Jean-Luc Mélenchon strebt nicht nur die Herrschaft über eine marginalisierte Linke an. Er hofft auf die Veränderung der gesamten französischen Politik. Jean-Luc Mélenchons Präsidentschaftskampagne ist in den letzten Wochen regelrecht durchgestartet; den dritten Platz hat er erreicht, der zweite kommt laut einiger Umfragen in Reichweite. Zusätzlich zu den Schockwellen, die den Finanzmarkt durchfahren, gibt sein Erfolg den Wahlen in Frankreich eine neue Richtung, da eine linke Alternative im Kampf zwischen Establishment und Rechtsextremismus angeboten wird.
Doch welche Politik wird durch die Kampagne betrieben? Und was steckt hinter ihrem Erfolg? Die Bewegung hinter ihr, France Insoumise („Rebellisches Frankreich”), bedient sich an Elementen der lateinamerikanischen und spanischen Volksbewegungen, die am bekanntesten wahrscheinlich durch Podemos verteten werden.
Raquel Garrido, eine ihrer Landessprecherinnen, ist seit langer Zeit eine Weggefährtin von Jean-Luc Mélenchon und hat 2008 mit ihm die Front de gauche („Linksfront“) gegründet. In diesem Interview (Anm. d. R.: ins Englische von David Broder, ins Deutsche von Felix Wittmeier übersetzt) spricht sie mit dem Journalisten Cole Stangler über die Kampagne und ihre Hoffnungen für eine Sechste Republik.
Cole Stangler: Können Sie mir etwas darüber erzählen, inwieweit sich diese Kampagne von Mélenchons Kandidatur im Jahr 2012 unterscheidet?
Raquel Garrido: Das Hauptthema dieser Kampagne ist die Veränderung unserer Verfassung und die Befähigung des französischen Volkes dies durch eine verfassungsgebende Versammlung, mit Anlehnung an die französische Revolution, selber zu tun. Die Idee dabei ist es, das aktuelle Regime, welches wir „Präsidialdemokratie“ nennen, zu beseitigen. Wir verstehen sie als Oligarchie und möchten stattdessen eine Republik haben: für das Volk, durch das Volk.
Ich denke, das ist auch der Grund, warum wir in aller Munde sind. Einer der Gründe, warum es der aktuellen Regierung an Zustimmung in der französischen Gesellschaft mangelt, ist, dass das Wahlverfahren es den Regierenden erlaubt, sehr inkonsequent mit ihren Wahlversprechungen umzugehen. Straffreiheit ist ein Charakteristikum der jetzigen politischen Klasse. Sie machen was sie wollen, da sie absolut nicht zu belangen sind.
Der Habitus der Straflosigkeit fängt beim Präsidenten an sich an. Wir sind das einzige, sich als demokratisch identifizierende Land, das so viel Macht in einer Person bündelt – obwohl hunderte von Leuten in unterschiedliche Institutionen gewählt werden, bestimmt er am Ende die parlamentarische Tagesordnung, also das, worüber die Versammlung sprechen wird. Der Präsident agiert in so einer unverantwortlichen Art und Weise, dass es sich wie ein Kaskadeneffekt durch die gesamte politische Schicht zieht.
Den meisten Politikern in Frankreich mangelt es an Legitimität, da sie mit einer sehr geringen Wahlbeteiligung gewählt werden. Es besteht ein tiefes Gefühl der Abscheu zwischen der Bevölkerung und der politischen Klasse. Dies wiederum sorgt für Chaos und Instabilität. Wenn die Magna Carta – die grundlegenden Regeln, die man nicht zu verhandeln hat – wenn diese Grundvereinbarungen, die die politischen Diskussionen und Konflikte in einer demokratischen Gesellschaft regeln sollen, nicht mehr von einer Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert werden, dann ist eine Gesellschaft instabil.
Im Jahr 2012, da wir jetzt gerade über den Sturz der alten Regierung und den Aufbau einer neuen sprechen, wurden wir als jene betrachtet, die Angst und Chaos einführen würden. Heutzutage hat sich die französische Gesellschaft verändert. Die Angst ist da, das Chaos ist da. Gewalt zwischen unterschiedlichen Gemeinschaften, Gewalt zwischen der Polizei und der Jugend, Terrorismus, terroristische Anschläge von Franzosen gegen Franzosen. Ich denke, die Zeit ist reif für das, was wir sagen wollen – dass wir eine friedvolle Lösung für diese Spannungen brauchen.
