings prägt[17]. Gleichzeitig gibt es in jeder Produktionsweise nicht nur Hauptklassen, sondern auch Zwischenschichten. Im feudalen Spanien waren das etwa der nicht-besitzende Klerus oder Bedienstete und Handwerker. Die Klassenstrukturen von konkreten Gesellschaftsformationen umfassen deshalb in der Regel mehr als zwei Hauptklassen (die in „Schichten“ und „Fraktionen“ sich teilen lassen).

2. Klassen im Kapitalismus

Die kapitalistische Produktionsweise wurde im Laufe von Jahrhunderten durchgesetzt, politische und soziale Auseinandersetzungen (in England etwa der Klassenkampf zwischen Grundherren und Bauern) spielten dabei eine herausragende Bedeutung[18]. Marx hat im 24ten Kapitel von „Das Kapital“ diese Verbürgerlichung der Gesellschaft als „Ursprüngliche Akkumulation“ analysiert – eine Geschichte der Herausbildung des Kapitalverhältnisses, der Vertreibung von Bauern von ihrem Land und der Disziplinierung der Proletarisierten, eine Geschichte von Blut und Gewalt.

Diese ursprüngliche Akkumulation wiederholt sich, wenn auch in anderen Formen, permanent. Zum einen durch das Eindringen von Kapital in Regionen, in denen bisher noch nicht kapitalistisch gewirtschaftet wurde; zum anderen, indem neue Geschäftsfelder in Gesellschaftsformationen ‚erschlossen‘ werden, in denen die kapitalistische Produktionsweise bereits dominiert. Sowohl die weitere innere als auch die äußere kapitalistische Landnahme werden durch die bereits laufende und entwickelt Kapitalakkumulation begrenzt und bestimmt. Mit anderen Worten: Geleitet durch oder im Wettbewerb mit bereits existierenden Unternehmen[19].

In der kapitalistischen Produktionsweise sind die Hauptklassen die ausgebeutete buntscheckige ArbeiterInnenklasse (unmittelbare ProduzentInnen) und das Bürgertum (als aneignende Klasse). Diese Klassen „existieren“ lediglich in einem Ausbeutungs- und Aneignungsverhältnis zueinander, ohne Kapital keine Arbeiterklasse, ohne Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse keine Verwertung des Kapitals. Die fortschreitende Profitmaximierung und das Wachstum des Kapitals setzt deshalb auch die stetige Reproduktion der Klassenverhältnisse voraus.

2.1 Kapitalverhältnis

Kapital ist ein soziales Verhältnis. Kapital existiert nur, insofern Geld in Produktionsmittel und Arbeitskraft investiert werden kann, Waren (ob materielle oder immaterielle) geschaffen und mit Gewinn verkauft werden können.

Geschaffen werden die Profite durch die Ausbeutung der Arbeitskraft, das Mehrprodukt nimmt in der kapitalistischen Produktionsweise die Form des Mehrwertes an, der in erzeugten Waren enthalten ist. Produktionsmittel und Arbeitskraft können auf Märkten gekauft werden, auf dem Arbeitsmarkt tritt der Kapitalist dem Arbeiter deshalb als gleichberechtigter Vertragspartner gegenüber, freier Verkäufer trifft freien Käufer.

In der Produktionssphäre verwandeln sich die Freien und Gleichen in Herr und Knecht, der Kapitalist bestimmt, der Arbeiter führt aus. Die ausbeuterische Macht beruht auf dem Ausschluss der unmittelbaren Produzenten von Eigentum und Besitz an den Produktionsmitteln[20]. So wird die modernste Form der Klassenherrschaft begründet, da Herrschaft in Klassengesellschaften sich „(…) fast ausschliche eine Herrschaft über Menschen vermöge und vermittelt der Herrschaft über Dinge (…)“[21]. Der investierende Kapitalist „tritt von vornherein (…) als Besitzer der Produktionsmittel auf, welche die gegenständlichen Bedingungen der produktiven Verausgabung der Arbeitskraft durch ihren Besitzer bilden. Mit andren Worten: diese Produktionsmittel treten dem Besitzer der Arbeitskraft gegenüber als fremdes Eigentum. Andererseits steht der Verkäufer der Arbeit ihrem Käufer als fremde Arbeitskraft, die in seine Botmäßigkeit übergehn, seinem Kapital einverleibt werden muß, damit dies wirklich als produktiv sich betätige.“[22]

Diese Ausschließung, die geschichtlich ein wesentliches Moment der Durchsetzung kapitalistischer Klassenverhältnisse war, muss auch in der Gegenwart gesichert werden. Hier schlägt u.a. die Stunde des Staates. Zunächst ist es aber der kapitalistische Produktionsprozess selbst, so Marx, der die Trennung zwischen Arbeitskräften und Produktionsmitteln permanent wiederholt.

„Der kapitalistische Produktionsprozeß reproduziert (…) durch seinen eigenen Vorgang die Scheidung zwischen Arbeitskraft und Arbeitsbedingungen. Er reproduziert und verewigt damit die Exploitationsbedingungen des Arbeiters. Er zwingt beständig den Arbeiter zum Verkauf seiner Arbeitskraft, um zu leben, und befähigt beständig den Kapitalisten zu ihrem Kauf, um sich zu bereichern. (…). In der Tat gehört der Arbeiter dem Kapital, bevor er sich dem Kapitalisten verkauft. Seine ökonomische Hörigkeit ist zugleich vermittelt und zugleich versteckt durch die periodische Erneurung seines Selbstverkaufs, den Wechsel seiner individuellen Lohnherrn und die Oszilation im Marktpreis der Arbeit.“[23]

Der Produktionsprozess ist gleichzeitig der Verwertungsprozess des Kapitals, sofern ArbeiterInnen mehr Arbeit leisten als zu ihrer eigenen Reproduktion nötig ist. Der Wert der Ware Arbeitskraft ergibt sich, wie der Wert jeder anderen Ware, durch die zu ihrer Erzeugung gesellschaftlich durchschnittlich notwendigen Arbeitszeit. Sind das, fiktiv, in Geldwerte übersetzt pro Tag 40 Euro, dann wird Mehrwert geschaffen ab 40,01 Euro, der erwirtschaftet wird. Im Interesse des Kapitals ist es, einen möglichst großen Mehrwert zu erzielen. Aus diesem Grund wälzt es Arbeitsorganisation und Arbeitsteilung fortwährend um, versucht den Arbeitstag möglichst zu verdichten, unbezahlte Mehrarbeit abzupressen und Löhne niedrig zu halten. Im Arbeitsalltag tobt daher ein Kleinkrieg zwischen Kapital und Arbeit, der über die Größe der Kapitalprofite entscheidet.

