Protestbewegung gegen rechts – eine Zwischenbilanz

Zwischen Januar und April 2024 gingen bundesweit mehr als drei Millionen Menschen in allen Regionen Deutschlands gegen die AfD und den von ihr befeuerten Rassismus auf die Straße. Auf die Kürze der Zeit bezogen handelt es sich um eine der größten Protestwellen in der Geschichte der Bundesrepublik.

I Die Massenproteste in Zahlen

Nach verschiedenen Quellen kam es zwischen Mitte Januar und Ende April in der gesamten Bundesrepublik zu insgesamt etwa 1.350 größeren und vor allem auffallend zahlreichen kleineren Kundgebungen und Demonstrationen. Schon am 11. Januar gab es kleinere Demos in Potsdam und Berlin. Am 14. Januar demonstrierten 20.000 Menschen in Potsdam und 25.000 in Berlin. Die erste sehr große Protestdemo am 19. Januar in Hamburg zählte 180.000 Teilnehmende. In München demonstrierten am 20. Januar zwischen 100.000 und 250.000 Menschen, in Berlin 100.000 oder mehr, in Hamburg am 28. Januar zwischen 60.000 und 100.000, in Berlin am 3. Februar wieder 150.000, möglicherweise auch mehr Menschen. In München wurden am 11. Februar bis zu 300.000 gezählt, am 25. Februar demonstrierten in Hamburg wieder 50.000 bis 60.000. In Frankfurt/Main wurden am 20. Januar über 50.000 Menschen gezählt, am 5. Februar noch einmal 18.000 bis 25.000.

Auch in praktisch allen größeren und mittelgroßen ostdeutschen Städten gab es entsprechende Kundgebungen, so in Leipzig, Rostock, Schwerin, Dresden, Potsdam, Jena, Stralsund, Magdeburg, Chemnitz, Cottbus, Gera, Frankfurt/Oder. In Dresden demonstrierten am 21. Januar 25.000 bis 40.000 und am 3. Februar 30.000 Menschen, in Leipzig 60.000 bis 70.000 und am 30. Januar noch einmal zwischen 5.000 und 10.000. Eine wirkliche Besonderheit der Protestwelle waren die zu vielen Hunderten zählenden Demos in kleinen Städten und Orten, in denen es noch nie vergleichbare Veranstaltungen gegeben hatte oder zumindest seit Jahren nicht.1

Auslöser für die Proteste waren die am 10. Januar über das Recherchenetzwerk Correctiv bekannt gewordenen und von den Medien breit gestreuten Planungen aus dem Umfeld der AfD, im Falle der politischen Machtübernahme mehrere Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte außer Landes zu bringen. Zwar gibt es solche – durchaus nicht geheimen – Pläne schon länger. Die explosionsartige Massenwirkung der Berichte über die Correctiv-Enthüllungen hatte vor allem mit deren Framing zu tun: Die Anrufung eines kollektiven historischen Gedächtnisses (Villa, Potsdam, Geheimpläne – Wannseevilla, Wannseekonferenz 1942), verbunden mit der plötzlichen Erkenntnis, dass auch eigene Freunde, Bekannte oder Kolleg:innen betroffen wären, war zentral für das plötzliche Aufflammen dieser Protestwelle und die große Empörung, die dahinterstand. Dafür spricht auch, dass die allergrößten Demos in westdeutschen Städten und in Berlin bereits wenige Tage nach den Correctiv-Enthüllungen zustande kamen. Allein am Wochenende 20./21. Februar erreichte die Zahl der Demonstrierenden knapp 1 Million.

