Gaza - Bild: Motaz Azaiza

Jüdische Gewerkschafter kritisieren deutsche Gewerkschaften für Haltung zu Gaza

Die deutschen Gewerkschaften haben sich im Gaza-Krieg extrem einseitig positioniert, sie verurteilen richtigerweise die Gewalt der Hamas, doch zu den israelischen Bombardierungen und der Blockade Gazas, schweigen sie. Jüdische Gewerkschafter aus Deutschland protestieren nun dagegen.

Wir dokumentieren ihren Brief:

Wir sind stolze jüdische Gewerkschafter*innen und Arbeitsrechtsaktivist*innen in Deutschland. Viele von uns sind Nachkommen von Holocaust-Überlebenden, die sich dafür entschieden haben als aktive Mitglieder der Gewerkschaftsbewegung hier in Deutschland zu leben. Wir kämpfen für die Rechte und die Würde aller Arbeiter*innen – ungeachtet ihrer Nationalität, ethnischen Zugehörigkeit oder Religion.

Das öffentliche Statement unserer Gewerkschaft ver.di vom 9. Oktober auf ihrem Instagram-Account hat uns zutiefst enttäuscht, weil es eine einseitige Unterstützung Israels ausdrückte, ohne auf die bereits eskalierende Bombardierung Gazas einzugehen. Seitdem hat der DGB auch eine Solidaritätskundgebung mit Israel unterstützt, währender sowohl zum Krieg in Gaza als auch zur Unterdrückung von Protesten in Solidarität mit den Palästinenser*innen in ganz Deutschland schweigt.

Unsere Politik der Solidarität und des Internationalismus ist nicht an Bedingungen geknüpft. Wir fordern daher die bundesdeutschen Gewerkschaften mit Nachdruck auf, sich mit allen Betroffenen der Gewalt der letzten vier Wochen zu solidarisieren. Wir fordern die Gewerkschaften dazu auf, sich den Aufrufen nach dem Ende des Blutvergießens der weltweiten Gewerkschaftsbewegung und von Menschenrechtsorganisationen anzuschließen. Angesichts der Unterdrückung von Solidaritätskundgebungen mit den Palästinenser*innen durch die deutschen Behörden fordern wir die Gewerkschaften außerdem dazu auf, sich für das Grundrecht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Deutschland stark zu machen.
Wir verurteilen uneingeschränkt den brutalen Angriff der Hamas vom 7. Oktober und trauern um den Mord an 1.400 Menschen in Israel. Ebenso beklagen wir die Entführung von Geiseln aus Israel. Wir sind zugleich empört über die Reaktion des israelischen Militärs und die brutale Bombardierung der in Gaza festsitzenden Zivilbevölkerung. Die Ergebnisse der Belagerung sind erschütternd: 10.000 Palästinenser*innen wurden vom israelischen Militär getötet, unzählige weitere wurden verletzt, während den Krankenhäusern die Vorräte und der Treibstoff ausgehen.

Die Zahl der Opfer steigt mit jeder Stunde. Wir alle haben Familienangehörige und Freund*innen in Israel und Palästina und sorgen uns um ihre Sicherheit angesichts der grauenhaften Geschehnisse, die wir von hier verfolgen. Jeden Tag fürchten wir uns vor dem, was in dieser sich rapide zuspitzenden Situation als nächstes kommen wird.

Das israelische Militär hindert palästinensische Zivilist*innen am Verlassen des Gazastreifens. Gleichzeitig verhindert es, dass Lebensmittel, humanitäre Hilfe oder Journalist*innen in eines der am dichtesten bewohnten Gebiete der Welt gelangen. Während Zivilist*innen die Gegend nicht verlassen können, werden Wohnhäuser, Schulen und Krankenhäuser weiterhin bombardiert. All diese Taten sind als schwere Kriegsverbrechen einzuordnen und unter keinen
Umständen hinnehmbar.

Die derzeitige politische Situation in Israel und Palästina wird durch die am stärksten rechtsgerichtete Regierung in der Geschichte Israels weiter verschärft. Diese verfolgt eine Politik der ständigen Besatzung und der fortgesetzten gewaltsamen Vertreibung der Palästinenser*innen, statt diplomatische Lösungen zu suchen und Menschenrechte zu achten.

Rechtsextremismus sollte nirgends Platz haben; er wird weder für Israelis noch für Palästinenser*innen dauerhafte Sicherheit bringen, da er nur dazu dient, die Saat für weitere Gewalt auf beiden Seiten zu legen. 

Als Gewerkschafter*innen müssen wir die Situation auch unter Einbezug des regionalen Arbeitsregimes betrachten: Die scharfe Reaktion der israelischen Regierung wirft den Kampf um die Rechte und die Sicherheit sowohl israelischer als auch palästinensischer Arbeiter*innen zurück. Es ist nicht möglich, die Arbeitssituation in der Region zu verstehen, ohne die legalisierte Ausbeutung palästinensischer Arbeiter*innen zu verstehen. Das militarisierte System der Arbeitserlaubnisregelungen schadet nicht nur den Palästinenser*innen, sondern untergräbt auch die Verhandlungsposition der israelischen Arbeiter*innen. Die Entscheidung unserer Gewerkschaft, eine pauschale Unterstützungserklärung für die israelische Regierung abzugeben, während sie zu den brutalen Angriffen auf die Zivilbevölkerung im Gazastreifen schweigt, ist zutiefst enttäuschend. Sie ist zudem höchst unangemessen, da eine solche Erklärung nicht im Einklang mit den Überzeugungen vieler Gewerkschaftsmitglieder steht. Darüber hinaus sind wir alarmiert über die innenpolitische Reaktion des deutschen Staates: In den letzten Wochen haben deutsche Behörden die Meinungsfreiheit und Proteste unterdrückt und Menschen jeglicher Herkunft, einschließlich Israelis und Jüd*innen, verhaftet, weil sie sich gegen die Bombardierung der Zivilbevölkerung in Gaza ausgesprochen haben. Dies geschieht auf der Grundlage einer pauschalen Unterstellung von Volksverhetzung. Auch der DGB selbst hat diese Anschuldigungen wiederholt. Die drakonischen Einschränkungen von Versammlungen und Demonstrationen befördern aktuell anwachsende faschistische Tendenzen, indem sie unsere Grundrechte beschränken und die fremdenfeindliche und rassistische Rhetorik der AfD gegenüber gesellschaftlichen Minderheiten und unseren Communities in Deutschland
begünstigen.