Der Mehrwert, dessen Größe abhängig ist von der effizienten Ausbeutung der Ware Arbeitskraft, ist also in Waren enthalten. Damit daraus Profit werden kann, muss er „realisiert“ werden, kurz: die Waren müssen gekauft werden. Was dem einzelnen Kapitalisten am Ende bleibt – über den produktiven fallen noch andere Fraktionen der Kapitalistenklasse her, die ihren Anteil verlangen – ist der Profit.

Die Ausbeutung „der“ ArbeiterInnenklasse durch „das“ Kapital ist nicht gleichbedeutend mit der Ausbeutung des Industriearbeiters durch den Industriekapitalisten. Vielmehr muss der gesamte Prozess der Kapitalverwertung in den Blick genommen werden.

Er umfasst drei Momente des sog. Akkumulationsprozesses. Erstens: Sammlung von Kapital, Einkauf der zur Produktion notwendigen Mittel (Zirkulation I). Zweitens: Produktive Konsumtion im Produktions- und Arbeitsprozess (Produktions- als Verwertungsprozess). Drittens: Realisierung des erzeugten Mehrwerts (Zirkulation II). Zur ArbeiterInnenklasse gehören fast alle abhängig Beschäftigten, die in diesem „arbeitsteiligen“ Gesamtprozess zur Erzeugung und zur Realisierung des Mehrwerts beitragen. Schon unter diesem Gesichtspunkt ist sie grundsätzlich „buntscheckig“.

Die allseitige Konkurrenz, deren Überwindung für die Emanzipation der ArbeiterInnen von zentraler Bedeutung ist, geht permanent aus dem Kreislauf der Akkumulation hervor, sie ist in die kapitalistische Produktionsweise eingeschrieben. Engels nannte die bürgerliche Gesellschaft deshalb einen Krieg Aller gegen Alle:

„Der einzelne Kapitalist steht im Kampfe mit allen übrigen Kapitalisten, der einzelne Arbeiter mit allen übrigen Arbeitern; alle Kapitalisten kämpfen gegen alle Arbeiter, wie die Masse der Arbeiter notwendig wieder gegen die Masse der Kapitalisten zu kämpfen hat. In diesem Kriege Aller gegen Alle, in dieser allgemeinen Unordnung und gegenseitigen Ausbeutung besteht das Wesen der heutigen bürgerlichen Gesellschaft.“[24]

Wer ist die Klasse und wenn ja, wie viele?

2.2 Klassenzusammensetzung und Klassenstruktur

Die konkrete Klassenzusammensetzung bzw. Klassenstruktur der Gegenwartsgesellschaften ergibt sich aus dem anarchischen Kreislauf der gesellschaftlichen Reproduktion[25]. Im Laufe der kapitalistischen Entwicklungsgeschichte ist auch die Arbeitsteilung gewachsen: in den einzelnen Unternehmen, zwischen Unternehmen und Branchen und zwischen Regionen und Staaten. Bereits aufgrund dieser Arbeitsteilung sind Klassen nicht einheitlich, sondern in sich geteilt.

Die kapitalistische Produktionsweise ist höchst dynamisch, die Kapitalverwertung wälzt gesellschaftliche Verhältnisse fortwährend um[26]. Wie sich die Klassen intern zusammensetzen, verändert sich im gleichen Rhythmus. Der Klassenkampf selbst ist dabei ein bewegender Faktor. Das Kapital, getrieben durch einen Werwolfsheißhunger nach Mehrwert[27], stößt auf ArbeiterInnen, die eigene Interessen verfolgen. Konflikte um Löhne, um Leistungsbedingungen oder um die Zeit sind an der Tagesordnung. Jeder Teilsieg der ArbeiterInnen treibt das Kapital weiter, neue Veränderungen, neue Techniken, andere Standorte[28]. Daraus folgt allerdings nicht zwingend die niederschlagende Auflösung von ArbeiterInnenbewegungen, wenngleich bleibende Niederlagen möglich sind. Bisher, das zeigt der Blick zurück in die Geschichte, sind mit der Neuzusammensetzung der Klassen auch immer wieder neue Bewegungen entstanden:

„Diese Lesart (…) lässt uns die ständige Umgestaltung der Arbeiterklasse und der Formen des Konfliktes zwischen Arbeiterklasse und Kapital erwarten. Umwälzungen in der Organisation der Produktion und in den sozialen Beziehungen mögen Teile der Arbeiterklasse durcheinanderwirbeln, sie gar zu ‚bedrohten Arten‘ machen – was zweifellos auf die Veränderungen im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Globalisierung zutrifft (…). Aber neue Träger und Orte des Konfliktes entstehen zusammenmit neuen Forderungen und Kampfformen, entsprechend dem sich wandelnden Terrain, auf dem sich die Beziehungen zwischen Arbeiterklasse und Kapital entwickeln.“[29]

Arbeitsteilung und Klassenzusammensetzung

In der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die die betriebliche beeinflusst, bilden sich unterschiedliche Branchen heraus, in denen Kapital investiert wird. Das Bürgertum gliedert sich dementsprechend in Fraktionen, etwa in Industrie-, Handels- und Finanzbourgeoisie. Fraktioniert ist deshalb auch die ArbeiterInnenklasse, z. B. in eine Industrie- und DienstleistungsarbeiterInnenklasse.