II Die Proteste hatten eine Vorgeschichte

Ein kurzer Rückblick zeigt, dass die Protestwelle im Frühjahr 2024 nicht voraussetzungslos entstand. Seit Längerem existiert ein latentes Protestpotenzial mit antirassistischen und antifaschistischen Konnotationen, manchmal auch verbunden mit der Forderung nach (mehr) sozialer Gerechtigkeit. Das belegen die zyklisch an- und abschwellenden Sozialprotestwellen der vergangenen Jahre.2

Ein Höhepunkt war seinerzeit die Demo #unteilbar am 13. Oktober 2018 in Berlin mit 240.000 Teilnehmenden. Diese Demo hatte eine sehr breite politische Basis, wurde von einem koordinierenden Netzwerk getragen und war sehr viel mehr als eine Ein-Punkt-Bewegung gegen Rassismus.3 Die Demos vom Frühjahr 2024 knüpften an die gleiche latente Massenstimmung an, waren aber zumindest in der Anfangsphase spontaner, dezentral und ohne koordinierendes Zentrum. Ihre konkrete inhaltliche Ausrichtung hing von den regionalen oder lokalen Organisatoren der jeweiligen Proteste ab.

Insgesamt handelte es sich bei den aktuellen Bewegungen weniger um einen politisch zielgerichteten, mit klaren politischen Botschaften und einer deutlichen politischen Richtung verbundenen Protest, sondern um den Ausdruck des Bekenntnisses zu basalen Wertvorstellungen bürgerlich-demokratischer Gesellschaften. Politisch war die Protestbewegung nicht links motiviert, wenngleich sie Anschlusspunkte für linke Kritik bot und bietet.

III Besonderheiten in Ostdeutschland

Überblick

Deutlich unterschiedlich entwickelten sich die Proteste in Ost- und Westdeutschland. Während weite Teile Ostdeutschlands und namentlich die drei Bundesländer Thüringen, Sachsen und Brandenburg, in denen in diesem Jahr Landtagswahlen stattfinden, von starken rechten Massenstimmungen mit politischem Einfluss geprägt sind, sieht das für Westdeutschland insgesamt anders aus.

Neu waren die größeren Proteste gegen rechts in jenen ostdeutschen Bundesländern, in denen die AfD hohe Wahlergebnisse erzielte und auf Mechanismen einer politischen Kommunikation zurückgreift, die die regional vorhandene Deutungshoheit ausgeprägt rechter Politikangebote befördern. Zum ersten Mal seit dem Aufschwung extrem rechter Protestdynamiken nach 2015 und dem damit einhergehenden Aufstieg der AfD konnten in diesen Regionen jene Gegenstimmen stärkere Resonanz gewinnen, die sich der Dauerpräsenz rechter Themen und Debatten entgegenstellten.

Getragen wurden die Proteste von Akteuren und der Anhängerschaft linksliberaler, linker, antirassistischer und ökologisch engagierter Initiativen, hinzukommend Gewerkschaften, Parteien, kirchliche Gruppen, Vereine und, für Ostdeutschland besonders wichtig, seit vielen Jahren gegen die extreme Rechte engagierte Einzelpersonen, die durch Vernetzung und regionale Präsenz den wachsenden Einfluss der Rechten aufzuhalten suchen.

Es bildeten sich regionale und überregionale Bündnisse in dem Bemühen, den Protesten gegen die AfD Aufmerksamkeit, mediale Reichweite und somit politisches Gewicht zu verleihen. Während in den Metropolen in der Regel auf eine bewährte und breit getragene Infrastruktur für die Organisation von Demonstrationen und Kundgebungen im Dreieck von Parteien, Gewerkschaften, zivilgesellschaftlichen und antifaschistischen Initiativen zurückgegriffen werden kann, steht diese den in vielen Mittel- und Kleinstädten – vor allem ist Ostdeutschland – gegen rechts Engagierten nicht zu Gebote. Zudem: Wer in einer Mittel- oder Kleinstadt Ostdeutschlands gegen rechts demonstriert, macht sich mitunter in seinem persönlichen Umfeld angreifbar (auch in Teilen Westdeutschlands nicht unbekannt): Immer wieder gibt es Berichte über Bedrohungen, Einschüchterungen und handfeste Angriffe auf in ihrem Ort bekannte Aktivist:innen oder Amts- und Mandatsträger:innen, die für ihre klare Haltung gegen die extreme Rechte und Rassismus bekannt sind. Das bleibt für das Engagement nicht ohne Folgen, demokratisch und antifaschistisch Aktive ziehen sich zurück oder verlassen die Region.

