By © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons), CC BY-SA 4.0, Link

Nancy Faesers „islamistische Szene“

Im Kontext des verbotenen Palästina-Kongresses rechnete die Bundesinnenministerin die Organisator*innen und Teilnehmenden der „islamistischen Szene“ zu, ohne dafür einen einzigen Beleg vorzutragen. Faeser setzt mit ihrem unverschämten Angriff einen brandgefährlichen Präzedenzfall und führt Grundrechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit ad absurdum.

Auf dem Palästina-Kongress wollten Menschen, die sich für ein Ende des Krieges in Gaza und für Frieden in der Region einsetzen, sich drei Tage lang austauschen, streiten und in diesen für die Palästina-Solidarität so düsteren Zeiten gegenseitig Mut machen. Im Vorfeld versuchte die lokale wie die Bundespolitik alles, um den Kongress zu verbieten. Vergeblich. Daher wurde die Polizei vorangeschickt, um diese Aufgabe zu übernehmen. Nach wenigen Minuten stürmten Dutzende Uniformierte die Bühne, unterbrachen die Videobotschaft des Palästinensers Salman Abu Sitta und verboten den Kongress.

MEHR DAZU: Palästina-Kongress: Der deutsche Staat legt seine Fesseln ab

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) lieferte im Nachhinein die ideologische Begründung für diese Verletzung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit und sorgte damit bei Beobachter*innen für Kopfschütteln: „Wer islamistische Propaganda und Hass gegen Jüdinnen und Juden verbreitet, muss wissen, dass das schnell und konsequent verfolgt wird“, sagte Faeser der Deutschen Presse-Agentur. Und weiter, man behalte „die islamistische Szene sehr eng im Visier“. War hier in Berlin-Tempelhof also die „islamistische Szene“ zu Gange?

Der Kongress wurde vom linken Verein Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost angemeldet. Die weiteren Organisatoren sowie die Redner*innen haben zumeist einen marxistischen, linken und/oder feministischen Hintergrund und entstammen atheistischen oder säkularen Zusammenhängen. Darunter beispielswiese der Abgeordnete im irischen Unterhaus Richard Boyd Barrett von den Sozialisten, Wissam Fakher von der Antidiskriminierungsgruppe „Unidiversität“ der Uni Kassel, die ehemalige spanische Gleichstellungsministerin Irene Montero von Podemos, der renommierte palästinensisch-US-amerikanische Journalist Ali Abunimah, die jemenitische Friedensnoblepreisträgerin Tawakkol Karam, der palästinensisch-britische Arzt und Rektor der University of Glasgow Ghassan Abu Sittah, der ehemalige Finanzminister Griechenlands Yanis Varoufakis, Yuval Gal von der niederländischen Linken Bij1, die jüdischen Aktivisten Shir Hever und Wieland Hoban und weitere Marxist*innen, Feminist*innen Aktivist*innen, Professor*innen aus Iran, Palästina, Kurdistan, USA und andernorts.

Auf Anfrage von Freiheitsliebe beim Bundesinnenministerium, wen die Ministerin der „islamistischen Szene“ zurechne und wer genau „islamistische Propaganda und Hass gegen Jüdinnen und Juden“ verbreite, wiederholte eine Sprecherin in einer vorgefertigten Antwort lediglich die grotesken Vorwürfe. Die Ministerin finde das Verbot der Veranstaltung „richtig und notwendig“, denn: „Antisemitische und islamistische Straftaten werden nicht geduldet.“ Eine Auskunft zu Einzelfällen etwa zu verhängten Einreiseverboten sei leider „nicht möglich“. Ministerin Faeser verleumdet also pauschal Dutzende Menschen und stellt sie in die Ecke des Antisemitismus und Islamismus, doch hält es nicht für nötig zu begründen, welche „islamistische Propaganda“ etwa Varoufakis denn jemals geäußert hätte. Die Arroganz der Macht erfindet sich hier gerade neu.

Auf die Frage des Journalisten Tilo Jung auf der Bundespressekonferenz, wie Ministerin Faeser auf die Behauptung „islamistischer Propaganda und islamistische Szene“ käme, antwortet die stellvertretende Leiterin des Pressereferats im BMI Sonja Kock, sichtlich unwohl in ihrer Rolle: „Sie können davon ausgehen, dass sie sich auf Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden bezieht.“ Die Nachfrage, ob nach Ansicht der Ministerin „Juden und Jüdinnen zur islamistischen Szene hier in Deutschland gehören“, wird mit „Ich habe den Worten der Ministerin an dieser Stelle nichts hinzuzufügen.“ abgewatscht.