In der betrieblichen Arbeitsteilung wird Arbeit, getrieben vom Ziel der Profitmaximierung, unterschiedlich organisiert und geteilt. Das ist kein neutraler Vorgang, sondern Teil der betrieblichen Beherrschung, in der das Vorgehen der Kapitalseite auch davon abhängt, ob und wie sich die ArbeiterInnen wehren/organisieren[30]. Im Rahmen dieser betrieblichen Herrschaft werden bestimmte „ArbeiterInnentypen“ geschaffen. Der „fordistische Massenarbeiter“ ist ein – fast popikonenhaftes – geschichtliches Beispiel.

Hinzu kommen herausragende Differenzierungslinien, die aus dem jeweiligen Erfolg im Wettbewerb folgen. Wie Marx im Kapital wissen lässt schlägt ein Kapitalist im Wettbewerb viele anderen tot[31]. Die Folge sind Konzentration und Zentralisierung des Kapitals und die Bildung von Monopolkapital (im Sinne beherrschender Kapitale bzw. Kapitalgruppen), dem Mittel- und Kleinkapital gegenüberstehen. An dieser Stelle sei lediglich bemerkt, dass es auch hier nicht um die Beschreibung von „Ungleichheiten“ ginge, sondern aus marxistischer Perspektive die Beziehungen zwischen diesen Kapitalen zu untersuchen ist: ihre Verflechtungs-, Widerspruchs- und auch Ausbeutungsverhältnisse.

Analog hierzu sind auch Arbeitskräfte unterschiedlich erfolgreich im Wettbewerb. Daraus ergeben sich soziale Differenzierungslinien. ArbeiterInnen verfügen etwa über unterschiedlich nachgefragte Qualifikationen, sind auch unterschiedlich erfolgreich dabei ihre Arbeitskraft „sicher“ zu verkaufen und dafür hohe Löhne auszuhandeln. Zum Teil sind diese Ungleichheiten mit den bereits genannten verbunden. Qualifizierte Industriearbeiter in der Monopolindustrie sind in der Regel dazu in der Lage weitaus bessere Arbeits- und Lohnbedingungen auszuhandeln als Angelernte in Dienstleistungsunternehmen. Kurz: Neben die Fraktionen treten diese „Marktungleichheiten“. Eine zeitgenössische „Spaltungslinie“, die damit verbunden ist, ist die zwischen „Prekären“ und „Nicht-Prekären“.

2.3 Internationale und nationale Klassenformierung

Es gab nie eine nationale kapitalistische Produktionsweise, die nachträglich internationalisiert worden ist. Entstanden ist die kapitalistische Produktionsweise von Anfang an im Austausch, der Grenzen überschritten hat. Ob nun durch Kolonialisierung und Ausplünderung, oder durch Produktion für „fremde Absatzmärkte“. Aus diesem Grund wird diese Expansionsdynamik auch auf den ersten Seiten des Manifests skizziert:

„Die Entdeckung Amerikas, die Umschiffung Afrikas schufen der aufkommenden Bourgeoisie ein neues Terrain. Der ostindische und chinesische Markt, die Kolonisierung von Amerika, der Austausch mit den Kolonien, die Vermehrung der Tauschmittel und der Waren überhaupt gaben dem Handel, der Schiffahrt, der Industrie einen nie gekannten Aufschwung und damit dem revolutionären Element in der zerfallenden feudalen Gesellschaft eine rasche Entwicklung.

Die bisherige feudale oder zünftige Betriebsweise der Industrie reichte nicht mehr aus für den mit neuen Märkten anwachsenden Bedarf. Die Manufaktur trat an ihre Stelle. Die Zunftmeister wurden verdrängt durch den industriellen Mittelstand; die Teilung der Arbeit zwischen den verschiedenen Korporationen verschwand vor der Teilung der Arbeit in der einzelnen Werkstatt selbst.

Aber immer wuchsen die Märkte, immer stieg der Bedarf. Auch die Manufaktur reichte nicht mehr aus. Da revolutionierte der Dampf und die Maschinerie die industrielle Produktion. An die Stelle der Manufaktur trat die moderne große Industrie, an die Stelle des industriellen Mittelstandes traten die industriellen Millionäre, die Chefs ganzer industrieller Armeen, die modernen Bourgeois.

Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt, den die Entdeckung Amerikas vorbereitete. Der Weltmarkt hat dem Handel, der Schiffahrt, den Landkommunikationen eine unermeßliche Entwicklung gegeben. Diese hat wieder auf die Ausdehnung der Industrie zurückgewirkt, und in demselben Maße, worin Industrie, Handel, Schiffahrt, Eisenbahnen sich ausdehnten, in demselben Maße entwickelte sich die Bourgeoisie, vermehrte sie ihre Kapitalien, drängte sie alle vom Mittelalter her überlieferten Klassen in den Hintergrund.

Wir sehen also, wie die moderne Bourgeoisie selbst das Produkt eines langen Entwicklungsganges, einer Reihe von Umwälzungen in der Produktions- und Verkehrsweise ist.“[32]

Mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise ist auch die Internationalisierung des Kapitals vorangeschritten, hat tiefe Abhängigkeiten und internationale Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse geschaffen. In der internationalen Linken wird das seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts als Imperialismus bezeichnet. Imperialismus ist weder ein Zustand, noch mit Gewalt gleichzusetzen. Vielmehr handelt es sich um eine Entwicklungsphase des Kapitalismus, in der wirtschaftliche Dominanz (basierend auf Kapitalexport und ungleichen Handel) durch staatliche Gewalt nötigenfalls abgesichert wird[33]. Bis in die 1950er und 1960er Jahre gingen Imperialismus und die Besatzung bzw. Eingliederungen von Territorien Hand in Hand, nach den kolonialen Befreiungskriegen (z. B. Algerien und Vietnam), die bis in die 1970er Jahre reichten, dominieren hingegen Interventionskriege, die gegebenenfalls Vasallenregierungen installieren (z.B. Irak).

