Vor dem Hintergrund unserer bisherigen Ausführungen stellen wir folgende Frage: Ist die Auseinandersetzung mit Rassismus mittels starrer sprachpolitischer Vorgaben, Dogmen und Gebote, wie der Ächtung der „N-Wörter“, wirklich hilfreich für die Bekämpfung von Rassismus? Soziale Bewegungen, welche die Sprachpolitik in den Mittelpunkt stellen, können zwar der Anfangspunkt einer tiefergehenden Politisierung darstellen, gehen aber i.d.R. selten über Sprachpolitik hinaus. (Der erste Teil des Beitrags findet sich hier, der zweite hier)
Wir beabsichtigen keineswegs, die sprachliche Ebene gegenüber materiellen Verhältnissen auszuspielen. Wir denken aber nicht, dass die Reproduktion von als rassistisch empfundenen Bezeichnungen zwangsläufig im Widerspruch zu Emanzipationsprozessen steht oder dass gesellschaftspolitische und rechtliche Sanktionierungen ausschließlich im Ermessen der Betroffenen liegen sollten.
Gleichzeitig bleibt die semantische Ebene essentiell, da der Rassismus nie ohne seine sprachlichen Ausdrucksformen und ideologischen Versatzstücke auskommt. Die steigende Popularität von Begriffen wie „Überfremdung“, „Umvolkung“ (auch als „Bevölkerungsaustausch“ oder „großer Austausch“ bekannt), „Flüchtlingswelle“ oder „-invasion“ und der jüngste Skandal um die von AfD-Politiker:innen, Mitgliedern der Identitären Bewegung sowie einem CDU-Politiker, laut Recherchen des Medienunternehmens Correctiv, geforderten „Remigration“ (Deportation) von unerwünschten Ausländer:innen und nichtweißen Deutschen sind aktuelle Beispiele dafür. In diesem Kontext sind nicht notwendigerweise die betreffenden Ausdrücke schlechthin, sondern vielmehr der jeweilige individuelle oder kollektive Gebrauch dieser Begriffe konstitutiv. Rechtsradikale versuchen, negativ besetzte Begriffe so medienwirksam und tiefgreifend wie möglich zu fixieren, um dadurch die Definitionsmacht zu erlangen. Im Gegensatz zur derzeit statisch gehandhabten Sprachpolitik kann eine radikale Sprachkritik die umnebelnden Inhalte rassistischer Aussagen deutlich feinfühliger dechiffrieren. Denn die möglichst ergebnisoffene Forschungsweise, die vielen sprachkritischen Ansätzen zugrunde liegt, kann das asymmetrische Wechselspiel von hegemonialen Macht- oder Herrschaftsverhältnissen und opponierenden Diskursen und sozialen Praktiken adäquater einordnen und dadurch auch effektiver zur Bekämpfung des Rassismus beitragen.
In der Praxis könnte dies bedeuten, das Augenmerk nicht hauptsächlich, geschweige denn ausschließlich auf performative Äußerungen, Symbole, Weltanschauungen, Diskurse und Repräsentationen zu lenken, sondern gleichermaßen auf die mit ihnen eng verwobenen konkreten ökonomischen, juristischen und politischen Praktiken. Damit meinen wir z.B. die 2023 erfolgte Verschärfung der EU-Asylverordnung, die auch in Deutschland zu einer zunehmenden Prekarisierung von Geflüchteten und Migrant:innen führt. Die Tatsache, dass über 28.000 Menschen seit 2014 bei der Flucht über das Mittelmeer – auch durch unterlassene Hilfeleistung und illegale sog. Pushbacks der EU – ums Leben kamen, würde nach dieser Prioritätensetzung größerer Aufmerksamkeit und dringlicherer Lösungsansätze bedürfen als die Durchsetzung unverrückbarer sprachpolitischer Richtlinien. Dies betrifft ebenso die von Politik, Medien und Teilen der Gesellschaft auch diskursiv legitimierten Verhältnisse in Geflüchtetenunterkünften. Dazu zählen weiterhin die Vernachlässigung der Abschiebung von über 150.000 Menschen in den letzten zehn Jahren oder die Diskriminierung von Zehntausenden von der Abschiebung bedrohten Personen und fast 300.000 rechtlich benachteiligten, ausreisepflichtigen Menschen, die lediglich eine Duldung besitzen. Eine apodiktische, engstirnige und kontextbefreite Sprachpolitik läuft zudem Gefahr, dass Sprechakten wie der Benutzung des Ausdrucks N.1 mehr Bedeutung beigemessen werden könnte als den politisch und gesellschaftlich oft für gerechtfertigt erklärten Doppelstandards bei der Behandlung weißer und nichtweißer Geflüchteter und, nicht zuletzt, den vom Westen mitverursachten Fluchtbewegungen als Folge von Imperialismus, Krieg und Neokolonialismus.