Und genau deshalb erscheint dieselbe Person, Mélenchon, über den die Leute 2012 noch dachten „Wow, das ist zu radikal, zu subversiv“, als klug. Und zwar weil er es schon länger kritisiert, Erfahrung hat und über eine Methode verfügt, uns alle als ein Volk zusammenzubringen, die Idee hinter der verfassungsgebenden Versammlung ist es, die Nation an sich neu zu erfinden.
Was ist das Volk, was ist die Nation, le peuple? Es ist eine Gemeinschaft von Leuten, die zusammen Macht ausüben. Wenn du das nicht tust, bist du ein Schwarm von Individuen, die meistens um die Brocken kämpfen, welche ihnen das kapitalistische System übrig lässt, um Jobs, Zuwendungen und Hilfe.
Es gibt noch weitere wichtige Themen im Wahlkampf – die Umverteilung von Reichtum und soziale Gerechtigkeit – welche klassische Ansätze in Zeiten großer Ungerechtigkeit sind. Dann sind da noch Umweltschutz und die Bewahrung des einzigen Ökosystems, welches menschliches Leben erlaubt. Aber bevor wir uns diesen Themen zuwenden, müssen wir erst genug Macht ansammeln um wirklich einen Einfluss darauf zu haben. Dies ist die verfassungsgebende Versammlung.
Cole Stangler: Im Jahr 2012 kandidierte Mélenchon für die Linksfront, einem Bündnis aus linksorientierten Parteien. Jetzt ist er der Kandidat für France Insoumise, können Sie erklären, was das ist?
Raquel Garrido: Es ist eine basisorientierte Bürgerbewegung, unsere Ideologie ist der humanistische Populismus. In vielerlei Hinsicht haben wir die populistische Strategie von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau übernommen.
Das bedeutet aber auch zu hinterfragen: was ist Populismus? Er ist keine Regierungsform, er ist eine Agenda. Es ist eine Abgrenzungsstrategie zwischen „denen“ und „uns“. Das kann ein ethnisch reines „uns“ gegenüber Ausländern sein – und das ist rechtsextremer Populismus. Das kann aber auch ein „uns“ des Volkes gegen ein „die“ der Oligarchen sein. So ist unser Wahlkampf und unsere Bewegung, wir beabsichtigen auf diese Art und Weise etwas über die Parteien hinweg zu bauen. Es hat sich selbst nach einem Plan – ganz bewusst – aufgebaut, als etwas völlig anderes als das Parteienkartell, welches wir 2012 hatten.
In der Tat ist France Insoumise das Instrument, welches uns erlaubt die größte Sammlungsbewegung und die größte Effektivität beim Beeinflussen der Debatte in Richtung Volk versus Oligarchie zu schaffen. Eher als der Kampf links gegen rechts, was für viele Franzosen heutzutage nicht mehr viel bedeutet.
Cole Stangler: Was war Ihre Inspiration für dieses Projekt?
Raquel Garrido: Zuallererst Lateinamerika ab den späten 1990er Jahren, die Rückkehr des verfassungsgebenden Aspekts als Versuch Souveränität zu gewinnen. Das hatte zum Ende der 1990er Jahre hin und am Anfang der 2000er einen großen Einfluss auf uns, wir kannten die verfassungsgebende Versammlung als eine französische Erfindung. Jahrelang hatte schon niemand mehr solch eine Verfassung in Frankreich vorgeschlagen. Wir verstanden, dass der verfassungsgebende Prozess ein ancien régime abschuf und zwar in beiderlei Hinsicht, ökonomisch und politisch.
Mit dem Verschwinden des ancien régime – welches sie in Ecuador zum Beispiel partidocracia („Parteiokratie“) nannten – gab es dieselbe Teilung: die Oligarchen gegen die Bevölkerung. Die Hoffnung ist es, die Werkzeuge der alten Regierungsform mit eben dieser verschwinden zu lassen. Durch den konstituierenden Prozess werden andere Möglichkeiten erschaffen.
Wir haben das sehr nah beobachtet und in Frankreich hat es uns einige Zeit gekostet daraus zu lernen. Wir waren immer noch am zweifeln, gründeten die Linksfront… Doch nun denke ich, dass sie (die Lateinamerikaner) unser direktester Bezugspunkt sind, da die politischen Werkzeuge zur Mehrheitsgewinnung – egal ob in Venezuela, Ecuador oder Bolivien zum Beispiel – noch neu sind. Nicht die alten kommunistischen Parteien, oder die alten sozialdemokratischen Parteien, oder die gewerkschaftlichen Bewegungen. Dies ist keine Frage der Neustrukturierung oder Neuorientierung von Parteien in der Krise.