Herausgebildet hat sich auf dieser Basis eine internationale Arbeitsteilung, in die jede nationale Volkswirtschaft eingebettet war und ist. Damit einher gehen sehr unterschiedliche Möglichkeiten der wirtschaftlichen Entwicklung[34], denn die Entwicklung vollzieht sich unter der Vorherrschaft des fortgeschrittenen Kapitals aus den imperialistischen Kernländern[35].

In diesem Sinne gibt es keine geschlossenen nationalen Wirtschaften, Kapitalismus ist stets im Weltzusammenhang zu betrachten, die Weltwirtschaft dagegen ist spätestens seit dem späten 19. Jahrhundert als spezifische Entwicklungsphase des Kapitalismus zu betrachten[36]. Notwendigerweise ist deshalb der Blick auf die komplizierte Arbeitsteilung zu richten, die zwischen den einzelnen Ländern als „organische Teile eines größeren Ganzen“ bestehen, wie Rosa Luxemburg etwa mit Blick auf die deutsche Volkswirtschaft wissen ließ: „Der deutsche ‚Mikrokosmos‘ erscheint so von vornherein als ein Splitter eines größeren Ganzen, als eine Werkstatt der Welt.“[37] (Luxemburg 1990a, 546)

Grundsätzlich ist dabei zwischen Verflechtungen über Kapital- und Warenimport und -export zu unterscheiden. Durch den Kapitalexport aus den Zentren in die Peripherie werden gleichzeitig die kapitalistischen Produktionsverhältnisse exportiert und Gesellschaften eingeführt, die zuvor gar nicht oder überwiegend nicht-kapitalistisch organisiert waren. Der Kapitalexport wälzt also die dortigen Verhältnisse um, kapitalistische und vorkapitalistische Produktionsverhältnisse mischten sich[38].

In dieser Weltwirtschaft bilden sich sowohl verfestigte ökonomische Abhängigkeiten und Ungleichheiten als auch Ordnungs- und Bündnissysteme zwischen Nationalstaaten heraus, die regulierend wirken und Einflusssphären sichern sollen. Insofern wäre es falsch von einer ‚unregulierten ‘ Weltwirtschaft zu sprechen. Aber diese Formen der Regelung und auch Planung unterscheiden sich grundlegend von anderen Formen, wie sie in kapitalistischen Gesellschaften geläufig sind, etwa in einzelnen Unternehmen.

„Während die zahllosen Einzelteile – und ein heutiger Privatbetrieb, auch der riesigste, ist nur ein Splitter der großen Wirtschaftsbande, die sich über die ganze Erde erstrecken –, während die Einzelteile aufs strengste organisiert sind, ist das Ganze der sog. ‚Volkswirtschaft‘, das heißt der kapitalistischen Weltwirtschaft, völlig unorganisiert. In dem Ganzen, das sich über Ozeane und Weltteile schlingt, macht sich kein Plan, kein Bewußtsein, keine Regelung geltend; nur blindes Walten unbekannter, ungebändigter Kräften treibt mit dem Wirtschaftsschicksal der Menschen sein Spiel. Ein übermächtiger Herrscher regiert freilich auch heute die arbeitende Menschheit: das Kapital. Aber seine Regierungsform ist nicht Despotie, sondern Anarchie.“[39]

Die Formierung der Klassen ist in diese internationale Arbeitsteilung bzw. in die Internationalisierung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse eingebettet. Das Kapital treibt in seiner Profitgier über den Erdball, schafft in verschiedenen Gesellschaftsformationen kapitalistische Klassenverhältnisse und damit ArbeiterInnenklassen und Bourgeoisien. In den unterdrückten und ausgebeuteten Gesellschaftsformationen entstanden komplexe Klassenstrukturen, weil – etwa in China – vorkapitalistische und kapitalistische Produktionsweisen nun kombiniert wurden. Als kapitalistische entstanden häufig in wenigen Regionen konzentrierte Arbeiterklassen, die neben der Bauernschaft die zweite ausgebeutete Hauptklasse dieser Gesellschaftsformationen bildeten, denen gegenüber alte reaktionäre Klassen,  neue innere Bourgeoisien und – aufgrund ihrer Abhängigkeit vom Imperialismus – schwache, abhängige Kompradorenbourgeoisien entstanden.

Kurz: Die Entwicklung „des Kapitalismus“ war von Anfang an international – die Herausbildung internationaler Klassenverhältnisse ging daher von Anfang an mit der Formierung nationaler Klassengesellschaften einher, die sich ungleich entwickelt haben, durch den kapitalistischen Weltmarkt aber kombiniert wurden und werden. Eine „WeltarbeiterInnenklasse“ wird durch die Internationalisierung des Kapitals bzw. der kapitalistischen Produktionsverhältnisse geschaffen, die gleichwohl fragmentiert und ‚national eingekapselt‘ ist. Die Einigung dieser Welt-Klasse, die verstreut gegenüber dem Kapital existiert, ist für Sozialisten eine strategische Herausforderung. Ihre fortwährende Spaltung und Einbindung in ‚nationale Pakte‘ und nationalistische Mobilisierungen sichert hingegen Klassenherrschaft.

2.4 ArbeiterInnenklasse und Kleinbürgertum

In bürgerlichen Gesellschaftsformationen gibt es neben der buntscheckigen ArbeiterInnenklasse und dem Bürgertum noch „kleinbürgerliche Zwischenklassen“. Kleinbürgerlich ist hier im Sinne des sich „zwischen den Hauptklassen-sich-Befindens“ gemeint.

