Marxistische Perspektive auf das Grundeinkommen

Karl Marx tritt mit einer emanzipatorischen Sozialphilosophie an: Es geht darum, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ (Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie) Dem Dagegen folgt bei Marx das Dafür: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ (Marx/Engels, Kommunistisches Manifest) – Ein Beitrag von Ronald Blaschke.
Die Kritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus ist substanzlos, wenn sie nicht den humanistischen, emanzipatorischen Gehalt der Sozialphilosophie von Marx aufnimmt. Es geht um die theoretische und politisch-praktische Kritik kapitalistischer und anderer Herrschaftsverhältnisse, deren Abschaffung. Ebenso ist Sozialphilosophie substanzlos, wenn sie nicht reale politökonomische Zusammenhänge analysiert und in ihre Überlegungen einbezieht.

Abschaffung des Privateigentums als Dreh- und Angelpunkt marxistischen Denkens

Ob nun von Marx eher moralisch-normativ begründet, wie in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten, oder politökonomisch im Kapital: Der Austausch und die Produktion von Waren auf der Grundlage des bloßen Privateigentums an Produktionsmitteln (Kapital, objektives Privateigentum) und des bloßen Privateigentums des doppelt freien Lohnarbeiters an Arbeitskraft (subjektives Privateigentum) ist für Marx Dreh- und Angelpunkt der Kritik der kapitalistischen Produktions- und Lebensverhältnisse. Marx meint in emanzipatorischer Perspektive: Sowohl das Privateigentum an Produktionsmitteln als auch der „freiwillige“, faktisch aber ökonomisch erpresste Verkauf der Arbeitskraft muss enden. Eine radikale Demokratisierung der Produktion und der Gesellschaft sowie die individuelle ökonomische Unerpressbarkeit der Individuen durch einen bedingungslosen Zugang zu den Mitteln der Existenz- und Teilhabesicherung (zum Beispiel in Form des Grundeinkommens) sind zwei nicht voneinander trennbare Voraussetzungen dafür. Sie sind Ziele in antikapitalistischer und gesellschaftstransformatorischer Absicht. Wer meint, dass demokratische Verhältnisse erreichbar wären, ohne die ökonomische Erpressbarkeit der Menschen abzuschaffen, irrt. Selbst nur die Abkehr vom Zwang zur Arbeit zwecks individueller Existenzsicherung verkennt bei bestehenbleibenden bedürftigkeitsgeprüften Grund-/ Mindestsicherungen rechter oder linker Prägung deren diskriminierenden und stigmatisierenden Charakter – somit auch die damit verbundene Gefährdung demokratischer Verhältnisse. Nur universelle Zugänge der grundlegenden Existenz- und Teilhabesicherung, also nicht an irgendwelche Bedingungen hinsichtlich des Zugangs geknüpfte Absicherungen, beseitigen diese Demokratiegefährdung. Im Folgenden gebe ich vier Beispiele dafür, wie anhand von Gedanken von Marx (und Engels) Argumente für eine bedingungslose Absicherung der Existenz und Teilhabe, zum Beispiel in Form eines Grundeinkommens, entwickelt werden können.