Wir haben es beobachtet, als die „Konstituante“ (Anm. d. R.: verfassungsgebende Nationalversammlung während der franz. Revolution; Synonym für ähnliche Versammlungen der späteren Neuzeit) mit der Finanzkrise den Atlantik in Richtung Island überquerte. Dann gab es noch den Arabischen Frühling und die Konstituante von Tunesien. Jene in Ägypten, die tragischer Weise massakriert wurde. Und dann zu guter Letzt, waren wir glücklich den Entstehungsprozess von Podemos beobachten zu können, da wir die gleichen historischen Wurzeln wie Podemos haben. Das kann man ruhig als Meilenstein des Populismus bezeichnen, einen humanistischen Populismus. Das ist selbst jetzt noch der Fall, auch wenn ihre Situation wesentlich komplizierter ist, seitdem Podemos doch zu Verhandlungen mit der Vereinigten Linken („Izquierda Unida“) zurückgekehrt ist.
So oder so sind wir sehr zuversichtlich, dass das was wir in Frankreich machen, wirklich eine neue Erfahrung sein wird. Das bedeutet, wir sind im Moment in einer Schaffensphase. Wir haben allgemeine Orientierungsmuster, doch es gibt nirgendswo etwas, worüber wir sagen könnten „Wir machen exakt das, was die da auch tun“. Wir nehmen die Verantwortung auf uns, Pioniere zu sein, etwas Neues zu kreieren.
Cole Stangler: Inwieweit hat France Insoumise einen linken Bezug?
Raquel Garrido: France Insoumise ist ein politisches Instrument, um die Sechste Republik zu erschaffen. Der Grund, warum wir die Sechste Republik wollen, ist, dass ihr Aufbau ein soziales und wirtschaftliches Projekt ist. In der alten Regierungsform machen die falschen Leute falsche Entscheidungen, zerstören den Planeten und verarmen Millionen. Deshalb ist sie (die Sechste Republik) im politischen Sinne des Begriffes auch nicht neutral. Sie ist weder unparteiisch noch nichtssagend, kein unbeschriebenes Blatt. Wir sagen, was wir wollen.
Zum Beispiel wenn Outsourcing betrieben wird, wollen wir, dass die Arbeiter in Form von Genossenschaften über ihre eigene Arbeitskraft verfügen. Das ist ein Beispiel für eine antikapitalistische Maßnahme. Oder eben auch wenn wir den Schutz des Ökosystems stärker priorisieren möchten, was auch die Einschränkung des allgegenwärtigen Schutzes von Eigentum miteinschließt. In unserem Programm kommen sehr markante linke Elemente vor, doch das Wort links taucht nicht auf.
Wir wenden uns nicht dem identitären Patriotismus all jener zu, die meinen, dass wir „die Linke retten“ müssen oder „linksgerichtet“ sein sollen. Das ist uns viel zu kleingeistig. Wir wollen gewinnen. Ich glaube, wir sind in dieser Hinsicht ähnlich wie Bernie Sanders, der auch nur selten über „die Linke“ sprach, sondern über den Teil der Bevölkerung, der gegen das eine Prozent oder die Milliardäre steht. Jeder weiß, wer Jean-Luc Mélenchon ist, woher er kommt, von welchem Standpunkt heraus er Dinge bespricht. Doch wir fordern nicht von den Leuten, dass sie sich erst als links bekennen, bevor sie an der Demokratie teilnehmen können.
Das hat auch Einfluss auf unsere Politik. Eine Forderung des 2017 Programms, die noch nicht im 2012 Programm stand, ist, dass auch zwischen den Wahlen Abgeordnete von ihrem Posten abberufen werden können. Das ist unser Weg Ethik in die Politik zu bringen, sodass der Politik Verantwortung gegeben wird. Diese Forderung gab es im Jahre 2012 noch nicht, da die Parteien, die die Linksfront bildeten, damit nicht einverstanden waren. Sie sagten: „Gewählte Vertreter an sich stimmen diesem Punkt nicht zu.“ Parteien neigen dazu, Gewerkschaften für Abgeordnete zu sein und nicht ein Rahmen, in dem sich die Bürger auf der Basis ihres politischen Willens selbst organisieren können.
