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Frankreich: Die Linke, die Faschistin und der Neoliberale

Die Faschistin Marine Le Pen und der Banker Emmanuel Macron in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl in Frankreich – das bestätigt die tiefe politische Krise, in der sich das Land befindet. Aber im Vorfeld der Parlamentswahl im Juni kann sich auch ein neuer linker Pol herausbilden. Von John Mullen

Die meisten Stimmen erhielt Emmanuel Macron mit 24 Prozent (8,7 Millionen). Macron ist ehemaliger Investmentbanker und war ehrgeiziger Wirtschaftsminister in François Hollandes „sozialistischer“ Regierung. Politisch gesehen ist er eine noch hohlköpfigere Figur als Tony Blair. Er kandidierte als Unabhängiger, gewann jedoch die Unterstützung vieler Schwergewichte der Sozialistischen Partei (PS), die ihren offiziellen Kandidaten Benoît Hamon fallen ließen, weil er ihnen zu links war.

Macron hat offen erklärt, dass zur Rettung der Lage einfach eine unternehmerische Haltung nötig sei. Frankreich müsse ein „Land der Start-ups“ werden, fordert er, und sein offizieller Wahlspruch lautet: „Frankreich muss allen eine Chance geben“. Er hat seine Bewunderung für die Politik Margaret Thatchers in Großbritannien in den 1980er Jahren geäußert und begeistert sich für weitere Privatisierung und Deregulierung des Markts.

Bezüglich nichtwirtschaftlicher Themen vertritt er liberale Ansichten, hat sich von dem antiislamischen Rassismus, den der ehemalige Ministerpräsident Manuel Valls geschürt hat, distanziert, und kürzlich erklärt, dass Kolonialismus ein Verbrechen an der Menschheit war – auch wenn solche Meinungen bei den Rechten nicht gut ankommen.

Banker Macron

Macrons Erfolg wurde möglich, weil der rechte Flügel der Sozialistischen Partei ihn unterstützt hat und weil er sich als nicht mit dem politischen System verbundener Außenseiter präsentieren konnte. Zudem wählten viele ihn aus taktischen Gründen, weil er ihnen als Kandidat galt, der Le Pen in der zweiten Runde am ehesten mit großer Mehrheit schlagen könnte. In Wirklichkeit will er die Sparpolitik fortsetzen, was mittelfristig der Faschistin noch mehr Anhänger zutreiben wird.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass François Hollandes arbeiterklassenfeindliche Politik es Macron erst ermöglichte, erfolgreich anzutreten, während er gleichzeitig eben diesen Kurs noch beschleunigt weiterverfolgen will. Weil Macron nicht als Kandidat der Sozialistischen Partei antrat, konnte er viele Stimmen von rechts bekommen, nicht zuletzt von denen, die über die Veruntreuungs- und Korruptionsgeschichten des offiziellen Kandidaten der Rechten, François Fillon, empört waren. Macron wird die Stichwahl gegen Le Pen haushoch gewinnen und der nächste Präsident Frankreichs werden.

Faschistin Le Pen

Die faschistische Kandidatin Marine Le Pen wurde Zweite in diesem Rennen und erhielt mit 7,7 Millionen Stimmen (21,3 Prozent) eine Million mehr Stimmen als bei den Wahlen vor fünf Jahren. Dieser hohe Stimmenanteil für eine Faschistin ist äußerst besorgniserregend, und das Fehlen ernsthafter, breit aufgestellter, landesweit agierender und dauerhaft arbeitender antifaschistischer Bündnisse ist ein großes Problem in der derzeitigen politischen Lage. Die Linke hat jeden Grund, ihre Strategien bezüglich antifaschistischer Politik zu überdenken. Dennoch hat Le Pen in den vergangenen Monaten stetig an Unterstützung verloren: Vor der Wahl führte sie die meisten Umfragen an, insofern ist es eine gewisse Erleichterung, dass sie am Ende nur den zweiten Platz erreichte.