Diskursen und Praktiken des staatlich verankerten, politisch durchgesetzten, mainstream-medial reproduzierten und sich in der Alltagspraxis herauskristallisierenden strukturellen Rassismus gegenüber Nichtweißen könnten vermehrt Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen und antirassistischer Aktivitäten sein. Dieser kommt in der Verwaltung, Polizei, Justiz, Bundeswehr, in Bildungseinrichtungen, Krankenhäusern, der Gesundheitsversorgung und anderen Institutionen vor. Anstatt der rigiden Sprachpolitik dermaßen viel Platz einzuräumen, plädieren wir dafür, sozio-ökonomischer Diskriminierung (z.B. in Schulen und Universitäten oder auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt) und den sie rechtfertigenden Diskursen mehr Beachtung zu schenken. Hierbei ist es wichtig, auch die gesetzliche und politische Benachteiligung (z.B. bei Wahlen) und ihre entsprechenden Begründungen unter die Lupe zu nehmen. Alltägliche, verbale Beleidigungen, körperliche Angriffe und die grassierende praktische und diskursive Gewalt gegen Migrant:innen und Nichtweiße verdienen mehr Aufmerksamkeit. Dem äußerst problematischen politischen, medialen und behördlichen Umgang mit Rechtsextremismus, mit den Opfern rechter Gewalt (z.B. im Fall des antimuslimischen Terroranschlags von Hanau 2020) und mit politisch verfolgten Geflüchteten sollte deutlich mehr kritisches Interesse und Gewicht verliehen werden. Auch die staatlich behinderte Aufarbeitung der Verwicklung des Verfassungsschutzes in die NSU-Morde (2000–06), die bis heute straflos gebliebenen Tötungen Schwarzer durch mutmaßlich rassistische Polizeigewalt (z.B. Oury Jalloh 2005 in Dessau, Mouhamed Dramé 2022 in Dortmund, K.I.M. Mutombo 2022 in Berlin oder Lamin Touray 2024 in Nienburg) und die gängige Praxis des Racial Profiling müssten stärker ins gesellschaftliche Bewusstsein rücken. Zumal die heutigen Rassismen in vielen wirtschaftlichen, politischen und institutionellen Formen und Facetten subtiler auftreten und beinahe ausnahmslos auf eben jene Wörter verzichten, die Phänomene, Entwicklungen und Strukturen als eindeutig rassistisch markieren und bloßstellen würden.
Besonders deutlich werden die zugrunde liegenden Widersprüche und Doppelstandards der gegenwärtigen Sprachpolitik, wenn wir uns Folgendes vor Augen führen: Die afrodeutsche Sozialministerin von Schleswig-Holstein, Aminata Touré (Bündnis 90/Die Grünen), verurteilt zwar die Reproduktion des Wortes N.1/?, arbeitet aber zugleich für eine Partei, welche die Ankündigung des Bundeskanzlers, abgelehnte Asylbewerber:innen „im großen Stil“ abschieben zu wollen, nunmehr mit dem neuen Rückführungsgesetz tatsächlich in die Tat umsetzen wird. Darüber hinaus verteidigte Touré jüngst die versuchte Abschiebung von zwei jungen afghanischen Männern (von 19 und 22 Jahren) aus einem Kirchenasyl in Schwerin nach Spanien durch 40 Polizeibeamt:innen, darunter ein Spezialeinsatzkommando. Hinzu kommt, dass Touré zusammen mit dem afrodeutschen Berliner Kultursenator Joe Chialo (CDU) an vorderster Front derjenigen nichtweißen Politiker:innen steht, die anti-palästinensischen Rassismus befördern und Stimmen ausgrenzen, die sich gegen die aktuelle israelische Kriegspolitik, Israels rechtsextreme Regierung und ihre Verstöße gegen internationales Recht oder die Besatzungspolitik aussprechen und die zudem bestrebt sind, die Kunst- und Redefreiheit weiter einzuschränken.[1] Rassismussensible Sprachpolitik und die Kontinuitäten rassistischer Diskurse und Praktiken können also durchaus Hand in Hand gehen.