Werden in der Sechsten Republik also noch Parteien existieren? Ja, es wird Formen der auf politischen Neigungen basierenden Organisationen geben, allein deshalb, weil es einen Austausch der Ideen geben muss. Wenn es keinen Wettstreit gibt, gibt es keine Demokratie. Aber nicht die Parteien der Fünften Republik, welche sich schon im Rückgang befinden. Sie werden zusammen mit der Fünften Republik sterben. Keine der heutigen Parteien hat ein grundlegendes Programm, sie sind nicht dafür gemacht. Sie sind für den Machterhalt innerhalb der Fünften Republik geschaffen. Es wird eine neue politische Landschaft geben. Es ist nicht der Plan, die alten Parteien umzustrukturieren oder zu reparieren, sondern die Bildung von neuen Bewegungen zu ermöglichen.
Cole Stangler: Wie sehen sie die Zukunft von France Insoumise als Bewegung?
Raquel Garrido: Die Bewegung hat eine historische Berufung: die Errichtung der Sechsten Republik. Denn wenn wir 130.000 Menschen haben, die mit Frankreichflaggen und Jakobinermützen vom Place de la Bastille zum Place de la République marschieren, mit all den Forderungen, die sich auf fundamentale Rechte wie Abtreibung oder begleiteten Suizid, sogar Internet- und Netzneutralität, Dinge, die aus einem bestimmten Zeitalter stammen, beziehen, dann spüre ich, dass die Leute für eine Neugründung kämpfen. Sie werden nicht zur alltäglichen Tagesordnung der Politik zurückkehren. Deshalb ist dies ein Kampf bis zum Sieg. Der schwierigste Teil unserer Arbeit, die Diskreditierung der Fünften Republik, ist bereits geschehen. Generell wird einem, wenn man jung ist, gesagt, dass man rechts, links oder zentralistisch sein kann, aber fasse ja niemals die Verfassung an, weil sie das Fundament ist. Erarbeitete politische Standpunkte, aber hinterfrage nicht die Legitimität unserer verfassungsrechtlichen Regeln. Doch sobald Teile der Bevölkerung über die Rechtmäßigkeit von diesem oder jenem Artikel der Verfassung diskutieren, bedeutet das, dass die Verfassung an sich auf den Status eines streitbaren Themas gesunken ist. Daraufhin verliert sie ihre verfassungsrechtliche Macht. Die soziowissenschaftliche Definition einer Verfassung ist die eines Konsenses, der über die Mehrheit hinaus geht. Sie ist nicht nur mehrheitlicher Natur. Sie geht über Mehrheiten hinaus. Sie ist ein Konsens. Doch in Frankreich haben wir das Gegenteil.
Man ist sich darüber einig, dass unser System eine präsidiale Monarchie ist. Niemand zweifelt das an. Bei Debatten zum Beispiel streitet niemand an, dass wir in einer präsidialen Monarchie leben. Die aktuelle Diskussion ist, ob wir die Verfassung aus sich heraus mit den gleichen Ministern ein bisschen verändern können, oder müssen wir sie neustarten? Was noch erbracht werden muss, ist das Verlangen nach einer verfassungsgebenden Nationalversammlung.
Das ist ein patriotisches Verlangen, eins um das ganze Volk zu versammeln, was in einer Gesellschaft wie unserer wesentlich schwieriger ist, sie ist beschädigt durch Armut, Gewalt, Hass und Rassismus. Es ist schwer, aber wir werden es bis dahin schaffen. Ansonsten werden es die Faschisten. Im Grunde gehört die Zukunft ihnen oder uns.
Cole Stangler: Wie können wir den Aufstieg des Front Nationals (FN) und Marine Le Pens erklären?
Raquel Garrido: Heutzutage gibt es einen Grundstock an Wählern, sehr kohärente Wähler, der die Probleme damit erklärt, dass es zu viele Immigranten gibt. Ihre Analyse ist sehr simpel: wenn die Immigranten hier nicht wären, gäbe es mehr Arbeit für mich, meine Kinder, etc. Es gibt auch andere Themen, die von Marine Le Pen vorgeschoben werden, wie die Kritik an der Europäischen Union, der Wettkampf mit östlichen Ländern, die Eurofrage. Doch die Kritik an der Europäischen Union gibt es auch bei anderen Kandidaten, unserem eingeschlossen. Letztendlich ist die Frage der Fremdenfeindlichkeit, die Le Pen gewählt werden lässt, das Konzept der Nation als ein eher ethnisches, statt zivilbürgerliches Projekt. Die Idee, dass wir kein Volk zusammen mit Muslimen, oder anderen Menschen nichtfranzösischen Ursprungs, sein können, zieht sich durch die Jahrhunderte. Es sind mythologisierte Vorstellungen – es gibt keine französische Ethnie.