Le Pen hat sich sehr bemüht, ihrer Partei eine „Entgiftungskur“ zu verordnen, um nicht als faschistisch angesehen zu werden. Ihre Wahlkampfparole lautet: „Die Ordnung in Frankreich wieder herstellen“. Gleichzeitig bemüht sie sich darum, sich das Wohlwollen des harten faschistischen Kerns des FN zu erhalten: Vor wenigen Tagen erst erklärte Le Pen, sie sei der Ansicht, Frankreich sei nicht verantwortlich für die Deportation französischer Juden in Todeslager während des Zweiten Weltkriegs. Solche Äußerungen dienen dazu, ihre Anhänger daran zu erinnern, dass Antisemitismus (und Völkermord) für sie kein Problem sind.

Den Kern stählen

Es ist zur Tradition geworden, dass sie und schon ihr Vater solche Statements abgeben, wenn die Partei gerade im Aufwind ist. Diese werden meistens als „Ausrutscher“ abgetan, sind aber wohldurchdacht. Überall in Frankreich wurden jene, die aus Wut über Arbeitslosigkeit und Sparpolitik jetzt den FN wählten, von Leuten um sie herum gefragt, was sie von Le Pens Äußerung über die Vernichtung der Juden hielten. Sie standen entweder unter Druck, ihre Unterstützung für Le Pen aufzugeben oder sich noch klarer zu faschistischen Ideen zu bekennen. Sich dessen bewusst, dass sie die Stichwahl nicht gewinnen wird, stählt die Faschistin so den Kern ihrer Partei für künftige Kämpfe.

Das letzte Mal, als der FN in die zweite Runde kam, war im Jahr 2002, als Jean-Marie Le Pen 16,8 Prozent (4,8 Millionen) der Stimmen erhielt. Sofort gab es tägliche antifaschistische Massenproteste, Universitäten wurden bestreikt und es gab eine Demonstration von zwei Millionen am 1. Mai gegen Le Pen. Tragischerweise entstand daraus keine dauerhafte landesweite antifaschistische Bewegung.

Probleme der antifaschistischen Bewegung

Jetzt, im Jahr 2017, fanden in verschiedenen Städten (unter anderem in Saint-Denis und Pau) eine Reihe antifaschistischer Demonstrationen von jeweils mehreren Hundert statt, um gegen Versammlungen des FN zu protestieren. Am 1. Mai wird es zweifellos eine riesige antifaschistische Kundgebung geben, aber sie wird wohl kaum die Größe der Proteste des Jahres 2002 erreichen.

Das liegt unter anderem daran, dass es Marine Le Pen gelungen ist, viele davon zu überzeugen, dass ihre Partei keine faschistische mehr ist, aber auch daran, dass der Großteil der Linken nicht wirklich davon überzeugt ist, dass antifaschistische Aktivitäten von höchster Dringlichkeit sind. Viele linke Gruppen sehen in dem Aufbau gewerkschaftlicher Bewegungen und dem Kampf gegen Arbeitslosigkeit den Schlüssel, um die Faschisten zurückzudrängen. Solche Kämpfe sind ohne Zweifel eine große Hilfe, aber wir brauchen gleichzeitig spezifische Aktivitäten, um Le Pen daran zu hindern, ihren faschistischen Parteiapparat weiter auszubauen.

Die radikale Linke

Fast gleich gut haben der offizielle republikanische Kandidat François Fillon (19,9 Prozent) und der rot-grüne linke Reformist Jean-Luc Mélenchon (19,6 Prozent) abgeschnitten. Es wäre zu erwarten gewesen, dass Fillon diese Wahlen problemlos gewinnt. Seine Kandidatur ist ein Zeichen für die Schwäche der traditionell rechten Partei. Es war äußerst schwierig für sie, einen Kandidaten zu finden, der die Partei einigt, wobei er in den Vorwahlen nicht zu den Favoriten gehörte.