Sächsische Provinz – drei Kleinstädte im Landkreis Leipzig

In allen Großstädten Ostdeutschlands fanden seit Januar Massendemonstrationen gegen die extreme Rechte statt, so auch in Sachsen: bis zum 25. Februar allein drei Demonstrationen in Dresden, weitere u.a. in Bautzen, Zwickau und in Leipzig am 21. und 30. Januar, jeweils mit Zehntausenden Beteiligten.

Die Kleinstädte Grimma, Wurzen und Colditz liegen, 20 km voneinander entfernt, außerhalb des Speckgürtels der Großstadt Leipzig. Sie wurden nach den großen Demonstrationen in Leipzig selbst Teil dieser Bewegung, die – ganz und gar nicht erwartbar – von den Großstädten auf die sächsische Provinz übergriff. Erstmals seit der Entstehung von PEGIDA gelang es den demokratischen Kräften in Sachsen beim Versuch der Zurückdrängung der extremen Rechten in die Offensive zu kommen und nicht nur auf deren Aufmärsche und andere Veranstaltungen zu reagieren, sondern – ohne unmittelbar konkreten Anlass – selbst zu agieren. Gerade in der Provinz in Sachsen, wo die wenigen Aktiven fast schon resigniert waren, da es über Jahre nicht gelungen war, der unablässigen Abfolge von rechten Aufmärschen adäquat etwas entgegenzusetzen, war es den Aktiven schmerzlich bewusst, dass der Kampf gegen weiteren Einflussgewinn von rechts (AfD, „Freie Sachsen“) nur gewonnen werden kann, wenn der Widerstand in der Region signifikant stärker wird. Die bisherigen Erfahrungen geben Anlass zur Hoffnung. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Grimma, eine vom Bürgertum geprägte Stadt, hat durchaus ihre Geschichte des Widerstands gegen die extreme Rechte über zwei Jahrzehnte. Anders Wurzen mit seiner noch weiter zurückreichenden Geschichte als erste „national befreite Zone“ und als Hochburg einer gewalttätigen Neonaziszene, wo das zivilgesellschaftliche Netzwerk für demokratische Kultur mühsam versucht, ein Gegengewicht zu schaffen. Die Kleinstadt Colditz wurde bis zum vergangenen Jahr von einem Familien-Clan Drogen dealender Neonazis so terrorisiert, dass die wenigen engagierten Bürger:innen sich nicht mehr trauten, sich öffentlich dazu zu äußern. Nach den Großdemonstrationen in Leipzig und in Dresden waren für Sonntag, 5. Februar, in neun Kleinstädten weitere Kundgebungen angemeldet, unter anderem in Markranstädt, Eilenburg, Dippoldiswalde, Freiberg, Aue-Bad Schlema und Grimma. In Grimma hatten örtliche zivilgesellschaftliche Förderprojekte mit Werbung fast ausschließlich über die sozialen Medien und Mundpropaganda eine Kundgebung auf dem Marktplatz vorbereitet. Die Parteien blieben in der Vorbereitung außen vor. Die offenen Neonazis („Freie Sachsen“) versuchten hier, wie auch in anderen Orten, eine Drohkulisse aufzubauen („Mahnwache“ mit ca. 50 Leuten). Natürlich fehlten auch die obligatorischen rechten Streamer nicht. Das Schweizer Fernsehen war vor Ort und berichtete in einem viertelstündigen Beitrag. Niemand hätte mit der Teilnahme von schließlich 750 Menschen gerechnet, die laut und fröhlich den Reden des jungen Autors Jakob Springfeld („Unter Nazis. Jung, ostdeutsch, gegen Rechts“, Quadriga, Köln 2022), von Pastoren und dem Musikprogramm lauschten. Keinerlei Unterstützung gab es vom Oberbürgermeister (Spitzenkandidat der rechtslastigen Freien Wähler zur Landtagswahl, bis 2018 auf Liste der CDU), ebenso keine Beteiligung von den im Stadtrat dominanten Wählervereinigungen und von den Vereinen der Stadt.