Im Sinne von Laclaus und Mouffes Begriffsdefinition sind sie wirklich Populisten. Die Konstruktion eines „die“ und „wir“ mit sehr konkreten Ansichten darüber, wie was ist. Das „die“ sind die Flüchtlinge, welche nach ihrer Flucht vor Krieg ankommen, die wirtschaftlichen Einwanderer, die Muslime mit ihrem Recht auf Religionsfreiheit, etc.
Es gibt Menschen in Frankreich die stimmen dem zu. Ich würde nicht sagen, dass es 20 Prozent der Wähler sind. Wenn sie hohe Wahlergebnisse bekommen, zum Beispiel bei den Europawahlen, so ist dies das Ergebnis eines desaströsen Ausmaßes an Wahlenthaltung. Bei den Europawahlen bekamen sie 25 Prozent. Das ist ein sehr starker Wert. Aber es gab nur 4 Millionen FN-Wähler unter 60 Millionen. Ich glaube wirklich, die Herausforderung ist die Wahlbeteiligung. Sie profitieren von ziviler Apathie.
Es ist also in ihrem Interesse, dass es keinen Wahlkampf gibt. Sodass jene, die von der Politik angeekelt sind, es auch bleiben. Die Voraussetzungen sahen gut für sie aus: es gab die Situation, dass der Kandidat der Konservativen durch einen Skandal beschmutzt wurde, während die Sozialistische Partei (PS) ein abschreckendes Spektakel war, mitsamt ihres Betruges und ihrer gebrochenen Versprechen. Sie dachten also, dass sie sich ebenfalls (Anm. d. R.: wie France Insoumise) aus der Sache raushalten könnten. Die Leute beobachteten all dies aus der Entfernung und dachten sich, was ein furchtbares Gezanke, ich werde zuhause bleiben. Das war im Grunde der Wahlkampf vom FN. Er geht für den Wahlkampf nicht zu den Leuten, bringt Debatten nicht voran, hat keine Versammlungen, um die Bürger um sich zu scharen. Er verfolgt die Strategie, die eigene Bedeutung spürbar zu machen, den heimischen Stammwählern eine relative Wichtigkeit zu geben. Und diese Basis hat ein ideologisches Fundament.
Es hat schon immer Rechtsextreme in Frankreich gegeben. Und ja, sie sind nun sehr stark rechts. Unsere Aufgabe ist es, diese Leute mit den nichtfaschistischen Wählern zu überdecken. Und das ist es, was wir anstreben. Als wir bei der Eröffnung des Wahlkampfes nicht nur die Linke, sondern jeden der empört ist, angesprochen haben, haben wir eine effektive antifaschistische Strategie aufgebaut.
Als Kampagne orientieren wir uns an den Unabhängigen, den „Angewiderten“, wir müssen mit ihnen reden. Zum Beispiel ist Jean-Luc Mélenchon der einzige Kandidat, der dermaßen viel über Arbeit spricht. Wirklich, jenseits der Tatsache, dass wir einfach unser Leben leben, gibt es Dinge, die von Menschen gemacht wurden – von Arbeitern. Das ist Arbeit. Von diesem Standpunkt heraus verfolgt Jean-Luc Mélenchon einen Diskurs, der sehr nah an der Arbeiterklasse ist. Doch wir sprechen zu ihnen nicht als Linke, sondern als Arbeiterklasse. Über die Linke zu sprechen ist nicht dasselbe, wie über Arbeit zu sprechen. Dennoch spricht er sehr viel über die Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse.
Cole Stangler: Hat das ihre Meinung über ein Zustoßen Benoît Hamons beeinflusst?