Traditionelles Kleinbürgertum

Dabei handelt es sich zum einen um das „traditionelle Kleinbürgertum“. Zum traditionellen Kleinbürgertum zählen alte und neue einfache Warenproduzenten, die Waren herstellen oder damit handeln, sich aber nicht der Kapitalverwertungslogik unterwerfen (oder es nicht schaffen)[40]. Zum alten traditionellen Kleinbürgertum gehören etwa Handwerker oder Kleinhändler, zum neuen etwa Soloselbständige. Sie besitzen Produktionsmittel, arbeiten selbst und beschäftigten nur ergänzend sehr wenige Arbeitskräfte. Zu unterscheiden ist davon Kleinkapital, das regulär Arbeitskräfte mehrere Arbeitskräfte beschäftigt[41]. Der Übergang zwischen beiden, der fließend ist, verändert vor allem die Reproduktionslogik:

„Der einfache Warenbesitzer verkauft, um zu kaufen; er verkauft, was er nicht braucht, und kauft mit dem erhaltenden Geld das, was er braucht. Der angehende Kapitalist kauft von vornherein das, was er nicht selbst braucht; er kauft, um zu verkaufen, und zwar um teurer zu verkaufen, um den ursprünglich in das Kaufgeschäft geworfene Geldwert zurückzuerhalten, vermehrt durch einen Zuwachs an Geld, und diesen Zuwachs nennt Marx Mehrwert.“[42]

Das traditionelle Kleinbürgertum wirtschaftet zwar auch, um Gewinn zu erzielen, dabei dominiert aber die Gebrauchswertlogik: gearbeitet wird, um davon leben zu können. Die Plusmacherei ist nicht das sie beherrschende Motiv. Beim Kleinkapital ist dies anders, investiert wird, um Kapital zu verwerten – wenn auch auch kleiner Basis. Im langen Blick zurück, z. B. bis 1900, hat der Anteil dieses Kleinbürgertums an der Gesamtbevölkerung lange abgenommen. Eine gegenläufige Tendenz wurde mit der Entstehung neuer Branchen, Branchenwandel und durch die neoliberale Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik geschaffen, die Selbständigkeiten fördert: etwa Soloselbständigkeit im Bereich intellektueller Berufe oder im Bereich der IT-Services. So sind „neue Fraktionen“ des traditionellen Kleinbürgertums entstanden.

Neues Kleinbürgertum – lohnabhängige Zwischenschichten

Zum anderen gibt es ein lohnabhängiges Kleinbürgertum, lohnabhängige Zwischenschichten. Nicht alle, die keine Produktionsmittel besitzen, gehören – im marxistischen Sinne – zur ArbeiterInnenklasse, deren Angehörige nicht nur ihre Arbeitskraft verkaufen, sondern (wie oben dargelegt) auch durch Kapital ausgebeutet werden und an der Schaffung eines Mehrwerts beteiligt sind (wie etwa Industriearbeiter, VerkäuferInnen, Bankangestellte[43]).

Entscheidend ist außerdem nicht die Stellung zu den Produktionsmitteln allein, sondern in erster Linie die Stellung innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Das ist ein wichtiger Unterschied. Denn es gibt nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine politische und ideologische Arbeitsteilung[44]. Sie liegt der Herausbildung von Apparaten zugrunde, die Herrschaft über und Integration der ArbeiterInnenklasse organisieren und so zur Reproduktion der Klassenverhältnisse beitragen.

Im Wesentlichen sind das bürokratische Herrschaftsapparate in den Unternehmen und der kapitalistische Staat. Beide wurden bereits in der imperialistischen Entwicklungsphase des Kapitalismus in den westlichen Zentren stark ausgebaut, im Spätkapitalismus nach 1945 nahm diese Entwicklung aber nochmal an Fahrt auf. In den USA wuchs die Zahl der Staatsangestellte beispielsweise bis zum Beginn der neoliberalen Restrukturierung von 5.791.000 im Jahr 1947 auf 16.197.000 im Jahr 1982[45]. In Deutschland arbeiteten immerhin 31% der abhängig Beschäftigten im Öffentlichen Dienst (oder einer NGO bzw. gemeinnützigen Einrichtung)[46]. Selbstverständlich sind Lohnabhängige, die in diesen Apparaten arbeiten, auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen. Dennoch haben sie eine eigene Klassenlage[47].

In den unternehmerischen Apparaten nehmen sie Herrschaftsfunktionen wahr, etwa indem sie für das Monitoring von KVP-Programmen verantwortlich sind oder schlicht die Leitung der Produktion, den Absatz oder den Einkauf organisieren. Marx nannte sie die Ober- und Unteroffiziere des Kapitals. Als Teil des Gesamtarbeiters – wohlgemerkt: in kapitalistischen Produktionsverhältnissen – sind sie funktional notwendig, um Mehrwert zu erzeugen. Gleichzeitig sichern sie Herrschaft und den Ausbeutungsprozess und tragen zur unterwerfenden Reproduktion der Trennung von Hand- und Kopfarbeit im kapitalistischen Produktions- und Arbeitsprozess bei. Das aber ist nichts Neutrales, sondern ein ganz wesentliches Kennzeichen von kapitalistischer Klassenherrschaft. Deshalb sind sie nicht Teil der ArbeiterInnenklasse, auch wenn sie z. B. in der Industrie beschäftigt sind – anders etwa als Bankangestellte oder VerkäuferInnen, die für den gesamtgesellschaftlichen Ausbeutungs- und Verwertungsprozess notwendig sind (Ohne Zirkulation keine Mehrwertrealisation) und keine Klassenherrschaft sichern.

Der Staat ist, mit Marx gesprochen, ein ideeller Gesamtkapitalist. Seine Apparate lassen sich nach ideologischen und repressiven Staatsapparaten unterscheiden. Sie wirken jeweils sowohl mit Zwang als auch mit Ideologie, in repressiven Apparaten wie dem der Polizei dominiert aber die Gewalt, in ideologischen Apparaten wie der Schule, dem staatlichen Medienapparat oder der Sozialfürsorge hingegen die Ideologie[48]. Beschäftigte in diesen Apparaten müssen zum Teil sehr hart arbeiten, werden aber nicht kapitalistisch ausgebeutet – selbst wenn sie, wie prekäre Lehrkräfte an den Hochschulen weitaus schlechter verdienen als Facharbeiter in der Industrie. Was wichtiger ist: Ihre Lebenssicherung hängt von der Fortexistenz des Staates ab, eines Mechanismus, der Klassenunterdrückung sichert – auch dann, wenn soziale und politische Bewegungen von unten soziale und demokratische Teilerrungenschaften in ihm erkämpfen konnten.