Anders einen Monat später in Wurzen (3. März), wo der parteilose Oberbürgermeister extra seinen Urlaub abgebrochen hatte und Vereine wie der Ringelnatz-Verein mit Redebeiträgen auftraten. Auch hier eine Drohkulisse aus dem Neonazispektrum (50 Teilnehmende, die an der Kundgebung vorbeizogen). Hier blieben die Parteien ebenfalls außen vor. Dass bei der Vorgeschichte dieser Stadt trotzdem 500 Menschen kamen, muss als großer Erfolg gelten. Hier war es das Fernsehmagazin „Monitor“, das für eine auch überregionale Berichterstattung sorgte. Für das „Netzwerk Demokratische Kultur“ (NDK), das noch immer um seine Stellung in der Stadt kämpft, zweifellos eine Stärkung seiner Position.

In Colditz, kleinster Ort unter den Beispielen, fand am 24. März auf dem Marktplatz ein „Fest der Demokratie“ statt. Bei der letzten antifaschistischen Kundgebung vor einigen Jahren mussten wegen der Bedrohungslage durch Nazis auswärtige Teilnehmende von der Polizei aus der Stadt eskortiert werden; ortsansässige Teilnehmende hatte es ohnehin kaum gegeben. Diesmal ein völlig anderes Bild. Organisiert hatte die Kundgebung ein örtlicher Kulturverein, musikalische Verstärkung kam von der Band „Banda Communale“, die intensiv diese Aktionen in den Kleinstädten unterstützt. Deutlicher Teilnahmeerfolg: rund 250 Personen, der weit überwiegende Teil davon aus Colditz selbst. Bei der Kundgebung sprachen der Bürgermeister, der Pfarrer, der Landrat, ein grüner Minister, eine linke Landtagsabgeordnete. Für die Anerkennung in der Stadtgesellschaft mag dies wichtig gewesen sein. Auf die Deutlichkeit der Inhalte wirkte es sich eher negativ aus. Der CDU-Landrat philosophierte über den Wert der Demokratie an und für sich, der grüne Minister über die anhaltende Bedeutung von 1989. Der parteilose Bürgermeister beklagte sich über die Medien, die für den schlechten Ruf seiner Stadt verantwortlich seien. Die Reden der Honoratioren wurden zur Kenntnis genommen. Applaus dagegen gab es für die Band und den einzigen wirklich antifaschistischen Redebeitrag, den der Linken-Abgeordneten Kerstin Köditz. In Colditz gab es keine Gegenaktion der extremen Rechten.

IV Demos in westdeutschen Großstädten

Wir beschränken uns auf wenige Städte, insbesondere Hamburg, Frankfurt/Main und Köln. Berlin mit seiner Sonderstellung bleibt hier ausgeklammert. In Hamburg kam es zu drei großen Demos. Sie zählten zu den größten Aktionen dieses Frühjahrs. Frankfurt konnte mit zunächst zwei großen Kundgebungen aufwarten. In beiden Städten war – wie auch anderswo – der Anteil migrantischer Menschen an den Demos gering.

Beide Städte – Hamburg mit 1,8 Millionen Einwohnern, Frankfurt mit aktuell etwa 770.000 – weisen eine vergleichsweise starke liberale Zivilgesellschaft auf. Prägend sind die im weitesten Sinne grün-liberalen und sozialdemokratischen Teile der Gesellschaft und der ihnen angelagerten Organisationen. Die politische Rechte wird hauptsächlich von der CDU dominiert. In Hamburg haben die AfD und die extreme Rechte insgesamt nur wenig Prägekraft. Ihre Ablehnung ist in weiten Teilen der Bevölkerung common sense. Wahlprognosen sehen die AfD lediglich im oberen einstelligen Bereich. In der Banken- und internationalen Handelsmetropole Frankfurt ist es ähnlich. Während die AfD bei den hessischen Landtagswahlen 2023 mit 18,4% zweitstärkste Partei wurde, schnitt sie in Frankfurt mit 10,3% deutlich schlechter ab.