Wir denken allerdings weder, dass eine Tabuisierung von „N-Wörtern“ noch ihre unbedachte und exzessive Verwendung gegenüber Betroffenen angemessen ist.[2] Mit anderen Worten: Neben der Betroffenenperspektive spielen u.a. sowohl der subjektive Zweck des Gesagten als auch die objektive Außenwirkung (bzw. der Empfänger:innenhorizont) – die sich dynamisch je nach Ort und Zeit verändern kann – bei der angemessenen Einschätzung von Aussagen zentrale Rollen.[3] Zudem bleibt in dieser Diskussion nicht selten die qualitative Unterscheidung zwischen Gebrauch und Erwähnung unberücksichtigt. Hierbei wird gelegentlich außer Acht gelassen, ob Wörter oder Begriffe metasprachlich verwendet werden, also um über sie zu sprechen, oder ob sie objektsprachliche Anwendung finden, wie z.B. in den Zitaten von Leibniz und Marx, wo die Wörter N.1/2 tatsächlich gebraucht und nicht lediglich erwähnt werden. In der sprachphilosophischen Unterdebatte, die unter dem Titel „slurs under quotation“ geführt wird, werden diese Unterscheidungen zwar getroffen. Die Wörter N.2/4 werden allerdings als immer schon beleidigend vorausgesetzt, ohne, wie wir finden, dies nachvollziehbar zu belegen oder die räumlich-zeitlichen Veränderungen hinreichend zu berücksichtigen. Tendenziell gilt hier die bloße Erwähnung der Ausdrücke N.2/4 bereits als beleidigend. Der Verzicht auf ausgeschriebene „N-Wörter“ wird insbesondere damit begründet, dass der Neologismus „N-Wort“ zur Umschreibung bekanntermaßen zur Verfügung stehe. Auch hier wird im Voraus ahistorisch davon ausgegangen, dass der Neologismus „N-Wort“ a priori (also bereits von Vornherein) einen „euphemistischen Kode“ darstellt, der die Tabuisierung der ausgeschriebenen „N-Wörter“ bezwecken sowie einem eventuellen Trigger-Effekt entgegenwirken soll.
Auch wenn wir identitätspolitischen Strömungen kritisch gegenüberstehen, verstehen wir uns ausdrücklich als Teil einer antikolonialen und antirassistischen Bewegung. Und obwohl wir selbst als Nichtweiße von unterschiedlichen Rassismen betroffen sind, scheint uns die heutige, panikartige Aufgeregtheit und Empfindlichkeit bei der Aussprache von zu Begriffen mutierten Wörtern in vielerlei Hinsicht problematisch. Dennoch finden wir das Beharren darauf, „N-Wörter“ unreflektiert, geschweige denn als Fremdbezeichnung zu verwenden keinesfalls weniger problematisch. Wir sind im Grunde genommen weder an Deutungshoheit noch an der Durchsetzung von als „politisch korrekt“ empfundenen Ausdrücken interessiert. Das bedeutet auch, dass wir uns gegen eine pauschale Vermengung von Wissenschaft und Aktivismus verwahren, selbst wenn wir die Forderungen einer wertorientierten Wissenschaftspraxis teilen. In letzter Instanz sind zwar weder Wertfreiheit noch Objektivität tatsächlich einlösbar und auch Wissenschaft und Aktivismus nicht immer klar voneinander zu trennen. Trotzdem versuchen wir die Geschichte so präzise wie möglich abzubilden und zu analysieren, ohne dabei schon von Vornherein eine (sprach)politische Agenda zu verfolgen, die, wenn überhaupt, ohnehin erst am Ende des Forschungsprozesses stehen sollte. Sozio-ökonomische, politische und kulturelle Veränderungen sind auf kritische Wissenschaft und diese wiederum auf die Analyse und Kenntnis historischer Texte und Artefakte angewiesen. Daher erfordert eine kritische wissenschaftliche Praxis auch die Möglichkeit, Werke unverfälscht rezipieren zu können.
