Freiheit und Toleranz statt Burkaverbot

Seit 2011 ist in Frankreich ein Gesetz in Kraft, das die Verdeckung des Gesichts in der Öffentlichkeit unter Androhung einer Strafe verbietet. Obwohl immer wieder betont wird, dass das Gesetz auch Strumhauben und andere nicht-religiöse Kleidungsstücke betrifft, ist klar, dass der französische Gesetzgeber vor allem auf islamische Kleidungstücke wie die Burka und den Niqab abgezielt hat. Dies zeigt sich auch daran, dass das Gesetz gemeinhin als „Burka-Verbot“ bekannt ist. Frankreich befindet sich nun in der fragwürdigen Gesellschaft von Saudi Arabien, dem Iran und anderen Staaten, die Frauen dazu zwingen, sich in einer bestimmten Weise zu kleiden. Eine junge Französin muslimischen Glaubens wollte das nicht akzeptieren und zog vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, der das französische Gesetz im vergangenen Juli bestätigte und damit einen besorgniserregenden Präzedenzfall geschaffen hat, der die europäischen Wert der Toleranz, kulturellen Vielfalt und individuellen Freiheit gefährdet, auf die wir zurecht stolz sind.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Debatte um die Burka nun auch unser Land erreicht hat. „Die Burka-Vollverschleierung steht für mich nicht für religiöse Vielfalt, sondern für ein abwertendes Frauenbild,“ sagte CDU-Vize Julia Klöckner zur Begründung ihrer Forderung nach einem Burka-Verbot in Deutschland in einem Interview mit der Rheinischen Post am vergangenen Montag. Außerdem gehöre es zu einer offenen Gesellschaft, jemandem offen ins Gesicht schauen zu können. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Axel Schäfer schloss sich dieser Forderung am Dienstag an, da die Burka „nicht zu unserer Kultur“ gehöre.

Es mag sein (oder auch nicht), dass die Burka nicht zu unserer Kultur gehört, aber was hat das mit der Begründung eines gesetzlichen Verbots zu tun? Ich nehme an, die indische Küche gehört auch nicht zu „unserer Kultur“. Ist das ein Grund, Samosa zu verbieten? Ist unsere kulturelle Identität so schwach und zerbrechlich, dass sie durch eine verschwindend geringe Zahl vollverschleierter Frauen gefährdet ist?

Es ist auch wahr, dass Gesichtsausdrücke eine wichtige Rolle in der zwischenmenschlichen Kommunikation spielen, aber daraus folgt nicht, dass man sich mit einer vollverschleierten Frau nicht gut unterhalten kann. Außerdem gibt es kein Recht darauf, sich mit jemandem von Angesicht zu Angesicht zu unterhalten. Zu einer offenen Gesellschaft gehört auch das Recht des Einzelnen, nicht oder nur begrenzt teilzunehmen. Ein Burka-Verbot würde nicht zum Aufbau einer offeneren Gesellschaft beitragen, sondern ganz im Gegenteil dem interreligiösen Dialog schaden und Muslime, die bereits genug mit Vorurteilen zu kämpfen haben, weiter stigmatisieren.

Oft wird behauptet, dass Frauen gezwungen werden, die Burka zu tragen. Ein Burka-Verbot soll diesen Frauen helfen. Wie das funktionieren soll, ist allerdings ein Rätsel. Für Frauen, die von Familienmitgliedern gezwungen werden, in der Öffentlichkeit eine Burka zu tragen, würde ein Verbot wahrscheinlicher Hausarrest als mehr Freiheit bedeuten. Abgesehen davon, ist es bereits jetzt ungesetzlich, eine Frau zum Tragen einer Burka zu zwingen. Die Frauen hingegen, die sich selbstbestimmt zum Tragen der Burka entschieden haben, stünden vor der Wahl, sich zu beugen und ihre Garderobe vom Staat diktieren zu lassen, oder zu riskieren, dass sie von Gesetzeshütern und Hobbypolizisten belästigt werden.

Schließlich wird noch manchmal behauptet, dass Vollverschleierung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit nicht toleriert werden kann. Tatsächlich haben beispielsweise im Jahr 2010 zwei in Burkas gekleidete Männer ein Postamt in einem Pariser Vorort ausgeraubt. Die Wachleute hatten die Männer für muslimische Frauen gehalten und ihnen deshalb unbekümmert Eintritt gewährt. Drinnen haben die beiden Männer dann Pistolen unter ihren Burkas hervorgezogen. Bestenfalls eignen sich solche Anekdoten, um ein Vollverschleierungsverbot an sicherheitsrelevanten Orten wie Ämtern, Banken und Flughäfen zu rechtfertigen, wo muslimische Frauen selbst nach Meinung sehr konservativer islamischer Gelehrter ihr Gesicht sowieso zeigen dürfen. Die Tatsache, dass ein Vollverschleierungsverbot an bestimmten Orten vernünftig und erforderlich ist, ist jedoch kein Grund dafür, Vollverschleierung an allen öffentlichen Orten zu verbieten. Ein 18-Jähriger am Steuer eines Autos stellt sicherlich eine größere Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar als eine muslimische Frau in einer Burka auf dem Gehweg.

Burka-Verbote entsprechen keinem realen Sicherheitsbedürfnis, untergraben die Rechte von Frauen, die freiwillig die Burka tragen, tragen wenig zum Schutz derer bei, die zum Tragen der Burka gezwungen werden, widersprechen der liberalen Tradition Europas, verhärten Vorurteile gegenüber Muslimen und erschweren das friedliche Zusammenleben.

Das französische Burka-Verbot, wie auch das Schweizer Minarettverbot, ist Teil eines wachsenden Klimas des Misstrauens gegenüber „anderen“ in Europa, insbesondere Muslimen. Ich hoffe, dass sich Deutschland diesem Klima entgegenstellt, dem französischen Beispiel nicht folgt und die unsinnige Debatte über ein Burka-Verbot wieder so schnell beendet wie sie begonnen hat.

Rainer Ebert ist Diplom-Physiker und arbeitet derzeit an einer moralphilosophischen Dissertation zum Tötungsverbot an der Rice University im amerikanischen Texas. Er ist außerdem Associate Fellow am Oxford Centre for Animal Ethics und schreibt regelmäßig Kommentare für Tageszeitungen in Bangladesch. Als Aktivist setzt er sich für die Verwirklichung von Menschen- und Tierrechten ein. Er betreibt eine Internetseite unter http://www.rainerebert.com/, auf der seine Artikel zu den Themen Philosophie, Menschenrechte, Tierrechte, Islam und Bangladesch gesammelt sind.

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