a) Überwindung des bürgerlichen Rechtshorizonts

Basis des bürgerlichen Rechtshorizonts mit seiner Austausch- und Vertragslogik ist das Privateigentum in beiden genannten Formen. Nachkapitalistische Produktions- und mit ihm Distributionsverhältnisse verbleiben in diesem bürgerlichen Rechtshorizont, wenn die Produktion nicht demokratisch und kooperativ organisiert wird und wenn die Distribution weiterhin nach geleisteter Arbeitszeit erfolgt: Auf der Grundlage einer kooperativ-produktiven Gesellschaft, in der Arbeit nicht Mittel zum Leben, sondern Lebensbedürfnis ist, soll die Distribution folgendem Prinzip folgen: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ (Marx, Kritik des Gothaer Programms) Neben der (schwer vorstellbaren) Taxierung von menschlichen Fähigkeiten durch irgendeine Institution ist die Befriedigung der Bedürfnisse des Individuums Grundprinzip der Verteilung. Der bedingungslose Zugang zu den Mitteln der Existenz- und Teilhabesicherung (Bedürfnisbefriedigung) ist nun aber – neben der demokratisch-kooperativen Organisation der Produktion – zugleich Voraussetzung dafür, dass Arbeit Lebensbedürfnis werden kann, „indem sie jedem einzelnen die Gelegenheit bietet, seine sämtlichen Fähigkeiten, körperliche wie geistige, nach allen Richtungen hin auszubilden und zu betätigen, und in der sie so aus einer Last eine Lust wird.“ (Engels, Anti-Dühring) Diese „Gelegenheit“, diese Ermöglichung, wäre auch Gewähr dafür, dass die grundlegenden Bedürfnisse aller Menschen befriedigt werden. Friedrich Engels schreibt dazu mit Blick auf Charles Fouriers Vision einer Gesellschaft mit freier, genossenschaftlicher Arbeit und bedingungslos abgesicherter Existenz: „wenn jeder einzelne seiner persönlichen Neigung entsprechend tun und lassen darf, was er möchte, werden doch die Bedürfnisse aller befriedigt werden, und zwar ohne die gewaltsamen Mittel, die das gegenwärtige Gesellschaftssystem anwendet. […] Fourier weist nach, daß jeder mit der Neigung für irgendeine Art von Arbeit geboren wird, daß absolute Untätigkeit Unsinn ist, etwas, was es nie gegeben hat und nicht geben kann, daß das Wesen des menschlichen Geistes darin besteht, selber tätig zu sein und den Körper in Tätigkeit zu bringen, und daß daher keine Notwendigkeit besteht, Menschen zur Tätigkeit zu zwingen, wie im gegenwärtig bestehenden Gesellschaftszustand, sondern nur die, ihren natürlichen Tätigkeitsdrang in die richtige Bahn zu lenken.“ (Engels, Fortschritte der Sozialreform auf dem Kontinent)

b) Freiheit im Reich der Notwendigkeit

Marx schreibt, dass Arbeit im Sinne materieller Produktion nur einen freien, „attraktiven“ (Fourier) Charakter haben kann, wenn ihr gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Charakter gesetzt sei (vgl. Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie). Im „Kapital“ führt er weiter aus, dass die Freiheit im Reich der Naturnotwendigkeit, also in der materiell-gegenständlichen Produktion darin besteht, „dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen.“ (Kapital, Band 3) Der menschlichen Natur ist es nicht adäquat und es ist menschenunwürdig, wenn a) nicht demokratisch bestimmt wird, was eigentlich notwendige materielle Produktion und wie sie zu organisieren sei, b) wenn die materielle Produktion mittels ökonomischer Erpressung der und dem Einzelnen aufgezwungen wird. Die bedingungslose, also unerpressbare individuelle Existenz- und Teilhabesicherung wäre ein Mittel, um eine menschenwürdige Gestaltung der Produktion im Reich der Naturnotwendigkeit zu befördern.

c) Reich der Freiheit

Für Marx war klar, dass der Sinn des Ökonomischen nicht die Ausweitung der naturnotwendigen, materiellen Produktion ist, sondern die Verkürzung der dazu erforderlichen Arbeitszeit, um die „menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt“ zu befördern (vgl. ebd.). Denn das „wahre Reich der Freiheit“ blüht in der der „free“ bzw. „disposable time“ auf. Das ist für Marx die Zeit, „die nicht durch unmittelbar produktive Arbeit absorbiert wird, sondern zum Genuß, zur Muße, (so) daß sie zur freien Tätigkeit und Entwicklung Raum gibt. Die Zeit ist der Raum für die Entwicklung der faculties* (*Fähigkeiten) etc.“ (Marx, Theorien über den Mehrwert) Die disposable time ist das eigentliche ökonomische Maß des Reichtums – nicht die Ansammlung von Gütern und Dienstleistungen, schon gar nicht in ihrer kommodifizierten Form als Ware. Die bedingungslose Absicherung der individuellen Existenz und gesellschaftlichen Teilhabe der Individuen befördert die demokratische und auf Abwesenheit von Erpressung und Zwang basierende (Organisation von) Produktion. Sie befördert auch die individuell und gemeinsam selbstbestimmte Verfügung über Arbeits- und Lebenszeit.