3. Populares Bündnis: Volk vs. Block an der Macht

Kommen wir zu den Ausgangsfragen zurück: Es gibt mehr als zwei Klassen, neben die buntscheckige ArbeiterInnenklasse treten für revolutionäre RealpolitikerInnen die kleinbürgerlichen Zwischenklassen als mögliche Teile eines popularen Bündnisses.

Deshalb ist es sehr wichtig z.B. LehrerInnen, SachbearbeiterInnen in der Arge oder (oft prekäre) Wissenschaftliche MitarbeiterInnen an Hochschulen gewerkschaftlich zu organisieren – das ist nicht nur aufgrund der zum Teil hochgradig belastenden oder unsicheren Arbeitsbedingungen möglich, sondern auch weil Beschäftigte in diesen Apparaten gegen ihre eigentliche Aufgabe rebellieren können, etwa als kritische Polizisten, als kritische WissenschaftlerInnen, als kritische SozialarbeiterInnen, als demokratische LehrerInnen. Die eigenständige Klassenlage ist dennoch zu betonen. Nicht, um diese Gruppen als urbane hippe Milieus oder ‚kleinbürgerlich‘ rechts liegen zu lassen; sondern um sie gezielt für die Linke zu gewinnen, ohne grundlegende mögliche Widersprüche zwischen den Bündnispartnern zu ignorieren. Ähnliches gilt für das traditionelle Kleinbürgertum.

Hegemonial kann die ArbeiterInnenklasse nur werden, wenn sich ArbeiterInnen durch Kämpfe für unmittelbare und gemeinsame Interessen selbst ermächtigen und sich ihrer als Klasse selbst bewusst werden. Dazu gehört ein ‚gesellschaftliches Projekt der Gegenmacht‘ und der Alltagssolidarität, das dezentral an vielen Orten erprobt und entwickelt werden kann. Eine führende Kraft kann sie nur werden, wenn eine Doppelbewegung gelingt. Ausgehend von den durch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse bewirkten Spaltungs- und Fragmentierungslinien ginge es darum durch Basisarbeit (z.B. Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Bildungsarbeit oder Stadtteilorganisierung) und Parteibildung an einem Projekt der Klasseneinigung zu arbeiten[49]; gleichzeitig müssen andere subalterne Gruppen für ein alternatives Gesellschaftsprojekt gewonnen werden, das das Bündnis der herrschenden Klassen herausfordern kann[50].

Block an der Macht

In den nationalen Gesellschaften bilden die Fraktionen der herrschenden Klasse einen ‚Block an der Macht‘, ein jeweils genau zu analysierendes Bündnis aus Mittel- und Großkapital, in dem unter heutigen Bedingungen eine Fraktion des Monopolkapitals führt[51]. Er bildet sich zum einen durch den Austausch, der von „partikularen Interessenorganisationen“ ermöglicht wird, also etwa Interessenverbänden einzelner Kapitalfraktionen (z. B. dem Bundesverband der deutschen Industrie, dem Handelsverband Deutschland etc.), durch Formulierung einer politischen Agenda mit Hilfe politischer Parteien (z. B. der CDU und FDP) und durch die Durchsetzung von Politik im Staat, etwa durch Kampagnen oder direkte Kontakte in Ministerien hinein. Ein solcher Machtblock ist nicht statisch, sondern in seiner andauernden „Formierung“ in Bewegung.

Durch Verteilungspolitik bindet der ‚Block an der Macht‘ Teile der ArbeiterInnenklasse und des Kleinbürgertums in ein selektives Verteilungsbündnis ein. Derartige Verteilungsbündisse haben in der Regel eine materielle und eine ideologische Grundlage, soziale und nationale Grenzen[52]. Die materielle Basis sind bessere Löhne, höhere Beschäftigungssicherheit, bessere Lebensbedingungen und Ähnliches. Das ideologische Fundament sind Rechtfertigungen, etwa in Form von Leistungsideologien oder Nationalismus. Verteilungsbündnisse sind immer ausgrenzend, sozial etwa indem bestimmte Belegschafts- oder ArbeiterInnengruppen schlechter gestellt werden (z. B. die Spaltung in Stamm- und Randbelegschaften).

Populare Klassen und Volk der Linken

Die ArbeiterInnenklasse, das traditionelle und das lohnabhängige Kleinbürgertum bilden gegenüber dem ‚Block an der Macht´ populare Klassen bzw. Volksklassen.  Sie sind ‚der Rest von uns‘, wie Jodi Dean es nennt. Es sind die Vielen, die nicht Teil der Ausbeuterklassen und ihrer politischen Eliten sind – die von postdemokratischer Macht- und Reichtumskonzentration Ausgeschlossenen, die der neoliberalen Oligarchie gegenüberstehen[53], ohne aber bereits geeint zu sein. Aus ihnen kann ‚das Volk‘ als sich mobilisierendes Bündnis entstehen.

„In einer solchen Perspektive hat der Begriff (des Volkes, T.G.) nichts gemein mit einer gemeinsamen Geschichte oder Ethnizität, vielmehr geht er von gemeinsamen Bedingungen der Subalternität, des Widerstandes und des Kampfes in unseren Gegenwartsgesellschaften aus. In einer solchen Perspektive hat ›das Volk‹ nichts mit Nationalismus oder mit der abstrakten Identifikation der Volkssouveräntität zu tun, die in Verfassungstexten angeboten wird. ›Das Volk‹ verweist vielmehr auf die mögliche Einigkeit aller Teile der Gesellschaft, die in der einen oder anderen Weise vom Verkauf ihrer Arbeitskraft abhängen, verweist also auf das mögliche Bündnis der beherrschten Klassen.“[54]

Zu diesem Volk können deshalb Lisa, die als Soloselbständige Verbände berät, Serdar, der einen Kiosk betreibt, Michaela, die bei REWE arbeitet, Zofia, die ohne deutschen Pass in der heimischen Altenpflege sorgt und Manfred, der Schweine zerlegt, dazugehören – nicht aber die milliardenschweren Familien Quandt und Schaeffler und ihre politischen Handlanger, wie etwa Alice Weidel, Olaf Scholz oder Christian Lindner.