Die Kundgebungen in Hamburg waren von Anfang an von der „demokratischen Mitte“ dominiert und nach dem top down-Prinzip vom Parteienestablishment geprägt. Der Tenor der Redebeiträge fiel überwiegend ähnlich aus: „Unser demokratisches Miteinander“ sei durch Wahl- und Mobilisierungserfolge von rechts sowie Rassismus in Gefahr, jetzt gelte es, eine „Brandmauer“ um die Demokratie“ zu errichten und sie gegen „Hass und Hetze“ zu verteidigen. In Frankfurt gelang es einer bis dahin weitgehend unbekannten Klimagruppe (Koala-Kollektiv) zuerst, die gegen rechts gerichtete latente Massenstimmung aufzugreifen und die große Demo vom Januar als Aktion der antirassistischen und antifaschistischen Zivilgesellschaft zu gestalten. Bei der zweiten Demo kurz danach konnten die – zunächst überraschten und überrumpelten – Parteien und Kräfte der „demokratischen Mitte“ die Deutungshoheit zurückgewinnen. Diese Demo konnte auch von FDP und CDU guten Gewissens mitgetragen werden. Der SPD-Oberbürgermeister unterstrich die Rolle Frankfurts als internationale Metropole und Basis des „sozialen Zusammenhalts“. Eine Vertreterin des Vorstands der Bundesbank bemängelte, „Rechtsextremismus“ gefährde den „Wirtschaftsstandort“ Deutschland. Kritische Worte an die Politik der Ampel-Koalition und auch der Unionsparteien zu deren Beitrag zur politischen Rechtsentwicklung blieben eine seltene Ausnahme.

Die Linke war in beiden Städten aktiv dabei, konnte aber gegen den staats- tragenden und unverbindlichen Charakter der Kundgebungen nur schwer eigene erkennbare Akzente setzen. Die Demos der Großstädte strahlten dann rasch auch in die umliegenden größeren und kleineren Städte aus, die ähnlich geprägt waren. Aus dem Rahmen fiel allerdings die antifaschistische und antirassistische Demo in Hanau am 17. Februar, die es als bundesweite Demo auf 5.000 bis 8.000 Menschen brachte. Sie hielt Staat, Behörden und Polizei vor, die Verantwortung für die rassistischen Morde von Hanau nicht übernommen zu haben.

In Köln hatte es am 17. Januar eine Demo mit 30.000 Menschen und kurz danach am 21. Januar eine weitere mit 70.000 Teilnehmenden gegeben. Danach gelang dort nach intensiver Vorbereitung (großer Ratschlag mit über 70 Initiativen/Organisationen) eine Mobilisierung, die nicht nur die Zivilgesellschaft in ihrer ganzen Breite, sondern auch die Kölner Betriebe erreichte. Unter dem Motto „15 vor 12“ wurde am 21. März in Kölner Betrieben wie Ford, Deutz und Leybold für eine Viertelstunde eine „befristete Arbeitsunterbrechung“ organisiert. Dazu hatten Betriebsräte und Gewerkschaften aufgerufen. Die Geschäftsleitungen hatten die Aktion unterstützt. In vielen Schulen und anderen gesellschaftlichen Bereichen gab es gleichzeitig analoge Initiativen.4