Wir haben uns bemüht zu begründen, weshalb eine Rücksichtnahme auf heutige Befindlichkeiten und Sensibilitäten in Bezug auf die Reproduktion besagter Wörter weder dazu beiträgt, ein Geschichtsverständnis ergebnisoffen zu entwickeln noch die gesellschaftlichen Verhältnisse diskriminierter Gruppen adäquat und differenziert darzustellen, geschweige denn wesentlich zu ihrer Verbesserung beizutragen. Denn solange Nichtweiße im „Globalen Süden“ tendenziell in deutlich ärmeren Verhältnissen leben müssen und stärkerer Unterdrückung ausgesetzt sind als ihre Gegenüber im „Globalen Norden“ und solange unzählige nichtweiße Menschen auch im sog. Westen spürbar benachteiligt werden, werden der Rassismus und das kulturelle Überlegenheitsgefühl in den Köpfen vieler Menschen immer wieder aufs Neue reproduziert – ganz unabhängig von einem sensiblen Sprachgebrauch. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Populist:innen von rechts bis links wie Björn Höcke, Friedrich Merz und Sahra Wagenknecht einen Keil treiben zwischen die „inländische“ Arbeiter:innenschaft einerseits und „ausländischen“ Lohnarbeiter:innen andererseits. Letztere sind oftmals auch noch gezwungen für weniger Geld zu arbeiten und werden dadurch schnell zu Sündenböcken deklariert.
Des Weiteren wird der Rassismus weder aufgehoben noch wesentlich geschwächt, wenn eine als rassistisch empfundene Wortwahl ausgetauscht oder eine abgekürzte Form verwendet wird. Wenn also von Schwarzen oder auch von N.1-5 gesprochen wird, dann ist damit keineswegs auszuschließen, dass ähnlich negative Konnotationen und Assoziationen hervorgerufen werden wie mit den ausgeschriebenen „N-Wörtern“. Der Kontext, aus dem ein Wort oder auch ein Begriff seine Bedeutung bezieht, bleibt weiterhin bestehen und verändert sich nicht durch einen bloßen Austausch. Vielleicht wäre es trotzdem hilfreich, wenn aufgrund der mittlerweile verstärkt empfundenen Beleidigungen und Schmerzen, die bei einigen durch ihre Reproduktion ausgelöst werden, Sprecher:innen, wie z.B. Dozierende, bereits im Vorhinein über den Zweck der Reproduktion informieren würden.
Wie ist es allerdings einzuschätzen, wenn „N-Wörter“ von Sprechenden und Schreibenden reproduziert werden, um kritisch auf den nackten Rassismus aufmerksam zu machen? Dies führt in letzter Zeit zunehmend dazu, dass die heutige (häufig sprachpolitisch kolorierte) Perspektive ahistorisch auf die Vergangenheit übertragen wird und dadurch Missinterpretationen entstehen, die z.B. zu Protest bei Studierenden und zu Konsequenzen für die Dozierenden führen. Liegt dann das Problem nicht eher bei der zugrundeliegenden Voreingenommenheit und der mangelnden Bereitschaft der Hörenden/Lesenden, sich von sprachlichen Ausdrucksweisen zu distanzieren als bei den Sprechenden/Schreibenden oder gar den verwendeten Ausdrücken? Dies lässt zugegebenermaßen die Frage nach dem Umgang mit „epistemischen Verletzungen“ unbeantwortet. Dennoch: Wenn wir als Sprecher:innen mehr auf die Sensibilitäten der Betroffenen Rücksicht nehmen als auf die akkurate Reproduktion von Aussagen, öffnen wir damit nicht Tür und Tor für die Rücksichtnahme auf alle möglichen (auch „unberechtigten“) Sensibilitäten (z.B. von Kapitalist:innen, Faschist:innen oder Islamist:innen)? Dass die sprachkritischen Forderungen diskriminierter Gruppen i.d.R. „berechtigter“ sind als die von Privilegierten, da Erstere gewöhnlich stärkerer Veranderung (Othering), Abwertung und Unterdrückung ausgesetzt sind, leuchtet sicherlich ein. Das Zugeständnis an sprachpolitische Sprechgebote birgt dennoch Gefahren für die Ausübung der Rede- und Ausdrucksfreiheit und dadurch auch für die adäquate (historische) Analyse von Aussagen.
