By Jakob Reimann, Freiheitsliebe, CC-BY-SA 4.0

Palästina-Kongress: Der deutsche Staat legt seine Fesseln ab

Die sinnlose Repression gegen den Palästina-Kongress in Berlin zeigt uns allen: Der deutsche Polizeistaat war niemals weg.

Am Freitagnachmittag konnten wir in Berlin-Tempelhof erleben, was die deutsche Staatsräson in ihrer Praxis zu Ende gedacht bedeutet: 2.500 Polizistinnen und Polizisten waren für das Wochenende abgestellt, um den Palästina-Kongress mit 250 Teilnehmenden (Spiegel) zu begleiten. Um zu überwachen, Repressionen durchzusetzen und um Gründe zu finden, den Kongress zu verbieten. Dies – so schien es den meisten Leuten vor Ort – war von Anfang an Sinn und Zweck des grotesk aufgeblähten Polizeieinsatzes. Allem Dauerfeuer aus der Berliner wie der Bundespolitik, unisono begleitet seitens der bürgerlichen Presse von „links“ bis rechts, zum Trotz, war es nicht gelungen, den Kongress im Vorfeld zu verbieten. Also wurden die Damen und Herren in Uniform an die Front geschickt, diesen Job zu übernehmen.

Der geplant dreitägige Palästina-Kongress hatte einiges zu bieten: Aus verschiedensten Lebenswelten kommend, wollten Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen, Journalist*innen, Betroffene über das aktuelle Elend in Gaza, die Geschichte des konfliktträchtigen Streifen Lands, über Aktivismus und Wege zum Frieden berichten. Doch gewünscht ist sowas hier nicht.

Im Vorfeld wurden bereits alle Hebel in Gang gesetzt, den Kongress zu verhindern: Politik, Medien, Bürgerliche jeglicher Graubraunschattierung wollten den friedlichen Austausch verhindern. Um alle Beteiligten zu schützen, mussten die Organisatoren den Veranstaltungsort im Vorfeld geheim halten und verkündeten ihn erst am Vormittag. Von Beginn an gab es willkürliche Schikanen seitens der Staatsmacht. Medienvertreter*innen genau wie Teilnehmenden wurde der Zugang zum Gebäude verwehrt. Ein jüdischer Aktivist mit seinem Banner „Juden gegen Genozid“ wurde verhaftet:

Als nach Stunden der Verspätung, nach Stunden polizeilicher Schikanen, der Kongress dann doch irgendwann starten konnte, sollte einer der einleitenden Sätze der ersten Referentin, der Journalistin Hebh Jamal, einen Blick auf die nahe Zukunft werfen. Angesichts all der jüngsten Erfahrungen adressierte Hebh den deutschen Staat und seine Medienlandschaft: „You are an embarrassment to the world!“ Wie sie doch recht behalten sollte …

Nach Hebh Jamals Beitrag – den Tränen nah, als sie über ihr Familie berichtete – wurde eine zuvor aufgenommene Videobotschaft des palästinensischen Autors und Wissenschaftlers Salman Abu Sitta abgespielt. Und dieser war der Auslöser der von der Polizei offensichtlich forcierten Eskalation. Keine zwei Minuten nach Beginn des Statements drang die Staatsgewalt vor das Panel und brach das Video ab, kurz darauf ebenso den Livestream des Events. Und wiederum kurz darauf ging dann auch das Licht aus im Saal: Ein Polizist brach in den Schaltraum ein und kappte die Stromversorgung. junge Welt dokumentiert das Knacken der Tür (wiederholte Anmerkungen wie „Wir haben den Schlüssel für die Tür, übrigens.“ wurden geflissentlich überhört.):

Um 17:24 verkündete ein Polizist dann über Lautsprecher, dass die „Versammlung im geschlossenen Raum“ aufgelöst wird – „durch die Berliner Polizei“. Alle Personen werden des Saales verwiesen. Eine Begründung für diese Verletzung grundlegender Freiheitsrechte wurde nicht geliefert:

Das aufgezeichnete Videostatement vom Palästinenser Salman Abu Sitta war der choreografierte Anlass, auf den die deutsche Staatsgewalt so sehnlichst gewartet hatte. Für den 86-Jährigen läge ein „politisches Betätigungsverbot“ vor, erklärte eine Polizeisprecherin gegenüber einem Reporter von junge Welt in einer Erklärung, die Freiheitsliebe vorliegt. „Konsequenterweise“ sei die Veranstaltung daraufhin „erstmal“ unterbrochen worden, „um den Sachverhalt zu klären“. Es ging dabei jedoch nicht um den Inhalt des Gesagten, versichert die Polizeisprecherin. Dass der Redner ja überhaupt nicht anwesend war, sondern ein aufgezeichnetes Video abgespielt wurde, spiele dabei keine Rolle. „Der Palästina-Kongress ist für heute, morgen und übermorgen praktisch in der Fortsetzung verboten“, erklärt die Polizeisprecherin.

Das sind hier die scheinbar unüberbrückbaren Bruchlinien: der deutsche Staat gegen all jene, die anprangern, was ist.

„Eine komplette Rechtlosigkeit“, nennt das der auf Migrations- und Strafrecht spezialisierte Anwalt Alexander Gorski. Eine rechtliche Grundlage des Verbots hätte die Polizei auch keineswegs begründen können. Man müsse vielmehr davon ausgehen, dass der Kongress „politisch nicht gewollt war“. Und: „Die Versammlungsfreiheit war heute ausgesetzt.“

Abu Sitta am Flughafen

Auch der britisch-palästinensische Arzt Ghassan Abu Sitta war als Referent für den Kongress geladen, um über seine Schreckenserfahrungen im Al-Shifa Hospital zu berichten. Das Krankenhaus war vor dem Krieg das größte und wichtigste im gesamten Gazastreifen. Im November dann wurde es belagert und bombardiert. Dann vor kurzem, im März, wurde es über Wochen ein zweites Mal belagert und bombardiert, sodass da heute kaum mehr noch Umrisse eines Ortes zu erkennen sind, an dem Menschen in Not einst Überleben und Würde zurückerlangten. Heute ist das Al-Shifa zum Zeugnis menschlichen Versagens verkommen, ein Massengrab, auf dem Tote und Halbtote von Panzern überrollt und die Videos von ihren Peinigern auf TikTok geshared werden. Doch der Arzt und Unirektor Ghassan Abu Sitta, der auf dem Kongress über die von ihm bezeugte Schande im Al-Shifa berichten wollte, wurde am Flughafen in Berlin festgehalten. Ihm wurde die Einreise verweigert.

Wieder: Im Deutschland, das auch nie irgendetwas gelernt hat, kann nicht sein, was nicht sein darf. Und wer hätte es ernsthaft gedacht, dass es einmal wieder im Interesse des deutschen Staates liegen würde, Menschen mit Kippa auf dem Kopf von der Polizei abführen zu lassen?

Redefreiheit, Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit, und so weiter und so fort – all diese Werte, die „uns“ als liberale Demokratie den schönen Geschichten zufolge angeblich doch so sehr auszeichnen, spielen keine Rolle mehr, wenn es darum geht, den Genozid in Gaza und die deutsche Komplizenschaft an alldem zu leugnen: Mit dem Konzept der „Sicherheit Israels“ als bundesdeutscher Staatsräson hat der deutsche Polizeistaat seinen politisch korrekten Vorwand gefunden, um endlich seine Ketten abzulegen.

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