Auf die Frage, wie die Ministerin den Begriff der „islamistischen Szene“ definiere, verweist BMI-Sprecherin Kock auf die Definition in den jährlichen Verfassungsschutzberichten des BMI. In der 2022er Ausgabe findet sich diese im Kapitel „Islamismus“ auf Seite 180, dort steht unter anderem: Islamismus bezeichne „eine Form des politischen Extremismus“, der „unter Berufung auf den Islam“ auf die „Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ der BRD abziele. Der Islam solle „das gesellschaftliche Leben und die politische Ordnung bestimmen oder zumindest teilweise regeln“. Und im gegenwärtigen Kontext mit etwas Ironie behaftet: Islamisten stünden im Widerspruch zum „im Grundgesetz verankerten“ Grundsatz „der freien Meinungsäußerung“. Es folgen Aufzählungen von Gruppen wie Hamas, Hisbollah, Al-Qaida und „Islamischer Staat“ und martialische Vokablen wie „terroristische Gewalt“ oder „Kampf für einen ‚Gottesstaat‘“.

Auf welche Personen, die den Palästina-Kongress organisierten oder dort sprechen sollten, Frau Innenministerin Faeser, trifft auch nur eine dieser Zuschreibungen zu?

Zuvor sprach Faeser von der „islamistischen Szene“ in Deutschland etwa, als es um Weihnachten und Silvester mögliche Anschlagspläne auf den Kölner Dom gegeben haben sollen. Als Dschihadisten vom „Islamischen Staat Provinz Khorasan“ (ISPK) Ende März in Moskau über 130 Menschen töteten, erklärte Faeser, dass „auch in Deutschland die größte islamistische Bedrohung“ vom ISPK ausginge. Als dann am vergangenen Freitag die Meldung rumging, dass die Polizei mutmaßliche Angriffspläne von vier Jugendlichen aus NRW und Baden-Württemberg mit Messern und Molotows unter anderem auf Kirchen und Synagogen vereitelt hätte, verkündete Faeser erneut, die „islamistische Szene steht im Fokus“ deutscher Strafverfolgungsbehörden.

Die Innenministerin sorgt hier für einen brandgefährlichen Präzedenzfall. Sie diffamiert Hunderte Personen als „Islamisten“, ohne einen einzigen Beleg für ihre grotesken Anschuldigungen zu liefern. Sie stellt Personen, die sich solidarisch mit Menschen zeigen, die seit Jahrzehnten unter einem brutalen Besatzungsregime und einem Zustand täglicher Demütigung und Entmenschlichung leben, den unzählige Menschenrechtsorganisationen als Apartheid bezeichnen, die fortlaufender ethnischer Säuberung ausgesetzt sind und jeden Tag aus ihren Häusern vertrieben werden, gegen die seit dem 7. Oktober Verbrechen begangen werden, die der Internationale Gerichtshof unter der Genozid-Konvention verhandelt, in eine Reihe mit massenmordenden Menschenschlächtern.

Wir müssen die Palästina-Solidaritätsbewegung vor diesen Angriffen des deutschen Staates schützen.

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2 Antworten

  1. Dieses Verhalten kannte man eigentlich nur aus Diktaturen. Ich bin sehr beunruhigt.
    Die Teilnehmer sind integre Personen und hochmoralisch. Das will doch unsere Politik immer sein oder? Es wäre lachhaft wenn es nicht so brand gefährlich wäre. Alles was Scholz und Konsorten nicht passt wir gelabelt und verboten bzw strafrechtlich verfolgt.

  2. Gegen diesen unsäglichen Beschluß der Berliner Behörden, den Palästinakongress abzubrechen und zu verbieten, muß unbedingt juristisch vorgegangen werden. Das sollte auch an Geld nicht scheitern. Ich bin sicher, dass ein Spenden aufruf dazu innerhalb kürzester Zeit genügend Mittel zusammenbringen wird.

    Es darf nicht einreissen, dass die Innenministerin Faeser, die von der Materie offenbar keinerlei Ahnung hat und dazu nur leere Worthülsen absondern kann, par L’ordre de mufti von oben herab die freie Meinungsäußerung unterbindet.

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