Es ist zwingend ein post-nationales Volk, von dem Panagiotis Sotiris schrieb, es umfasse alle, die auf einem Territorium leben, ausgebeutet werden und sich wehren, egal ob hier geboren oder hergekommen, egal ob mit oder ohne deutschen Pass. Es ist das „mögliche Volk“, das aber erst im Kampf entsteht und mögliche Spaltungslinien überwindet. Das ist keine leichte Aufgabe:

„Denn es verlangt nach kollektiven Anstrengungen, gemeinsame Kämpfe, gemeinsame Räume des Kampfes zu schaffen. Es verlangt auch, das Trauma des Rassismus und Kolonialismus anzuerkennen, dessen Existenz zu akzeptieren und sich damit kritisch auseinanderzusetzen. Ebenso braucht es  Anstrengungen, die Geschichten, Kulturen und Identitäten von Migrant*innen und Geflüchteten als Beitrag zur Formierung einer neuen Volkskultur einzubeziehen, die auf Solidarität und gemeinsamen Kämpfen wie auch dem gegen Rassismus beruht.“[55]

Im globalen Kapitalismus führt jede Identifizierung des Volkes mit dem Staat und der Nation in eine Sackgasse, weil sie trennt, was zu verbinden wäre. Nicht die Herkunft, sondern die untergeordnete Lage innerhalb der Akkumulation des neoliberalen Kapitalismus, nicht die Abstammung, sondern die möglicherweise aus Kämpfen hervorgehende gemeinsame Zukunft ist, was verbindend wirkt. Die kapitalistische Produktionsweise organisiert, um das bereits zitierte Wort Engels aufzugreifen, einen Krieg Aller gegen Aller, der Kapitalisten gegen die Kapitalisten, der Arbeiter gegen die Kapitalisten und der ArbeiterInnen gegeneinander. So lange es kapitalistische Produktionsweise gibt, wird das so sein. Ihre Überwindung durch einen sozialistischen Übergangsprozess, ist aber nur möglich, wenn lokale, regionale und nationale Spaltungen der popularen Klassen nicht vertieft, sondern in einer gemeinsamen politischen Perspektive vermittelt werden.

Dafür braucht es Organisierung von unten, soziale Bewegungen, die auch klassenverbindend sind (geschichtlich etwa die Frauen- und Anti-AKW-Bewegung, neuerdings etwa Blockupy oder die Platzbesetzungen in Spanien)[56] und eine Politik der Linken, die Brücken baut und Mauern niederreißt, anstatt Gräben zu vertiefen (etwa, indem Menschen mit deutschem Pass gegenüber solche ohne bevorzugt werden). Durch die vielen molekularen Kämpfe, die Lernschritte nach Niederlagen, durch das Reiben aneinander und die großen Mobilisierungen, setzt ‚das Volk‘ einen tiefen Spalt in den politischen Raum. Den Spalt zwischen den Vielen, ‚dem Rest von uns‘, den 99% als mögliche MacherInnen einer radikaldemokratischen Volksmacht, gegen den ‚Block an der Macht‘, gegen die neoliberalen Oligarchen, gegen die 1%: Lisa, Michaela, Serdar, Zofia und Manfred gegen die Schaefflers, Quandts und Alice Weidels dieser Welt.

[1] Siehe etwa das Heft ‚Neue Klassenpolitik‘ der Zeitschrift LuXemburg: https://www.zeitschrift-luxemburg.de/lux/wp-content/uploads/2017/10/LUX-Spezial-Neue-Klassenpolitik.pdf

[2] Siehe Goes, Thomas/Bock, Violetta (2017): Ein unanständiges Angebot? Mit linkem Populismus gegen Eliten und Rechte. Köln.

[3] Siehe etwa Sachweh, Patrick (2010): Deutungsmuster sozialer Ungleichheit. Frankfurt/M. Und: Goes, Thomas (2015): Zwischen Disziplinierung und Gegenwehr. Frankfurt/M.

[4] Aus einer gesellschaftskritischen Perspektive sind insbesondere die Arbeiten von Pierre Bourdieu bzw. von AutorInnen anregend, die sich darauf beziehen. Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Frankfurt/M. Vester, Michael u.a. (1993): Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Frankfurt/M.

[5] Siehe Benjamin, Walther (1980): Über den Begriff der Geschichte. In: Gesammelte Schriften. Band I-2. Frankfurt/M.

[6] Siehe Marx, Karl/Engels, Friedrich (1951): Das Manifest der Kommunistischen Partei. In: Ausgewählte Werke. Ost-Berlin. S. 23-24.

[7] Siehe Harman, Chris (2016): Wer baute das siebentorige Theben? Band 1: Frühzeit bis 17. Jahrhundert. S. 15-77

[8] Siehe Mauke, Michael (1977): Die Klassentheorie von Marx und Engels. Frankfurt/M. S. 12

[9] Siehe Poulantzas, Nicos (1975): Klassen im Kapitalismus – heute. S. 18-19

[10] Siehe Anderson, Perry (20015): Von der Antike zum Feudalismus. Spuren der Übergangsgesellschaften. Frankfurt/M. S. 175f.

[11] Siehe Meiksins-Wood, Ellen (2003): Empire of Capital. London.

[12] Siehe Anderson, Perry (2015)

[13] Siehe Poulantzas, Nicos (1973): Faschismus und Diktatur. Franfkurt/M. S. 69f.