d) Jenseits der „In-Wert-Setzung“ menschlicher Produktion und Fähigkeiten

Marx konnte in den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“ auf den im Kapitalismus angelegten und zunehmenden Fortschritt der Produktionstechnologie und Anwendung der Wissenschaft auf die Produktion (objektive Produktivkraft) verweisen, ebenso auf die fortschreitenden produktiven Fähigkeiten der Menschen selbst, geprägt durch Wissen sowie durch soziale Kooperation und Kompetenz (subjektive Produktivkraft, „Kombination der menschlichen Tätigkeit und der Entwicklung des menschlichen Verkehrs“). Beide Formen der Vergesellschaftung, sowohl der Arbeit und des Individuums, sind die zunehmend mächtiger werdenden Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden. Diese „Agentien“ der Reichtumsproduktion bilden sich nun jenseits der unmittelbaren, materiellen Produktion aus – in Form von Organisation und Verwissenschaftlichung der Produktion, in der „Produktion“ der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Individuen selbst. Die Effektivität dieser „Agentien“ im materiellen Produktionsprozess steht zunehmend in keinem Verhältnis mehr zur „unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet“. Dies bedeutet, dass die Arbeitszeit als Maß und Quelle des Reichtums zunehmend obsolet wird, damit auch der Tauschwert als Maß des Gebrauchswerts – letztlich aber auch die Arbeitszeit als Maß des Werts der Arbeitskraft und seiner Entlohnung. Die Folge: „Damit bricht die auf den Tauschwert ruhnde Produktion zusammen.“ (Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie) Daraus folgt, dass der Zugang zu Gütern und Dienstleistungen, die zur Sicherung der individuellen Existenz und gesellschaftlichen Teilhabe und der Entwicklung individueller Fähigkeiten notwendig sind, sich vom Einsatz der Arbeitskraft und Länge der Arbeitszeit des Individuums in der unmittelbaren materiellen Produktion entkoppeln (könnte). Der bedingungslose Zugang zu den Gütern und Dienstleistungen, die zur Existenz- und Teilhabesicherung nötig sind, zum Beispiel durch ein Grundeinkommen, wäre eine solche grundsätzliche Entkopplungsstrategie. Auch wäre angesichts des zunehmenden universellen, Marx würde sagen: gesellschaftlichen und wissenschaftlichen, Charakters der Produktion, eine solche universelle Distribution die adäquate Antwort, die für eine Übergangszeit um politisch ausgehandelte individuelle Erwerbseinkommen ergänzt wird. Das Grundeinkommen würde / könnte sich später zu einem grundsätzlich bedingungslosen Zugang zu allen Gütern und Dienstleistungen wandeln. Diese politische Strategie wäre der von Marx benannten realen ökonomischen Entwicklung und seinem sozialphilosophischen Ansatz adäquat. Sie wäre der menschlichen Natur adäquat und würdig, weil sie die „gewaltsamen Mittel“ der Produktion in Form ökonomisch erpresster Arbeit abschafft.

Konservative Allianz gegen die Abschaffung des Privateigentums

„Nach der einen Seite hin ruft es [das Kapital] also alle Mächte der Wissenschaft und der Natur wie der gesellschaftlichen Kombination und des gesellschaftlichen Verkehrs ins Leben, um die Schöpfung des Reichtums unabhängig (relativ) zu machen von der auf sie angewandten Arbeitszeit. Nach der andren Seite will es diese so geschaffnen riesigen Gesellschaftskräfte messen an der Arbeitszeit und sie einbannen in die Grenzen, die erheischt sind, um den schon geschaffnen Wert als Wert zu erhalten.“ (Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie)

