Nach dem Anschlag in Berlin: Nein zu Krieg und Generalverdacht

Vor wenigen Tagen fand in Berlin ein schrecklicher Angriff statt, bei dem 13 Menschen starben und fast 50 verletzt wurden. Nun fordern Politik und Medien mehr Verbote, Polizei, Überwachung oder schnellere Abschiebungen, doch das ist genau der falsche Weg, um Gewalt zu verhindern.
Wir dokumentieren eine Erklärung von Marx21.

In Berlin ist am Montagabend gegen 20 Uhr ein LKW in einen Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in der Nähe des Bahnhofs Zoos gefahren. Nach Angaben der Polizei wurden dabei zwölf Menschen getötet, 48 weitere verletzt. Der Berliner Krisenstab meldet am Vormittag: Noch befinden sich 49 Verletzte in 22 Berliner Kliniken. Bislang gelten 18 Männer und Frauen als schwerverletzt, in Einzelfällen besteht noch Lebensgefahr.

Die Ermittler gehen seit Dienstag Morgen inzwischen von einer vorsätzlichen Tat aus. Doch über das Motiv des Täters ist bisher überhaupt nichts bekannt. Ein durch Zeugenaussagen beschuldigter 23-jähriger Mann aus Pakistan bestreitet die Tat und auch der Polizeipräsident sagte, es sei „unsicher“, ob der Festgenommene tatsächlich der Täter sei. Trotzdem schüren Teile der Medien und Politik wieder Stimmung gegen Geflüchtete und fordern mehr Befugnisse für Polizei, Militär und Geheimdienste.

Der falsche Weg gegen Gewalt

Am Dienstag Vormittag sprach der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Klaus Bouillon (CDU), nach den Ereignissen in Berlin sogar von einem „Kriegszustand“. Gegenüber dem Saarländischen Rundfunk sagte er: „Wir müssen konstatieren, wir sind in einem Kriegszustand, obwohl das einige Leute, die immer nur das Gute sehen, nicht sehen möchten“. Bouillon kündigte verschärfte Sicherheitsmaßnahmen an. Es stehe zu befürchten, dass es Nachahmer gebe. „Wir werden, wo wir es für erforderlich halten, auch mit schwerem Gerät antreten. Das heißt Langwaffen, Kurzwaffen, Maschinenpistolen“, sagte Bouillon.

Solche Aussagen erinnern an die Tage nach den Gewalttaten in München, Würzburg, Reutlingen und Ansbach. Auch damals überboten sich Politikerinnen und Politiker mit immer neuen Vorschlägen, wie die angeblich „bedrohte Sicherheit“ wiederhergestellt werden könne.

Doch mehr Verbote, Polizei, Überwachung oder schnellere Abschiebungen sind genau der falsche Weg, um Gewalt zu verhindern. Das zeigt das Beispiel Bayern: Im letzten Sommer ereigneten sich dort innerhalb einer Woche drei Gewalttaten. Dabei verfügt das Bundesland über die meisten Polizisten in Deutschland und ein flächendeckendes Netz von Videoüberachung – alleine in München erfassen nach Recherchen der „Süddeutsche Zeitung“ 9200 Kameras den öffentlichen Raum. Der bayerische Geheimdienst ist bundesweit der größte und derjenige mit den meisten Befugnissen. Er darf auf Vorratsdaten zugreifen, sogenannte Online-Durchsuchungen vornehmen, Wohnungen überwachen lassen und vieles mehr – allesamt Kompetenzen, die in anderen Bundesländern nur Staatsanwälte und Polizeibehörden haben. Bayern ist auch das Land mit der repressivsten Asylpolitik. Im vergangenen Jahr wurden hier 4195 Menschen abgeschoben – etwa jeder vierte Ausreisepflichtige. „Wir schieben jeden ab, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, wöchentlich gibt es Sammelabschiebungen“, sagte ein Sprecher des bayerischen Innenministeriums gegenüber der Welt. Trotzdem konnten die Gewaltverbrechen von München, Ansbach und Würzburg nicht verhindert werden.