Raquel Garrido: Ja, denn unsere Strategie mit den empörten Leuten zu sprechen, welche uns zum Sieg führen kann, würde entwertet werden, wenn wir einen jener Leute an Bord nehmen, von dem die Leute angeekelt sind. Und die Sozialistische Partei (PS) stirbt zusammen mit der Fünften Republik. Das ist nicht die Schuld von Benoît Hamon, der eine gute Person ist. Es ist nicht seine Schuld, es ist das Ende eines Zyklus. Also haben wir zwischen der Fünften und Sechsten Republik zu entscheiden. Wir würden unsere Siegeschancen kompromittieren, wenn wir uns entschärfen, um den PS-Soldaten zu retten.
Vielleicht würden wir einen oder zwei Prozentpunkte vom Mitte-links Lager gewinnen, doch würden wir auch jede Möglichkeit verlieren, all jene anzusprechen, die sich nicht zu den Parteien gehörig fühlen. Doch unter ihnen liegt unsere Chance zu siegen. Unser Ziel ist es zu siegen und nicht die Linke umzustrukturieren oder die Führerschaft über sie zu übernehmen. Wäre unser Ziel die Macht über die Linke an uns zu reißen, würden wir das tun. Doch wir wollen die Präsidentschaftswahlen gewinnen. Also müssen wir zu den Enttäuschten sprechen. Und wenn wir zu ihnen gehen und sagen, guck, jetzt sind wir Freunde von Valls und Hamon und all den anderen, dann werden sie nicht länger mit uns sein.
In der Realität steht diese Frage gar nicht zur Disposition. Die PS hat niemals über eine Aufgabe zu unseren Gunsten nachgedacht. Würden sie das tun, stände die Frage natürlich in einem anderen Licht. Doch sie haben sich niemals dementsprechend positioniert: sie dachten immer, wir müssten zu ihren Gunsten aufgeben. Sogar jetzt -und sie glauben den Umfragen, dass sie bei 8 Prozent und wir bei 19 Prozent stehen – hören sie nicht auf zu glauben, dass wir uns hinter ihnen einordnen müssen.
In den Parlamentswahlen ist es sogar noch schlimmer. All die sozialistischen Minister, die die Politik der Regierung getragen haben, haben in den Augen der Bevölkerung jegliche Legitimation verloren. Aufgrund dessen sind unsere Kandidaten Kandidaten, die die Sechste Republik unterstützen. Das ist kein „Flügelkampf“ zwischen den wahren Linken und den falschen Linken, oder zwischen Verrätern und Vertretern der wahren Lehre. Das wäre gauchiste; das wäre ein äußerst linker Wahlkampf. Und wir sind alles andere als das. Der harte Kern kam mit Mélenchon aus der Sozialistischen Partei, unser Ziel war es immer zu regieren. Und wir bereiten diesen Präsidentschaftswahlkampf seit 2004 vor.
Cole Stangler: Im Wahlkampf schlagen sie einen kritischen Umgang mit der Europäischen Union vor – einen Plan A der Reformierung von innen heraus und einen Plan B sie im Notfall zu verlassen, falls das nicht funktionieren sollte.
Raquel Garrido: Jean-Luc Mélenchon war der erste, der eine wirkliche Antwort für das hatte, was Tsipras in Griechenland passiert ist. Niemand hatte vorher den Gedanken formuliert, dass man, bevor man eine Verhandlung anfängt, auch psychologisch bereit sein muss sie abzubrechen. Andererseits bist du nicht wirklich am verhandeln. Das ist der Ursprung von Plan B.
Das ist ein ziemlich grundlegender Vorschlag. Wenn man nach einem Job sucht, oder eine Gehaltserhöhung möchte und man sagt: „Ich werde solange nicht arbeiten, bis du mir 5.000 Dollar im Monat zahlst“, doch in Wirklichkeit bist du bereit für 1.000 Dollar zu arbeiten, dann ist das keine Verhandlung. Wenn du dir insgeheim jedoch sagst, dass du nicht weniger als 3.000 Dollar akzeptieren wirst und ansonsten gehst, dann verhandelst du wirklich, da dein Gegenüber versteht, dass es dich sonst verliert. Das ist auf einer alltäglichen menschlichen Ebene nachvollziehbar, doch niemand bei der europäischen Linken hat sich ernsthaft darüber Gedanken gemacht, wie man dies auf europäischer Ebene anwenden kann. All die großen Wortführer dachten sich: „Wir werden verhandeln, aber wir werden auf jeden Fall bleiben.“
Einen Wahlkampf auf der Basis eines Plan B zu führen ist ein Aufbruch und es ist wichtig. Plan A behandelt schon die finanzielle und humanitäre Übereinstimmung, das bedeutet einen Rahmen zu haben, der Arbeiter nicht in einen allgemeinen Wettkampf setzt und trotzdem eine bessere Lebensqualität für alle erlaubt. Sollte das nicht machbar sein, werden wir dieselbe Sache schaffen – einen abgestimmten Rahmen – und zwar mit denen, die bereit sind es zu tun. Und das meint prinzipiell die südlichen Länder Europas ins Visier zu nehmen. Die Finanz- und Wirtschaftspolitik, sowie öffentliche Investitionen, sollen wieder verstärkt in den Fokus der öffentlichen Debatte gebracht werden. Wir sind Herausforderungen, wie der ökologischen Frage, ausgesetzt, die von planetarem Belang sind. Gerade deshalb müssen wir supranational agieren.