V Allgemeine Gesichtspunkte: Kampf um Öffentlichkeit, Konsens und Hegemonie

  1. Die Übersicht zeigt, dass es sich bei den Protesten gegen rechts in erster Linie um eine Protestbewegung gegen die AfD und die „extreme Rechte“ handelt, die zuerst in den Großstädten zündete und dann unserem Eindruck nach sukzessive auf deren Umland übergriff, wobei auf dem Lande (in der „Provinz“, s. Beispiel Sachsen und Rhein-Main-Gebiet) Kleinstädte erfasst wurden, allerdings keine dörflichen Siedlungen. Gerade auf dem Lande waren die lokalen Kundgebungen im Februar/März vielerorts etwas völlig Neues oder seit langem nicht mehr Gesehenes. Dies gilt für West- wie für Ostdeutschland. Die große Zahl der über drei Millionen an den Protesten Beteiligten im städtischen wie auch ländlichen Milieu und das Übergreifen der Bewegung von den Städten auf das Umland verweisen darauf, dass es sich hier um die Mobilisierung einer Grundstimmung in Teilen der Bevölkerung und eines aufgestauten Konflikts handelt, also eine wirkliche Massenstimmung. Die städtischen Ballungszentren sind dabei der Raum, in dem multikulturelles Zusammenleben ausgeprägter ist und eine schon längere Tradition hat (Gewöhnungsfaktor) und die Formierungsbedingungen für demokratische Protestbewegungen günstiger sind.
  2. Wenn in der Anfangsphase so genannte zivilgesellschaftliche Initiativen vielerorts im kommunalpolitischen Raum eine entscheidende Zünderrolle spielten, so folgten die konzentrierten Versuche der etablierten Parteien auf dem Fuß, Einfluss auf die Bewegung zu behalten und sie für sich zu instrumentalisieren. Dies ist als widersprüchlicher Prozess zu sehen. Erstens sahen sich die Repräsentanten der etablierten Parteien der sich selbst so bezeichnenden „demokratischen Mitte“ offenbar veranlasst, diese sich hier zeigende Massenstimmung und die Massenbewegungen nicht sich selbst zu überlassen. Es geht ihnen um „Regierung mit dem Konsens der Regierten, aber mit dem organisierten Konsens“5, und gerade dieser „organisierte Konsens“ erodiert gegenwärtig unter dem Eindruck der Multikrisenerscheinungen. Bei den städtischen Protesten zeigte sich dieser Widerspruch auch in der Parallelität unterschiedlicher Protestveranstaltungen mit teils größerem Einfluss von Basisinitiativen, teils rigider Kontrolle seitens der etablierten Parteien und Bündnisse. Für die CDU als erklärte Partei des rechten politischen Spektrums erwies sich zudem die Selbstbezeichnung vieler Proteste als „Bewegung gegen rechts“ als Ärgernis, dem sie stellenweise durch offizielle Beteiligung entgegenzutreten versuchte. Zweitens ist seitens der Protestbewegungen natürlich zu verlangen, dass sich die Repräsentanten etablierter Parteien explizit gegen jede Kooperation mit der extremen Rechten/AfD aussprechen, um sie darauf auch zukünftig festlegen zu können. Gerade in ländlichen Regionen mit rechter/rechtsradikaler Hegemonie wäre das von Belang, um den Widerstand gegen extrem rechte und neofaschistische Tendenzen zu verstärken. Je- doch zeigte sich mit räumlicher und zeitlicher Entfernung von den ersten städtischen Protestaktionen, dass die größeren Kundgebungen in zunehmendem Maße von den etablierten Parteien zur Propagierung eines entleerten und formalisierten Demokratieverständnisses à la FdGO, zur Festlegung auf „wehrhafte Demokratie“, Protest gegen „rechten und linken Extremismus“ etc. sowie zu rein wahlpolitischen Zwecken (Abdrängen der AfD als wahlpolitischer Konkurrenz) gelenkt werden sollten.