Hetze statt Ursachenforschung

Die politische Rechte nutzt die Ereignisse in Berlin, um erneut Angst vor Geflüchteten und Muslimen zu schüren. Allen voran Marcus Pretzell von der AfD. Bereits eine Stunde nach dem schrecklichen Ereignis twitterte er: „Wann schlägt der deutsche Rechtsstaat zurück? Wann hört diese verfluchte Heuchelei endlich auf? Es sind Merkels Tote! #Nizza #Berlin“.

Aber auch Teile der Union spielen die Hardliner. Obwohl es noch keinerlei Erkenntnisse über die Hintergründe der Tat gibt, forderte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU), offen über die Risiken durch die Aufnahme von Flüchtlingen zu sprechen. „Wir müssen uns jetzt mit der Frage beschäftigen, welche Risiken wir mit dieser großen Zahl von Flüchtlingen ins Land bekommen“, sagte Herrmann am Dienstag im Bayerischen Rundfunk. Auch Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer forderte eine weitere Verschärfung der Zuwanderungspolitik: „Wir sind es den Opfern, den Betroffenen und der gesamten Bevölkerung schuldig, dass wir unsere Zuwanderungs- und Sicherheitspolitik überdenken und neu ausrichten“.

Doch Seehofer und andere vertauschen hier Ursache und Wirkung. Das Gewaltpotential liegt nicht bei den Geflüchteten, sondern in der unmenschlichen Asylpolitik der Bundesregierung. Die von ihr beschlossenen Asylrechtsverschärfungen stigmatisieren Schutzsuchende. Viele Flüchtlinge müssen künftig länger in den oft katastrophal überfüllten Erstaufnahmelagern verbleiben, manche sogar unbefristet. Die sogenannte Residenzpflicht wurde wieder verschärft. Leistungskürzungen für Asylsuchende wurden beschlossen. Die Abschiebung kranker Menschen wurde erleichtert, das Recht auf Familiennachzug beschnitten und vieles mehr.

Pro Asyl schreibt: „Die Gesetzesänderungen haben Folgen für alle Lebensbereiche von Flüchtlingen: Für die Asylverfahren, die Unterbringungspraxis, die Integrationschancen, die soziale und medizinische Versorgung von Flüchtlingen, die Verhängung von Abschiebungshaft, die Durchführung von Abschiebungen – und nicht zuletzt auch für das gesellschaftliche Klima.“

Letzte Woche hat die Bundesregierung unter Führung von Innenminister Thomas de Maizière damit begonnen Menschen in das Kriegsgebiet Afghanistan abzuschieben. Auch diese sogenannten Sammelabschiebungen sind Teil der beschlossenen Verschärfung des Asylrechtes.

Diese von der deutschen Regierung herbeigeführten Umstände sind die Grundlage für Wut, Frustration und Aggressionen. Gleichzeitig ist die Berichterstattung in den Medien irreführend. Denn überwiegend sind Flüchtlinge Opfer von Gewalt und nicht Täter. Fast jede Nacht gibt es Anschläge auf Geflüchtete oder ihre Unterkünfte – die rassistischen Angriffe sind im Vergleich zu den letzten Jahren dramatisch gestiegen.

Schluss mit den imperialistischen Kriegen

Obwohl über das Motiv des Täters noch nichts bekannt ist, hat die US-amerikanische Zeitung „Washington Post“ schon gestern von einem angeblichen Bekennerschreiben des „Islamischen Staats“ berichtet. Auch Donald Trump zog diese Verbindung. Am Abend verkündete er über Twitter: „Unschuldige Zivilisten sind in den Straßen ermordet worden, als sie sich darauf vorbereiten wollten, Weihnachten zu feiern. Der IS und andere islamistische Terroristen schlachten immer noch Christen in deren Gemeinden und Andachtsorten ab – das ist teil ihres weltweiten heiligen Kriegs. Diese Terroristen und ihre regionalen und weltweiten Netzwerke müssen vom Angesicht der Erde hinweggefegt werden – eine Mission, die wir mit allen friedensliebenden Partnern ausführen werden“.