Doch unsere aktuellen Erfahrungen mit der Europäischen Union sind Beleg dafür, dass wir uns zuerst den Problemen mit unserer eigenen inländischen Oligarchie annehmen müssen. Anstatt eine Trennlinie zwischen denen zu ziehen, die die EU verlassen wollen und denen, die bleiben möchten – und so tun es im Moment die Rechtsextremen – müssen wir einen Trennstrich zwischen dem französischen Volk und den Oligarchen ziehen. Die extreme Rechte möchte die EU einfach nur zerstören, wir möchten aufzeigen, was innerhalb von ihr falsch läuft.
Cole Stangler: Kritik an dieser Kampagne gibt es, da sie nationalistischer sei als zuvor. Vor ein paar Wochen kommentierten viele, dass es beim Insoumise Marsch vom Place de la Bastille zum Place de la République so viele Frankreichflaggen gegeben hat. Könnten Sie sich zu diesem Wandel äußern?
Raquel Garrido: Wir sind patriotisch, nicht nationalistisch. Patriotismus heißt das eigene Land zu lieben, während Nationalismus den Hass gegenüber Anderen beinhaltet. De facto ist das die literarische und politische Definition, das ist der Unterschied. Die Rechtsextremen sind nationalistisch, wir sind patriotisch. Patriotismus ist das Einfühlungsvermögen gegenüber den eigenen Landsmännern. Wir sind wirklich davon überzeugt, da unsere Nation seit der Französischen Revolution eine Zivilnation ist, sie wird nicht durch irgendeine Religion oder Hautfarbe oder gar Sprache definiert, sie ist universal. Unsere Heimat [patrie] ist republikanisch.
Unser Patriotismus ist universaler Natur. Es ist ein Patriotismus der Aufklärung. Wir denken, dass exakt das, was unseren Patriotismus ausmacht, die Stärkung des Zivilrechtes sich selbst zu regieren ist. Das, was unsere nationale Souveränität ausmacht, ist in erster Linie eine Volkssouveränität. Vor allem anderen ist es die Frage nach der politischen Macht des Volkes. Und zum Glück für uns, sind diese beiden Dinge in unserer nationalen Geschichte miteinander verbunden. Deshalb sind wir davon überzeugt, dass die Rechtsextremen nicht für wirkliche Souveränität sind, da sie lediglich die National- aber nicht die Volkssouveränität unterstützen. Es geht um Marine Le Pens Macht, nicht die der französischen Bevölkerung.
Cole Stangler: Und was hat es mit dem Singen der „Marseillaise“ am Ende jeder Kundgebung, anstatt wie früher „Der Internationalen“, auf sich?
Raquel Garrido: Am Place de la République hat Jean-Luc zum Ende hin die Internationale gesungen. Es wurde nicht über die Lautsprecher abgespielt. Doch letzten Endes hat er angefangen zu singen und es hat sich verbreitet, sodass die Leute ein bisschen mitgesungen haben.
Es geht uns nicht darum, ein Stück Geschichte zu entsorgen. Doch es ist wahr, dass wir ein paar Probleme bemerkt haben. Im Jahre 2012 war unser Wahlkampf strahlend rot und „Linksfront“ stand überall in großen Buchstaben. Nun treten wir mit blauen und grauen Pastelltönen auf, das Logo ist [der griechische Buchstabe] Phi, was für Philosophie, die Liebe zum Wissen, steht. Wir haben andere Codes, weil wir denken, dass es dringend notwendig ist.
Dieser Artikel erschien im Jacobine Mag und wurde von Felix Wittmeier übersetzt.