Multiple Krise – Wie kommen Theorie und Praxis zusammen?

Bei der Auswertung der verschiedenen Beiträge und Debatten dieser marxistischen Studienwoche zur Multiplen Krise wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass unsere Arbeit an der Zeitdiagnose uns zugleich mit äußerst widersprüchlichen Erkenntnissen konfrontiert.

Auf der einen Seite vermittelt die Analyse der Vielfach- bzw. Polykrise die Erkenntnis, dass wir uns in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften des Westens nicht in einer „kleinen“, sondern in einer – wie uns die Theoretiker der Regulationsschule vor langer Zeit in der Analyse der Krise des „Fordismus“ gelehrt haben – „großen Entwicklungskrise“ des globalen Kapitalismus befinden. In dieser artikulieren sich einerseits die spezifischen Widersprüche der Überakkumulation von Kapital, die sich mit der Durchsetzung des globalen Finanzmarktkapitalismus (vor allem seit dem Big Crash von 2008/09) und als Folge der neoliberalen Politik in den ökonomischen, sozialen und politischen Krisenprozessen manifestieren. Diese zwingen ihrerseits die Regierungen der Nationalstaaten zum permanenten Krisenmanagement, das allerdings wenig erfolgreich agiert und den Krisen im politischen Feld zugrunde liegt. Nicht nur die Staatsverschuldung nimmt ständig zu. Zugleich ist der kapitalistische Staat mit den Folgen der neoliberalen Politik im Reproduktionssektor (Infrastruktur, Wohnen, Gesundheit, Bildung, Pflege, Verkehr) sowie mit der Zunahme der sozialen Spaltungen und der Armut in den „reichen Staaten“ des Westens konfrontiert. Dazu kommen die Risiken, die mit globalen Lieferketten sowie mit den Folgen von Epidemien und dem Ansteigen der Migration verbunden sind. Schließlich zwingt die Klimakrise die Regierungen, gewaltige Anstrengungen zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes sowie zu einer Energiewende zu unternehmen, die von den fossilen Brennstoffen Abschied nimmt.

Diese Krisenprozesse werden darüber hinaus durch die Veränderungen der globalen Kräfteverhältnisse zwischen den Staaten und Klassen und durch die Auseinandersetzungen um die neue Weltordnung überdeterminiert. Die ungleiche Entwicklung im Weltmaßstab, die allerdings durch die Globalisierung (einschließlich der „digitalen Revolution“) der vergangenen drei Jahrzehnte die wechselseitige Verflechtung und Abhängigkeit zwischen den Regionen und Kontinenten gesteigert hat, reproduziert neue Konflikte. Diese werden von den USA im Namen des Westens bereits als neuer Kalter Krieg der „Demokratien gegen die Autokratien“ vorangetrieben. Sie eskalieren in Kriegen und Bürgerkriegen, Staatsverfall und Militärputschen – begleitet von einer weltweiten militärischen Aufrüstung, nicht nur der Großmächte. Die Tendenz zu Katastrophen und zur Barbarei wird auch im Alltagsbewusstsein wahrgenommen. Die „Nachhaltigkeitsrevolution“ (Dörre) und die Sicherung des Friedens sind im 21. Jahrhundert zu den vorrangigen Aufgaben der Menschheit geworden.

Die real existierenden Widersprüche „schreien“ geradezu nach gesellschaftlichen (und nicht privatkapitalistischen, profit- und wachstumsorientierten), also nach „sozialistischen Lösungen“. Gleichwohl sind die politischen und sozialen Kräfte, die in den Metropolen des Kapitals solche Lösungen durchsetzen könnten, nach wie vor sehr schwach. Im 20. Jahrhundert wurden die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen (auch international) durch die Existenz einer starken sozialistischen oder/und kommunistischen Arbeiterbewegung auf der Ebene der Nationalstaaten sowie nach 1945 durch das System sozialistischer Staaten um die Sowjetunion sowie durch die antiimperialistischen Befreiungsbewegungen in der sog. „Dritten Welt“ bestimmt. Diese Kräfte haben sich bis zum Ende des Jahrhunderts erschöpft.

Die Zusammensetzung der Arbeiterklasse hat sich – u.a. in Folge von Produktionsverlagerungen an die Billiglohnperipherie und von gewaltigen Produktivitätssteigerungen „vor Ort“ – vom alten Kern des industriellen Proletariats auf neue Fraktionen des Dienstleistungsproletariats (einschließlich einer neuen prekären Unterschicht von ca. 20 % der Beschäftigten) verschoben. Es gibt derzeit keine relevanten politischen Kräfte, die die Lohnabhängigen als Klasse im Kampf für sozialistische Perspektiven anrufen und führen können.