Doch der Terror wird sich so nicht bekämpfen lassen. Im Gegenteil. Der „Krieg gegen den Terror“ produziert mehr Terrorismus, anstatt ihn einzudämmen. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 haben westliche Armeen Afghanistan und Irak militärisch erobert und besetzt. Außerdem haben sie mit Drohnen Pakistan, den Jemen, Somalia und den Sudan bombardiert. Zudem hat insbesondere die US-Regierung hunderte Muslime ohne Gerichtsverfahren in den Gefängnissen von Abu Ghuraib, Guantanamo und anderen Lagern inhaftiert und gefoltert.

Laut einer Untersuchung der Organisation „Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges“ (IPPNW) beliefen sich die Opferzahlen von 2001 bis 2014 im Irak, in Afghanistan und Pakistan, bei konservativer Auslegung der Quellenlage, auf eine Million Tote und nochmal so viele Verletzte. Wohnungen, Schulen, Krankenhäuser und andere öffentliche Infrastruktur wurden zerstört. Millionen Menschen haben ihre Lebensgrundlage verloren und wurden zur Flucht getrieben.

Die Folge waren mehr Selbstmordattentate gegen nordamerikanische und europäische Einrichtungen in Afghanistan, im Irak und in anderen muslimischen Ländern als je zuvor. Das konservative Washingtoner Magazin „Foreign Policy“ schrieb: „Mehr als 95 Prozent aller Selbstmordattentate sind eine Reaktion auf fremde Besatzung. (…) Während die Vereinigten Staaten und ihre Alliierten Afghanistan und Irak, mit einer Gesamtbevölkerung von rund sechzig Millionen Menschen, besetzten, sind die Selbstmordanschläge weltweit dramatisch gestiegen – von etwa 300 (1980 bis 2003) auf 1800 (2004 bis 2009). Über neunzig Prozent aller Selbstmordattentate sind antiamerikanisch. Die große Mehrheit der Selbstmordattentäter stammt aus Regionen, die durch ausländische Truppen bedroht sind.“ Der „Krieg gegen den Terror“ ist die Hauptursache für den Anstieg des Terrorismus.

Wie können Terrorismus und Gewalt bekämpft werden?

Die Bedingungen und Auslöser, die Menschen zu Gewalt treiben, sind komplex. Aber sie entfalten sich in einer kapitalistischen Gesellschaft, die Menschen zutiefst entfremdet, die von Rassismus durchdrungen ist und die sich im Rahmen des „Kriegs gegen den Terror“ immer weiter militarisiert. Noch ist unklar, ob es in Berlin wirklich zu einem dschihadistisch motivierten Terroranschlag gekommen ist. Sollte sich dies bestätigen, muss auch gesagt werden, dass der einzig erfolgversprechende „Kampf“ gegen islamistischen Terrorismus darin besteht, die imperialistischen Kriege im Nahen Osten zu beenden.

Krieg und Terror sind zwei Seiten derselben Medaille: Mehr Krieg führt zu mehr Terror, was wiederum zu mehr Krieg führt. Dieser Teufelskreis kann durchbrochen werden – aber bestimmt nicht durch Waffenexporte, militärische Ausbildungsmissionen oder die Unterstützung von Luftangriffen gegen Städte und Dörfer. Das heißt: Abzug der Bundeswehr aus dem Ausland und Stopp jeglicher Waffenexporte. Statt Hasskampagnen und Generalverdacht gegen den Islam muss die Regierung allen Jugendlichen gleiche und gute Chancen auf Bildung und Ausbildung geben. Das würde dem IS wirklich schaden. Es würde seine Chancen verringern, Anhänger unter jungen Muslimen zu finden.

Wir müssen aufstehen gegen Rassismus, der Flüchtlinge und Muslime unter Generalverdacht stellt. Die drakonischen Verschärfungen des Asylrechts stigmatisieren Schutzsuchende und müssen zurückgenommen werden. Die Massenabschiebungen von Geflüchteten müssen gestoppt werden. Es ist die Aufgabe der Partei DIE LINKE und aller Linker sich für eine solche Perspektive einzusetzen.

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