Als vor ein paar Monaten bekannt wurde, dass Fillon Gelder veruntreut hatte, hatte die Partei keinen Plan B. Aber nach den Enthüllungen wechselten viele Anhänger Fillons zu Le Pen oder zu Macron. Ein Lichtblick in dieser Woche ist, dass Fillon, da er nicht Präsident wird, jetzt keine Immunität genießt und er für seine Taten verurteilt werden könnte.

Die Bedeutung von Mélenchon

Jean Luc Melenchon von der Front de Gauche bei den Demonstrationen

Bezüglich der radikalen Linken habe ich bereits über die Bedeutung des Wahlkampfs von Jean-Luc Mélenchon geschrieben. Sein kometenhafter Aufstieg angesichts einer brillanten, optimistischen Kampagne und eines Programms radikal linker Forderungen, mit denen er der Sparpolitik etwas entgegensetzt, spiegelt einen Linksruck bedeutender Flügel der Arbeiterklasse nach großen Streiks und Demonstrationen gegen Hollandes Arbeitsgesetz im Jahr 2016 wider.

Ihm ist es gelungen, die Hauptdynamik der radikalen und antikapitalistischen Politik in Frankreich zu verkörpern, eine Dynamik, für die vor einigen Jahren noch die Neue Antikapitalistische Partei stand. Die Forderung nach einem radikalen Wandel zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Armut konnte viele anziehen, die ansonsten zu Marine Le Pen übergegangen wären. Nach Mélenchons beeindruckendem Wahlergebnis zusammen mit dem schweren Einbruch der Wählerstimmen der Sozialistischen Partei wird seine kürzlich ins Leben gerufene Bewegung „Unbeugsames Frankreich“ (France insoumise) die Neuordnung der Linken stark beeinflussen.

Möglicherweise erleben wir das Ende der Sozialistischen Partei, einer beherrschenden Kraft der Linken in Frankreich seit dem Jahr 1971. Der offizielle Kandidat der PS im Jahr 2012, Hollande, erhielt damals 28 Prozent der Stimmen in der ersten Runde (10 Millionen). Im Jahr 2017 erreichte der offizielle PS-Kandidat Benoît Hamon, der in seiner Partei dem linken Flügel angehört, gerade einmal 6,4 Prozent (2,3 Millionen).

Der Umbau der Linken

Das Hauptergebnis dieser Wahlen ist somit eine Polarisierung. Jene Parteien, die verantwortlich für die Sparpolitik sind, wurden erheblich geschwächt und die radikale Linke, die radikale Rechte und das parteilose extreme „Zentrum“ sind aus dem Schatten getreten.

Es wird nicht lange dauern, bis es zu einer Umbildung und Erneuerung der Rechten wie der Linken kommen wird. Im Juni finden die Wahlen zur Nationalversammlung mit zwei Wahlrunden statt. Der nächste Woche gewählte Präsident braucht eine parlamentarische Mehrheit, um regieren zu können. Aber Macron hat noch keine Abgeordneten, während die Sozialistische Partei über 292 verfügt, die Republikaner über 198 (die radikale Linke hat 15 und der FN 1). In den kommenden Wochen wird die Sozialistische Partei voraussichtlich in sich zusammenfallen, weil die amtierenden Abgeordneten sich darum balgen werden, von Macron ins Boot geholt zu werden, oder sie werden ihre örtliche Partei davon zu überzeugen versuchen, sie gegen einen von Macron anerkannten Kandidaten zu unterstützen.

Das eröffnet die Möglichkeit, die radikale Linke umzubauen. Die vielen tausend Aktiven, die Mélenchons Wahlkampf aufgebaut haben, werden Abgeordnete ins Parlament zu bekommen versuchen, die die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter verteidigen. Wenn sich die Sozialistische Partei spaltet, könnte ein erheblicher Teil der PS-Basis von einer solideren, klassenorientierten Linken angezogen werden.