Der universell produzierte gesellschaftliche Reichtum soll weiterhin gewaltsam in die Ausbeutungs- und Verwertungslogik der kapitalistischen materiellen Produktion gepresst werden. Die Distribution des gesellschaftlichen Reichtums muss durch das Nadelöhr Lohnarbeit. Zwang zur Lohnarbeit und lohnarbeitszentrierte „soziale“ Sicherungssysteme sollen das „In-Wert-setzen“ menschlicher Lebensbedingungen absichern. Diese konservative Strategie verfolgt aber nicht nur die Kapitalseite mit ihren Repräsentanten, der Funktionärsschicht des Kapitals. Sie ist auch die Strategie der obersten Funktionärsschicht der Gewerkschaften. Die „Herren der Arbeitsgesellschaft“ (Ralf Dahrendorf), besser „Herren der auf Privateigentum basierenden Lohnarbeitsgesellschaft“, müssen, um ihre bisherigen Machtposition in der bürgerlichen Gesellschaft zu erhalten, alles tun, die „allgemeine Arbeit“ (Marx) des Menschen „in Wert zu setzen“ – also diese Arbeit in die Arbeitszeit- und Warenlogik und entsprechende bürgerliche Rechtsformen zu pressen. Beide Seiten streiten nun im Rahmen dieser Logik und Rechtsform um die Verteilung der Produktionsergebnisse. Löblich, wichtig, aber aus marxistischer Sicht vollkommen unzureichend und ohne einen transformatorischen Horizont: Beide Seiten stehen nicht für die Überwindung des Privateigentums an Produktionsmitteln und stehen nicht für die Abschaffung des erpressten Verkaufs der Arbeitskraft, nicht für die Abschaffung ihrer Warenform. Im Gegenteil: Sowohl die Vertreter des Bundesverbands der Deutschen Industrie und der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände als auch viele Gewerkschaftsspitzen lehnen das Grundeinkommen ab. Auch gibt es keine Anzeichen, dass eine der beiden Seiten die privateigentümliche Produktion überwinden will. Dieser privateigentümliche Konservatismus ist aber angesichts der heutigen ökonomischen und technischen Möglichkeiten und Realitäten eine ungeheuerliche Behinderung sowohl der freien Entwicklung der Individuen und der Mehrung des gesellschaftlichen Reichtums als auch der Solidarität, die sich eben nicht an der Verteilung von Waren, sondern an der Befriedigung grundsätzlicher Bedürfnissen der Menschen ohne ökonomische Erpressung festmacht. Hoffnung machen die immer breiter werdenden Debatten und die politischen Forderungen – auch bei Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern – bezüglich der demokratischen Gestaltung von Gesellschaft und Wirtschaft, bezüglich der ökologischen Frage, der Frage, was wirklich notwendig ist für ein gutes Leben, und bezüglich individueller Zeitsouveränität und Grundeinkommen. Radikale Demokratie und individuelle Autonomie zwecks freier Entwicklung der Individuen und zwecks freier Assoziation – darum geht es im besten Marxschen Sinne.

Ronald Blaschke ist Diplom-Philosoph und Diplom-Pädagoge, mehr von ihm findet man auf seiner Homepage. Sein neustes Buch ist „Das Bedingungslose Grundeinkommen. Feministische und postpatriarchale Perspektiven“, welches er zusammen mit Antje Schrupp und Ina Praetorius herausgegeben hat, hier findet sich eine Übersicht des Buchs: Grundeinkommen 2016. Infos zu weiteren Werken gibt es hier.

 

Dir gefällt der Artikel? Dann unterstütze doch unsere Arbeit, indem Du unseren unabhängigen Journalismus mit einer kleinen Spende per Überweisung oder Paypal stärkst. Oder indem Du Freunden, Familie, Feinden von diesem Artikel erzählst und der Freiheitsliebe auf Facebook oder Twitter folgst.

Unterstütze die Freiheitsliebe

Zahlungsmethode auswählen
Persönliche Informationen

Spendensumme: 3,00€

Teilen:

Facebook
Twitter
Pinterest
LinkedIn

Eine Antwort

  1. Danke Ronald!
    Das ist eine schöne, prägnante, als Argumentationsmaterial nützliche Analyse
    und ein passender Beitrag zum 200. Geburtstag von Karl-Marx.
    Wenn man tiefgründig Marx(und Engels) liest [An einiges erinnerte ich mich, einer der lange nicht mehr (Marx(und Engels und Lenin) gelesen hatte, bei diesem Beitrag.], dann findet man Sachen, die die meisten zum 200. Marxgeburtstag in den Medien dazu publizierenden nicht erkennen wollten oder konnten.

Freiheitsliebe Newsletter

Artikel und News direkt ins Postfach

Kein Spam, aktuell und informativ. Hinterlasse uns deine E-Mail, um regelmäßig Post von Freiheitsliebe zu erhalten.

Neuste Artikel

Abstimmung

Sollte Deutschland die Waffenlieferungen an Israel stoppen?

Ergebnis

Wird geladen ... Wird geladen ...

Dossiers

Weiterelesen

Ähnliche Artikel