  3. Welche Teile der Bevölkerung sind in Bewegung gekommen? Wessen Pro- teste waren das? Dem Augenschein nach waren „ein Querschnitt der Gesellschaft“6, alle Generationen beteiligt. Es scheint aber, dass die Beobachtung richtig ist, dass es sich – bei allen lokal-regionalen Unterschieden – zumindest zuerst um Pro- teste aus dem (städtischen) Milieu eher jüngerer, qualifizierter und stärker politisch interessierter Personen handelte, für die „bürgerlich-zivilgesellschaftliche“ Wertorientierungen mit Bezug auf Menschenrechte, allgemeine Demokratie und ziviles Zusammenleben („Für Menschlichkeit und Gleichheit“) eine handlungs- relevante Rolle spielen. Zugleich konnten diese Protest auch ältere, ökologisch, antifaschistisch und antirassistisch orientierte Menschen anziehen, die beim etablierten Parteienspektrum keine Anknüpfungspunkte fanden. Dies dürfte insgesamt auch jener Teil der Gesellschaft sein, der zu Zeiten der sog. „Flüchtlingskrise“ für Willkommenskultur und Solidarität mit Geflüchteten optierte. Dabei ist natürlich zu berücksichtigen, dass sich hier nur eine begrenzte Minderheit der Gesellschaft aktiviert hatte. Aus der Sicht der konservativen Presse eine linke Bewegung: „Aus den Demonstrationen landauf, landab spricht durchaus auch die Angst eines linken Bürgertums, seine Hoheit über die exklusiv von ihm reklamierte ‚Zivilgesellschaft‘ könne verloren gehen. Dafür stehen die Versuche, CDU und CSU auszugrenzen und in den AfD-Topf zu werfen.“7 Auf der anderen Seite haben manche Kommentatoren die Bewegung eher zynisch und überheblich als reine regierungsfromme grün-sozialdemokratische Werbeveranstaltung dargestellt. Damit übersahen sie allerdings, dass hier auch ein progressives Konfliktpotenzial angelegt ist, das von den Ampelparteien mehr erwartete als reine Lippenbekenntnisse zu „Vielfalt“ und „demokratischem Miteinander“.
  4. Die Proteste fanden im allgemeinpolitischen, kommunalen Raum statt; die Arbeitswelt und die betriebliche Sphäre wurden bisher kaum berührt. Das oben aufgeführte Beispiel Köln war eine der wenigen Ausnahmen. Dies hat natürlich zuerst mit den besonderen Restriktionen des betrieblichen Handlungsfeldes zu tun; hierin zeigt sich aber auch die deutliche Entpolitisierung der DGB-Gewerkschaften. Im außerbetrieblichen politischen Feld war der DGB präsent und vielerorts organisatorisch beteiligt; viele gewerkschaftliche Gremien und Funktionsträger:innen zeigten „klare Kante“ gegen die AfD. Das wird aber nicht reichen, um den Einfluss der extremen Rechten in den Belegschaften und unter den abhängig Beschäftigten zurückzudrängen. Das fordert von den Gewerkschaften auch, sich mit der ambivalenten Rolle der Ampel-Parteien kritisch auseinanderzusetzen, die selbst zu Entsolidarisierung und Verunsicherung beitragen und damit der extremen Rechten den Rohstoff liefern.
  5. Wenn nach organisierenden Kräften gefragt wird, so darf die besondere Rolle der überregionalen und szenenübergreifenden öffentlichen und privaten Medien (Radio, TV, Presse) nicht unterschätzt werden. Sie waren es, die die Correctiv-Recherche bundesweit öffentlich publik gemacht und das Potsdamer Treffen skandalisiert hatten. Darin kam das aus unterschiedlichen Motiven gespeiste, aber gemeinsame Interesse der etablierten Parteien zum Ausdruck, die AfD im Vorfeld der anstehenden Wahlen mit dem Stichwort „Remigration“ an die Wand zu drücken, ohne die selbst praktizierte Migrationspolitik hinterfragen zu müssen. Von Belang dürfte in diesem Zusammenhang auch gewesen sein, dass sich nach der Correctiv-Enthüllung verschiedene Unternehmerverbände und erstmals eine größere Zahl von Unternehmen öffentlich kritisch zur AfD äußerten.8
  6. Die sozialistische Linke im weiteren Sinne hat in diesen Bewegungen keine besondere initiierende oder tragende Rolle gespielt und offenkundig – sicher mit einzelnen lokalen Ausnahmen – auch keine großen und erfolgreichen Anstrengungen unternommen (oder unternehmen können), an den inneren Widersprüchen dieser Bewegung anzusetzen und linke Positionen in die Öffentlichkeit zu tragen.9 Dies wird freilich entlang lokaler und konkreter Bedingungen der Bündnispolitik und Mobilisierungsfähigkeit variieren. Es wäre jedoch breiter zu diskutieren, wie etwa Schülerinnen und Schüler oder junge Aktive, die auf den Protesten erste Erfahrungen machen und nach Deutungs- und Orientierungsangeboten suchen, auch dauerhaft für progressive Positionen zu erreichen wären. Umso wichtiger sind verschiedene linke lokale Initiativen zur weiteren Vernetzung und Verstetigung der Proteste, die aus verschiedenen Städten berichtet wurden.10