Auch der Zusammenbruch der Rechten steht auf der Tagesordnung. Unterschiedliche Gruppierungen in der Republikanischen Partei um Nicolas Sarkozy, Alain Juppé und François Fillon werden wahrscheinlich große Schwierigkeiten haben, nach dieser Niederlage zu einer Einheit zu finden. Einige haben sich schon Macron angeschlossen, weitere werden folgen. In diesem Zerfallsprozess werden einige rechte Gruppen sich wohl mit dem zunehmend mächtigen FN verbünden. Solche Bündnisse könnten Le Pen stärken, nachdem die traditionelle Rechte die Faschisten fünfzehn Jahre lang gemieden hat.

Ein Damm gegen Le Pen

Eine Frage, die die politischen Kommentatoren und Aktivistinnen in Frankreich beschäftigt, habe ich mir für den Schluss aufgehoben: Sollte die Linke zur Wahl der Blair-Kopie Macron aufrufen, als „kleineres Übel“, um die Faschistin zu verhindern? Die Sozialistische Partei, die Kommunistische Partei und etliche weit links stehende Genossinnen und Genossen (auch viele altgediente Linke) rufen dazu auf. Mélenchon hat es nicht getan. Diese Frage spaltet die Linke wie schon ähnlich spektakulär im Jahr 2002, als Jean-Marie Le Pen in der Stichwahl gegen den Konservativen Jacques Chirac antrat. Wir sollten diese Frage nicht in den Mittelpunkt unserer politischen Debatten stellen. Was wir jetzt brauchen, ist maximale Einheit und Mobilisierung gegen Le Pen. Und wir müssen jene, die versucht sind, in der Stichwahl die Faschistin zu wählen, von der wahren Natur des FN überzeugen: Er ist arbeiterklassenfeindlich und demagogisch und hat einfachen Leuten keine Lösung anzubieten.

Darüber hinaus können wir von unserer Erfahrung vor fünfzehn Jahren lernen. Das hohe Wahlergebnis für Chirac in der zweiten Runde im Jahr 2002 gegen Le Pen hat den weiteren Aufbau des französischen Faschismus nicht verhindert. Im Gegenteil hat die Austeritätspolitik seitdem noch mehr Elend geschaffen, was den Faschisten noch mehr Leute zugetrieben hat. Die „Republikanische Einheit“ gegen Le Pen half den Faschisten dabei, sich als Außenseiter mit gegen das System gerichteter Politik zu präsentieren.

Millionen linke Französinnen und Franzosen, auch viele antikapitalistische Aktivistinnen, werden in zwei Wochen für Macron stimmen. Obwohl dies verständlich ist, halte ich es für einen Fehler. Dennoch ist dies zurzeit nicht die entscheidende Frage. Die Hauptfrage lautet, wie wir nach dem exzellenten Ergebnis für die radikale Linke in der ersten Runde eine große linke Alternative aufbauen können, sowohl für die Parlamentswahlen als auch für den täglichen Kampf, und wie wir eine solide antifaschistische Kraft in Frankreich schaffen können, um den Aufstieg der Nazibestie zu stoppen.

(Aus dem Englischen Rosemarie Nünning, zuerst erschienen bei Marx21.)

Der Autor:

John Mullen ist Mitglied der Gruppe Ensemble! (Zusammen!) in der Pariser Region. Seine Website lautet: www.johncmullen.net

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Eine Antwort

  1. Hallo,
    Wenn man sich die Vorträge und Interviews mit Herrn Prof. Dr. Rainer Mausfeld anschaut und zuhört, dann kann niemand der wirklich links ist und somit den Werten und Erkenntissen der Aufklärung verpflichtet ist Macron Wählen!
    Denn der Neoliberalismus unterscheidet sich nur sehr geringfügig vom Faschismus. Eine Grundvorraussetzung für Neoliberalismus ist der Sozialdarwinimus und damit eine andere Form des Herrenmenschen!
    Für alle Lese die diese Vorträge und Interwies nicht kennen, die gibt es auch auf youtube oder hier etwas übersichtlicher: https://propagandaschau.wordpress.com//?s=mausfeld&search=Los
    Ich wünsche allen eine erkenntnisreiche konsumierung. ;-)

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