[14] Siehe Trotzki, Leo (2001): Fragen des Alltagslebens. Essen. S. 186-187

[15] Siehe Rossanda, Rossana (1975): Über die Dialektik von Kontinuität und Bruch. Frankfurt/M. S. 54

[16] Siehe Bettelheim, Charles (1975): Die Klassenkämpfe in Russland. Band 1. 1917-1923. Berlin. S. 65

[17] Siehe Poulantzas, Nicos (1974): Politische Macht udn gesellschaftliche Klassen. Frankfurt/M. S. 13

[18] Siehe Meiksins-Wood, Ellen (2002): The Origin of Capitalism. A Longer View. London. S. 52

[19] Siehe Mandel, Ernest (1974): Der Spätkapitalismus. Versuch einer marxistischen Erklärung. Frankfurt/M. S. 43-44

[20] Siehe Meiksins-Wood, Ellen (1998): A Retreat from Class. London. S. 138

[21] Siehe Engels (1990): Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. (Anti-Dühring). MEW Bd. 20. Ost-Berlin. S. 137

[22] Siehe Marx, Karl (2012): Das Kapital. Band 2. Ost-Berlin. S. 37

[23] Siehe Marx, Karl (1986): Das Kapital. Band 1. Ost-Berlin. S. 603

[24] Siehe Engels, Friedrich (1990): Zwei Reden in Elberfeld. MEW Bd. 2. Ost-Berlin. S. 536

[25] Siehe Mauke, Michael (1977), S. 75-77

[26] Allerdings lässt sich die Geschichte der kapitalistischen Entwicklung in Phasen des längeren Booms und der längeren Stagnation unterteilen, die zusammen eine lange Welle der kapitalistischen Entwicklung bilden. Sie dauert insgesamt etwa 50-60 Jahre. Jede dieser langen Wellen wird durch eine Gesellschaftliche Struktur der Akkumulation reguliert. Im Blick zurück wird deutlich, dass die Übergänge von einer langen Welle zur nächsten, die abhängig ist von Klassenkämpfen, zugleich von einem Wandel in der Klassenzusammensetzung und -struktur begleitet wird.

Hierzu: Gordon, David M/Edwards, Richard/Reich, Michael (1982): Segmented work, divided workers. The historical transformation of labor in the United States. Cambridge. Und: Mandel, Ernest (1987): Die langen Wellen im Kapitalismus. Köln.

[27] Siehe Marx, Karl (1986): S. 280

[28] Siehe Silver, Beverly (2005): Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870. Berlin/Hamburg. S. 37

[29] Ebd. S. 38

[30] Siehe Bravermann, Harry (1977): Die Arbeit im modernen Produktionsprozeß. Frankfurt/M. S. 52-55

[31] Siehe Marx, Karl (1986), S. 790

[32] Siehe Marx, Karl/Engels, Friedrich (1951), S. 24-25

[33] Siehe Meiksins-Wood, Ellen (2003), S.X-XI

[34] Siehe Bucharin, Nikolai (1969): Imperialismus und Weltwirtschaft. Frankfurt/M. S. 16-17

[35] Siehe Mandel, Ernest (1974), S. 51

[36] Siehe Luxemburg, Rosa (1990): Einführung in die Nationalökonomie. S. 538-539

[37] Ebd. S. 546

[38] Ebd. S. 553-557. Und: Mandel, Ernest (1974), S. 58-58

[39] Ebd. S. 779

[40] Siehe Mauke, Michael (1977), S. 61-68

[41] Milios, John/Economakis, George (2011): The Middle Classes, Class Places, and Class Positions: A Critical Approach to Nicos Poulantzas’s Theory. In: https://bit.ly/2rl4xS9

[42] Siehe Engels, Friedrich (1990): Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. (Anti-Dühring). MEW Bd. 20. Ost-Berlin. S. 188

[43] Siehe Draper, Hal (1978): Karl Marx’s Theory of Revolution. Volume II: The Politicis of Classes. S. 34-39. Und Moody, Kim (2017): On New Terrain. How Capital is Reshaping the Battleground of Class War. 39-41

[44] Poulantzas, Nicos (1975), S. 14

[45] Siehe Mandel, Ernest (2000): Macht und Geld. Eine marxistische Theorie der Bürokratie. Köln. S. 165

[46] Siehe Ellguth, Peter/Kohaut, Susanne (2012): Arbeitsbeziehungen und Personalpolitik im Dienstleistungsbereich. In: Industrielle Beziehungen, Hft. 3. S. 262

[47] Entscheidend ist in diesem Zusammenhang nicht die juristische Eigentumsform, sondern ob kapitalistisch akkumuliert wird. Staaten können kollektive Kapitalisten sein, etwa wenn Staatsunternehmen für Märkte produzieren und Profite erwirtschaftet werden, die für die erweiterte Akkumulation genutzt werden.

[48] Siehe Poulantzas, Nicos (2002): Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus. Hamburg. S. 57f.

[49] Siehe Deppe, Frank (1981): Einheit und Spaltung der Arbeiterklasse. Marburg. S. 39f.

[50] Siehe Goes, Thomas/Bock, Violetta (2017), S. 93f.

[51] Siehe Poulantzas, Nicos (2015): Die Krise der Diktaturen. Portugal, Griechenland, Spanien. Frankfurt/M. S. 37f.

[52] Siehe Esser, Josef (1982):  Gewerkschaften in der Krise. Die Anpassung der Gewerkschaften an neue Weltmarktbedingungen. Frankfurt/M. S. 252f.

[53] Siehe Dean, Jodi (2016): Der kommunistische Horizont. Hamburg. S. 64

[54] Siehe Sotiris, Panagiotis (2017): Ein post-nationales Volk schaffen? In: https://www.zeitschrift-luxemburg.de/ein-post-nationales-volk-schaffen/

[55] Ebd.

[56] Siehe Poulantzas, Nicos (1979): The State, Social Movements, Party. Interview with Nicos Poulantzas. In: https://bit.ly/2IgKLB1

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