Der inflationäre Gebrauch des Rassismusbegriffs und die Verwertung der Rassismuskritik
Im 17. und besonders 18. Jahrhundert trugen die europäischen Aufklärungen maßgeblich zur Ausformulierung des Konzepts der „Rasse“ bei. Historisch erwuchs der Rassismus v.a. im Zuge globaler Machtungleichheiten. Der Kolonialismus bediente sich des Rassismus, verbreitete ihn und entwickelte ihn weiter, um globale Herrschaftsverhältnisse aufrechtzuerhalten und zu legitimieren. Rassismus wird vornehmlich sozial, wirtschaftlich, politisch, institutionell und kulturell produziert und reproduziert. Dabei werden Menschen in vermeintlich Über- und Unterlegene eingeteilt. Die Bekämpfung rassistischer Strukturen setzt unserer Einschätzung nach die ungeschminkte Offenlegung ihrer Geschichte voraus (v.a. in Bezug auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und Institutionen) und der aus der geschichtlichen Entwicklung heraus erkennbaren gesellschaftlichen Mechanismen. Die Einforderung und uneingeschränkte Anerkennung der Würde und Menschenrechte der Betroffenen mithilfe der Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, dem Abbau rassistischer Strukturen und nachhaltiger Emanzipationsprozesse spielen dabei eine entscheidende Rolle.
Eine Reihe von Rassismusexpert:innen und kritischen Kommentator:innen, darunter jüngst auch der afroamerikanische Literaturwissenschaftler Tyler A. Harper, weisen zu Recht auf Folgendes hin: Der Rassismusbegriff wird aufgrund seiner inflationären Verwendung – z.B. durch akademische Superstars wie Ibram X. Kendi – zunehmend analytisch unscharf. Das liegt u.a. auch daran, dass keine Nuancierungen zwischen den sich zwar teilweise überschneidenden, aber dennoch unterschiedlichen Phänomenen wie z.B. Ethnozentrismus, Eurozentrismus, Veranderung (Othering), Stereotypisierung, Exotisierung, Xenophobie und Rassismus vorgenommen werden. Dementsprechend wäre es fehl am Platz, eine Person des Rassismus zu bezichtigen, nur weil sie „N-Wörter“ in historischen Quellen, literarischen Werken oder zum Zweck von rassismuskritischen Analysen zitiert bzw. in nicht-diskriminierender Absicht erwähnt.
In diesem Sinne erscheint es ähnlich absurd, Koeppen aufgrund der Sprache, die er seinen fiktiven Romanfiguren in den Mund legt, Rassismus vorzuwerfen. Koeppens Roman spielt 1949 in München. Das unmittelbare Nachkriegsdeutschland war vom Faschismus geprägt und vom Krieg gezeichnet. Sowohl rassistische Ressentiments und Stereotype als auch der Hass gegenüber den „Besatzungssoldaten“ jener Zeit werden im Buch gespiegelt und literarisch verarbeitet. Dies außer Acht zu lassen und sich auf die darin verwendeten „N-Wörter“ zu fokussieren wird dem Roman keineswegs gerecht.[4] Somit wird die Chance verpasst, sich mit dem von Koeppen anschaulich dargestellten Rassismus der späten 1940er und 1950er Jahre zu beschäftigen.[5] Die Aussage Jasmin Blunts – sie habe einen der schlimmsten Tage ihres Lebens gehabt, weil in dem Werketwa hundertmal „das N-Wort“ vorkomme – erscheint wie ein Hohn gegenüber den zehntausenden Menschen, die aufgrund von rassistischen Strukturen in Deutschland einen einschneidenden, lebensbedrohlichen oder gar tödlichen Rassismus erfahren.