Als jüdische Gewerkschaftsmitglieder in Deutschland kennen wir unsere Geschichte: Wir sind uns der abscheulichen Folgen von Faschismus und Nationalismus nur zugut bewusst. Ebenso erinnern wir uns daran, dass Jüd*innen und Gewerkschafter*innen zu den Ersten gehörten, die vom Nazi-Regime ins Visier genommen wurden. Wir wissen auch, dass Antisemitismus leider tief in Deutschland verankert ist und keineswegs ein Phänomen, das sich einfach als „importierten Antisemitismus“ auf Migrant*innen abwälzen ließe. Die Landtagswahlen in Hessen und Bayern im Oktober 2023 zeigen, dass Antisemitismus und generell der Hass auf Minderheiten in Deutschland nicht nur eine Bedrohung der Vergangenheit ist. Vielmehr sind sie eine gegenwärtige und wachsende Bedrohung für die Sicherheit aller Minderheiten.

Als Jüd*innen und Gewerkschafter*innen, die diese historischen Hintergründe kennen, können wir es nicht hinnehmen, dass sich rechte Rhetorik in die Gewerkschaftsbewegung einschleicht.

Wir können auch nicht tatenlos dabei zusehen, wie ganze Teile der immer vielfältiger werdenden deutschen Bevölkerung des Antisemitismus bezichtigt und mit gewaltvollen und entmenschlichenden Ausdrücken verleumdet werden. Wir lehnen es ab, dass unsere Gewerkschaft unsere Ansichten falsch repräsentiert, insbesondere wenn solche fehlgeleiteten Erklärungen angeblich in Solidarität mit unseren eigenen jüdischen Communities abgegeben werden. Die Erklärungen von ver.di und dem DGB sprechen nicht für viele Eurer Mitglieder und sie sprechen gewiss nicht für uns. Sie tragen auch nicht dazu bei, dass wir als Jüd*innen sicherer sind- ob hier in Deutschland oder in Israel.

Wir fordern unsere Gewerkschaft dazu auf, im Einklang mit den Erklärungen von UNI Global Union, IGB und anderen Gewerkschaftsorganisationen in der ganzen Welt ein Statement zu veröffentlichen, das Solidarität zeigt – sowohl mit Israelis als auch Palästinenser*innen, die durch die jüngste Eskalation der Gewalt in der Region geschädigt wurden. Die Solidarität mit den jüdischen Opfern des Terrors negiert nicht unsere Solidarität mit Palästinenser*innen und unsere Pflicht, uns für den Schutz ihrer Menschenrechte einzusetzen.

Konkret muss eine solche Erklärung folgende Forderungen enthalten:
● Sofortiger Waffenstillstand;
● Sichere Rückkehr aller israelischen Geiseln;
● Beendigung der Belagerung, die den Zugang zu humanitärer Hilfe, Wasser, Treibstoff und Strom zum Gazastreifen blockiert
● Anerkennung des Rechts auf Würde und Sicherheit sowohl für Israelis als auch für Palästinenser*innen

Wir fordern außerdem, dass die Gewerkschaft die Bedeutung der Meinungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit als Grundprinzipien der Gewerkschaftsbewegung stärkt. Als Gewerkschaftsaktivist*innen können wir weder die Aushöhlung dieser Rechte hinnehmen, noch tatenlos zusehen, wie Behörden unsere Grundrechte einschränken und den öffentlichen Raum für die Zivilgesellschaft verkleinern. Unsere Solidarität ist dann am wichtigsten, wenn sie am schwierigsten zu finden ist. Wir unterzeichnen dieses Dokument, um die interne Debatte über diese komplexe und katastrophale Situation innerhalb der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland zu fördern.

Unterzeichnende

Yonatan Miller, IG Metall Mitglied, GBR Vorsitzender ShareNow, Global Labour University
Gabriela Maryse Siegel, School of Transnational Organizing – European Alternatives, Global Labour University
Gabriel Berlovitz, ver.di Mitglied, Hans-Böckler-Stiftung Doktorand, Global Labour University
Veronika Livnat BR Vorsitzende SumUp
Deborah Birnbaum, ver.di Mitglied, BR Stell. Vorsitzende HelloFresh
Oren Berkowitz, ver.di Mitglied, BR Vorsitzender SoundCloud
Jordan Coll, ver.di Mitglied, BR Mitglied SoundCloud
Liav Keren, IGMetall Mitglied, TechWorkers Coalition Mitglied
Max Floh Elias, ver.di Mitglied
Nadine Isabel Levin, ver.di Mitglied, TechWorkers Coalition
Charlie Ebert, GEW Mitglied

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2 Antworten

  1. Danke euch für diese Stellungnahme! Sie dient zur Klarstellung, wie sich Gewerkschafter verhalten sollten und befreit mich u .à. Von dem Virwurf des Antisemitismus.
    Marianne Dallmer

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