Angesichts der Krisenerfahrung und der Furcht vor sozialem Abstieg wenden sich Teile der subalternen Klassen jenen Kräften zu, die die „alte Ordnung“ verteidigen und die Globalisierung, die Migration, fremde Mächte, aber auch die Demokratie und eine politische Klasse aus Linksliberalen, Feministinnen und Ökoaktivisten für die Krisen unserer Zeit und ihre subjektive Betroffenheit verantwortlich machen. Der Aufschwung der rechtspopulistischen Kräfte in Europa und den USA bereitet das Feld für faschistische, gewaltbereite Reaktionen auf eine Verschärfung der Krise und des Niedergangs des Westens bzw. auf ein Erstarken sozialistischer Gegenbewegungen vor. Der in den Metropolen herrschende „Machtblock“ (den jetzt noch die global orientierten Fraktionen der Bourgeoisie dominieren) wird in Perioden eines krisenhaften Verfalls westlicher Vorherrschaft genau auf diese Mobilisierung von – nationalistisch und rassistisch orientierten – gewaltbereiten Feinden der Demokratie und der Linken zurückgreifen. Der Sturm der Anhänger von Donald Trump auf das Capitol in Washington am 6. Januar 2021 vermittelte erste Eindrücke eines solchen Szenarios.

In den Auseinandersetzungen um die neue Weltordnung werden die Länder des „Südens“, die mit der Volksrepublik China kooperieren und deren Führung in der Auseinandersetzung mit der Hegemonie der USA und des Westens akzeptieren, eine wichtige Rolle spielen. Diese wiederum wird in hohem Maße davon abhängen, ob und wie es der Volksrepublik und der KP Chinas gelingt, ihre Ziele für die Entwicklung des eigenen Landes bis zum Jahre 2050 zu realisieren. Innere Krisen und der bis zum Krieg gesteigerte Druck von außen (z. B. in der Taiwan-Frage) könnten die Tendenzen zu Chaos, Krieg und Gewalt im internationalen System noch verstärken.

In den Kapitalmetropolen des Westens reflektiert sich die Unzufriedenheit nicht nur im Aufschwung rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien. Im vergangenen Jahrzehnt feierte z. B. die politische Linke bei Wahlen in Lateinamerika Erfolge; in den USA hat die kapitalismuskritische Linke innerhalb und außerhalb der demokratischen Partei an Einfluss gewonnen. Weltweit ist eine Welle der intellektuellen Kritik an den Widersprüchen und Krisen des globalen Finanzmarktkapitalismus und der neoliberalen Politik zu verzeichnen. Sie verbindet sich mit den Analysen der Klimaforscher und den Forderungen von Ökonomen, Sozial- und Naturwissenschaftlern, die für eine mit degrowth verbundene „Nachhaltigkeitsrevolution“ eintreten.

In Europa erzielten linke Kräfte im Gefolge der Krise von 2008/09 Wahlerfolge, stellten die Regierung in Griechenland (Syriza) oder waren an linken Regierungen in Portugal und Spanien beteiligt. In Großbritannien wurde Jeremy Corbyn zum Vorsitzenden der Labour-Party gewählt und erreichte mit seinem sozialistischen Programm bei den ersten Wahlen ein beachtliches Ergebnis. Diese Ansätze scheiterten; diese Niederlagen müssen noch in kollektiven Lernprozessen aufgearbeitet werden! Schließlich erlebt Westeuropa im Jahre 2023 eine Welle von gewerkschaftlichen Streiks, die vor allem von Beschäftigten aus dem Bereich der Reproduktion und Infrastruktur getragen werden. Dabei geht es angesichts der Inflation nicht nur um Lohnforderungen; es geht im Kern um die Verbesserung der Qualität öffentli- cher Dienstleistungen (in den Bereichen: Wohnen, Verkehr, Gesundheit, Bildung, Pflege usw.), die durch die Austeritätspolitik des Neoliberalismus schwer beschädigt wurden. Dabei erleben die Gewerkschaften einen neuen Aufschwung (nach langen Jahren der Krise) – und sie geraten objektiv in Widerspruch zur herrschenden Politik, die einerseits die Austeritätspolitik im Zeichen der „Schuldenbremse“ fortsetzen will und andererseits mit der Steigerung der Rüstungsausgaben im Zuge der „Zeitenwende“ und des neuen Kalten Krieges die Sozialausgaben begrenzen muss und die „Errungenschaften“ eines sozialstaatlich regulierten Kapitalismus in Frage stellt. Daraus entsteht – gleichsam im Staate selbst – ein Konfliktpotenzial, das in den Klassenkämpfen der Gegenwart – zumal unter dem Einfluss einer durch Kriege auf- geheizten Atmosphäre – zusammen mit der Klimabewegung und einer stärker werdenden Friedensbewegung auch Fragen nach den Zielen und Wegen sozialistischer Transformation notwendig beinhaltet. In diesen Kämpfen und Bewegungen muss sich jeder von uns als einzelner (nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen) ein- bringen, dabei aber auch der Erkenntnis folgen, dass es stabiler politischer Organisationen bedarf, die in der Lage sein sollten, die Zusammenarbeit dieser Bewegungen als politisches Projekt der Linken in den Mittelpunkt zu stellen und im Kampf fürs Überleben zugleich die Zukunft einer gerechten und friedlichen Gesellschafts- und Weltordnung als „reale Utopie“ zu thematisieren.

Der Beitrag von Prof. Dr. Frank Deppe erschien in der neuen Ausgabe der Zeitschrift Z – Marxistische Erneuerung

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