Eine nicht unbedeutende Anzahl von Akademiker:innen und Aktivist:innen wird zudem von Universitäten oder anderer öffentlicher Institutionen und Behörden, Unternehmen und Politiker:innen darin unterstützt, rassismussensible Ausdrucksweisen zu fördern. Das verleiht ihnen immerhin einen progressiven Anschein. In einem institutionellen Rahmen ist es natürlich leichter und lukrativer, Compliance- und Diversity-Workshops oder rassismuskritische Seminare abhalten zu lassen und Diskriminierung hauptsächlich auf sprachlicher und individueller Ebene zu verorten als tiefgreifende rassistische Strukturen anzugehen. Diese Formen der Rassismuskritik passen auch bestens zur Logik des Kapitalismus, denn sie lassen sich mühelos und profitabel verwerten. Antirassistische Bildungsarbeit ist zwar wichtig und kann u.a. dazu beitragen, Vorurteile abzubauen oder die materiellen, ideologischen und diskursiven Ursachen und Folgen des Rassismus zu beleuchten. Aber die vorherrschenden gesellschaftlichen Privilegien bleiben dabei insgesamt unangetastet und daher fungiert dieser rassismuskritische Ansatz oft auch als ein Elitediskurs aus dem akademisch-aktivistischen Elfenbeinturm mit teils fragwürdigen Auswirkungen auf die Wahrnehmung von Betroffenen.
Fazit
Wir stehen manchen aus der Kritischen Weißseinsforschung oder Teilen der Critical Race Theory abgeleiteten und in aktivistischen, links-liberalen und einigen postkolonial gefärbten rassismuskritischen Strömungen erhobenen Forderungen bezüglich der Ächtung von „N-Wörtern“ skeptisch gegenüber. Es ist u.E. kontraproduktiv, wenn Wissenschaft, Literatur und auch die Medien aus sprachpolitischen Gründen davor zurückscheuen, die Geschichte des Rassismus unverschleiert – d.h. einschließlich heute als rassistisch bewerteter Wort- und Begriffsverwendungen – offenzulegen oder wenn historische Nuancen und Widersprüche aus dem Blickfeld getilgt werden. Der hier von uns skizzierte Umgang mit Ausdrücken und Äußerungen ist nicht auf das Thema Rassismus beschränkt, sondern lässt sich auf viele weitere Wörter und Begriffe übertragen.
Im Marxschen Sinne gehen wir davon aus, dass zumeist zunächst das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt. Mit anderen Worten: Es entscheiden soziale und materielle Verhältnisse darüber, welche Formen des Bewusstseins entstehen, sich weiterentwickeln und behaupten, dominant werden oder abnehmen und in Vergessenheit geraten. Aus dem Bewusstsein heraus erschaffen und konzipieren Gesellschaften Sprache. Und der Sprachgebrauch spiegelt den Zustand des menschlichen Bewusstseins, Wissenshorizonts und Daseins wider. Wissen, Handlungsmacht und soziale Praxis wiederum vermögen die Existenz und das Bewusstsein zu verändern. Das Bewusstsein kann das gesellschaftliche Sein daher entscheidend mitprägen. Darin liegen die Möglichkeiten des unaufhaltsamen Werdens und Vergehens im gesellschaftlichen Wandel. Konkret bedeutet dies, dass die transformative Kraft des Bewusstseins ohne die Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse den strukturellen Rassismus nicht abbauen kann, sondern bestenfalls nur den Sprachgebrauch reguliert und Menschen für Rassismus sensibilisiert.
Ein Beitrag von
Kaveh Yazdani ist Sozial- und Wirtschaftshistoriker sowie Assistant Professor am Geschichtsinstitut der University of Connecticut. Zu seinen Publikationen zählen u.a. die Mitherausgeberschaft der beiden Sammelbände Capitalisms of the “Global South”,Historia Crítica 89 (2023) und Capitalisms: Towards a Global History, Oxford University Press: Delhi 2020 sowie die Monographie India, Modernity, and the Great Divergence: Mysore and Gujarat (17th to 19th Century), Leiden/Boston: Brill 2017.
Sina Delfs ist eine afrodeutsche Aktivistin. Seit mehreren Jahren forscht und arbeitet sie sowohl zur Geschichte Afrodeutscher als auch zu Schwarzen in der deutschsprachigen Literatur zwischen dem 17. und frühen 20. Jahrhundert.
[1] Nachdem Chialo Anfang Januar 2024 die Einführung einer Antisemitismusklausel für Kulturförderung, der die problematische IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus zugrunde lag, verkündete, ohne sich mit den Abgeordneten im Kulturausschuss hinreichend abgesprochen zu haben, nahm er sie bereits Ende Januar wieder zurück, u.a. da sie juristisch unhaltbar war. Dabei hätte er durchaus differenziertere, präzisere und wissenschaftlichere Antisemitismus-Definitionen zu Rate ziehen können wie die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus.