Quellen und Anmerkungen

  1. Übersichten unter: https://taz.de/Schwerpunkt-Demos-gegen-rechts/!t5338539/ sowie https://de.wikipedia.org/wiki/Proteste_gegen_Rechtsextremismus_in_Deutschland_und_%C3%96sterreich_2024. ↩︎
  2. S. dazu die Beiträge in Z 117, März 2019. ↩︎
  3. S. dazu die Streitschrift: Bündnis #unteilbar (Hrsg.): #unteilbar. Für eine offene und solidarische Gesellschaft, Berlin 2018. Das Bündnis hatte sich im Oktober 2022 aufgelöst – wegen fehlender Dynamik. ↩︎
  4. Vgl. Witich Roßmann, #15vor12FürMenschenwürde. Neue Aktionsformen gegen Rechts in Köln, in: sozialismus 5/2024, S. 14-17. ↩︎
  5. A. Gramsci, „Hegel und das Vereinswesen“, Gefängnishefte 1, Hamburg 1991, § 47, S. 117. ↩︎
  6. Protestforscher Rucht meinte: „Es wirkt so, als ob das ein Querschnitt der Gesellschaft ist – ohne das rechtsextreme Lager natürlich. Aber solche Eindrücke können täuschen.“ FAZ v. 16. Februar 2024. Vgl. auch Marco Bitschnau, Sebastian Koos: Die schweigende Mehrheit auf der Straße? Universität Konstanz, Policy Paper 15, März 2024. Diese Studie erfasste aber nur einen regionalen Ausschnitt aus Baden-Württemberg. ↩︎
  7. FAZ v. 29. Januar 2024, S. 1. ↩︎
  8. Hauptargument, sie sei „wirtschaftsschädlich“ wegen ihrer ablehnenden Haltung zur EU und zur Arbeitskräftezuwanderung. Was den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) als Kritiker der AfD angeht, so wäre daran zu erinnern, dass dessen ehemaliger Präsident Hans Olaf Henkel bei der Europawahl 2014 für die AfD in das Europa-Parlament einzog und bis zu seinem Austritt 2015 deren stellvertretender Bundessprecher war. Henkel machte noch bis 2018 bei der AfD-Absplitterung „Liberal-Konservative Reformer“ mit. ↩︎
  9. Selbst der liberalen „Zeit“ fiel z.B. der Widerspruch auf, dass führende SPD-Politiker sich an den Protesten beteiligten und gleichzeitig AfD-Themen bedienten: „Was genau etwa treibt SPD-Chef Lars Klingbeil an, genau jetzt den Bundesländern vorzuwerfen, nicht konsequent genug abgelehnte Asylbewerber abzuschieben – und damit das große Kernthema der AfD wieder nach vorn zu bringen?“ (Demonstrationen gegen Rechtsextremismus: Wo bleibt das „Wir haben verstanden“? ZEIT ONLINE, 3.3.2024). ↩︎
  10. Vgl. z.B. die Berichte von Dieter Bahndorf über die „Strategiekonferenz Rhein-Main“ am 23./24. März 2024 in Frankfurt/Main, in: antifa, Beilage Mai/Juni 2024, S. 13, und von W. Roßmann (a.a.O.) über Köln. In Colditz hat sich ein kreisweites Bündnis „DemokraTISCH“ gebildet. ↩︎

Der Artikel von Marcel Hartwig / André Leisewitz / Kim Lucht / John Lütten / Jürgen Reusch / Gerd Wiegel / Volkmar Wölk erschien in der neuen Ausgabe der Zeitschrift Z – Marxistische Erneuerung

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