[2] Hier unterscheiden wir uns also von Positionen, die etwa von dem Juniorprofessor für Didaktik Karim Fereidooni vertreten werden, der öffentlich eine von „N-Wörtern“ bereinigte „sensible und kritische Neu-Auflage“ von Tauben im Gras empfiehlt. Eine solche Vorgehensweise, die Romane von heute als rassistisch empfundenen Vokabeln bereinigt, könnte letztendlich geschichtsvernebelnde Züge annehmen, da der real existierende Rassismus, der gegebenenfalls durch bzw. in den jeweiligen Werken zum Ausdruck kommt, verharmlost werden würde. Anders ist in diesem Zusammenhang die Kinderliteratur zu bewerten. Hier möchten wir klarstellen, dass es u.E. wenig Sinn ergibt, die Wortwahl in Kinderbücher z.B. in Form von Fußnoten zu historisieren, da diese Praxis nicht kindgerecht ist. Kinder nehmen die imaginären Welten der Bücher oft ohne zeitlichen Abstand wahr und lernen die Welt durch sie kennen. Eine Vermeidung von heute als rassistisch empfundener Begriffe und von seit fast einem halben Jahrhundert abgelehnte Fremdbezeichnungen in der Kinderliteratur erscheint uns also durchaus sinnvoll. Auch wenn das kaum etwas an stereotypisierenden Bildern ändert, die in der Kinderliteratur des 20. Jahrhundert erzeugt worden sind. Eine solche Forderung im Kontext von Forschung und Lehre, also bei der Beschäftigung mit historischen Quellen und Zitaten sowie der allgemeinen Erwachsenenliteratur finden wir allerdings nicht überzeugend.
[3] Allerdings kann Objektivität in letzter Konsequenz nie wirklich erreicht werden, während der Empfänger:innenhorizont auch durchaus problematische Züge annehmen kann, z.B. wenn die Mehrheit der Gesellschaft rassistische Einstellungen besitzt.
[4] Im Roman kommen die Ausdrücke N.1/2/4 vor.
[5] Allerdings wäre es wünschenswert, wenn eine kritische Auseinandersetzung mit dem Rassismus jener Zeit klar in der Lehrer:innenausbildung behandelt und in den Curricula verankert würde. Inwiefern und ob dies überhaupt in Baden-Württemberg gegeben ist, haben wir nicht weiter verfolgt.
Eine Antwort
Mir hilft solch ein Artikel nicht.
Ich finde die zusammenkettung von Flucht und den Umgang mit Menschen, die migrieren und der These einer Zunahme von Rassismus, zu kurz gedacht und einen der großen Fehler die die linke Bewegung macht. Natürlich ist der Umgang mit Menschen eine wichtige Sache, aber neben den negativen Dingen, die unbestritten immer wieder passieren, wendet die Gesellschaft auf vielen Ebenen sehr viel auf, um Migration überhaupt zu ermöglichen. Es ist ja nicht so das diesen Menschen der Zugang zu Wohnungen, Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser usw. verwehrt würde. Und hier wird dann völlig aus dem Auge gelassen, dass viele gerade der sozialen Dingen, aber auch der zugang zu Bildung, über viele Jahrzehnte von Arbeitern und Gewerkschaften erkämpft wurde. Wenndas nun durch Millionen neuer Menschen verwässert wird, weil es eine Verantwortung gibt diese aufzunehmen, dann muss den arbeitenden dies erklärt werden. Warum müssen wir Menschen aus Syrien oder der Ukraine aufnehmen? Welche Verantwortung haben wir gegenüber Irak, Afghanistan, Nigeria, Somalia oder Senegal?
Ist es nicht so das wir dort, aus Geostrategischen oder wirtschaftlichen Interessen die Infrastruktur und Märkte zerstören oder zumindest stark negativ beeinflussen?
In meinen Augen wäre das die Verantwortung einer Linken die arbeitenden Menschen dort zu stärken und unsere Politik dorthin zu treiben das Kriege beendet werden, Handelsabkommen auch auf Entwicklung abzielen. Allgemein das Politik im Sinne der arbeitenden und erschaffenden Bevölkerung dient und nicht sich fokusiert auf Erscheinungen die von ganz anderen Interessen geleitet und produziert werden.
Wer sich nur der Barmherzigkeit widmet, mag ein guter Mensch sein, ist aber sich kein Marxist.