Foto: nimmersat "Israel" - CC BY-ND 2.0 Some rights reserved. Quelle: piqs.de

Der Zionismus entwickelt sich zu einer militanten, religiös aufgeladenen Ideologie

Der Zionismus entstand am Ende des nationalistischen 19. Jahrhunderts, ausgelöst vor allem durch die Judenpogrome in Osteuropa. Der Zionismus war ursprünglich streng säkular, sozialistisch ausgerichtet, aber konsequent nationalistisch, war doch sein zentrales Ziel der Aufbau eines jüdischen Staates, der den Juden der Welt Sicherheit und Schutz vor Verfolgung bieten sollte. Hierzu gehörte von Anfang an die Schaffung eines Territoriums durch jüdische Inbesitznahme des Bodens und durch den Aufbau einer jüdischen Ökonomie basierend auf jüdischen Erzeugnissen und jüdischer Arbeit.

Wie in einem Brennglas brachte dies einer der Führer der Arbeitspartei und der zionistischen Gewerkschaft Histadrut in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts, David Hacohen,  zum Ausdruck, indem er rückblickend auf seine Gespräche mit britischen Freunden und Genossen verwies: „(Ich) musste die Tatsache verteidigen, dass ich keine Araber in meiner Gewerkschaft, der Histadrut, duldete; dass wir Hausfrauen predigten, nicht in arabischen Geschäften zu kaufen; dass wir an Obstplantagen Wache standen, um zu verhindern. dass arabische Arbeiter dort Arbeit fanden; dass wir arabische Tomaten mit Benzin übergossen, dass wir auf Märkten über jüdische Hausfrauen herfielen und die arabischen Eier vernichteten, die sie gekauft hatten; … dass es erlaubt ist, Dutzende von Dunam (Flächenmaß: 1 Dunam = knapp 1000 Quadratmeter) von Arabern zu kaufen, dass es aber verboten ist, auch nur einen einzigen jüdischen Dunam, Gott behüte, an einen Araber zu verkaufen. … All das zu erklären war nicht leicht.“[1]

Dieses Zitat verdeutlicht das vom Zionismus propagierte und in soziale Wirklichkeit übersetzte Konzept der „jüdischen Arbeit“: Im Gegensatz zu den arabischen Großgrundbesitzern, die sich mit den Fellachen nach einem bestimmten Schlüssel die Ernten teilten, bewirtschafteten die jüdischen Siedler selbst das Land und vertrieben die Palästinenser, die bisher das Land von Generation zu Generation bewirtschaftet und bewohnt hatten. Erstmalig 1929, massiv dann ab 1936 kam es aufgrund der massenhaften Pauperisierung der palästinensischen Fellachen zur palästinensischen Revolte, die zugleich Aufstand gegen die britischen Kolonialherren und Kampf gegen die jüdische Besiedlung war.

Zionismus rückt nach rechts

In der Folgezeit entwickelte sich der Zionismus weiter nach rechts. Dafür standen der sog. zionistische Revisionismus in den dreißiger Jahren und Führungsfiguren wie Zeev Jabotinsky. Zeitgleich bildeten sich zionistische Milizen, die sowohl gegen die Palästinenser wie vor allem gegen die britische Kolonialmacht kämpften, die ihrerseits zwecks Gewinnung arabischer Unterstützung im 2. Weltkrieg die Einwanderung von Juden nach Palästina zwischen 1940 und 1944 untersagte. Nach z. T. schweren terroristischen Anschlägen vor allem zionistischer Milizen auf die Kolonialmacht Großbritannien gab dieses ihr Mandat an die Vereinten Nationen zurück, die 1947 in der Resolution 181 die Teilung des Gebiets beschlossen.

Trotz des vorausgegangenen massiven Landerwerbs der Zionisten, waren nur geringe Teile Palästinas in jüdischer Hand. Zwecks Eroberung von Boden begann schon im Dezember 1947, also knapp ein halbes Jahr vor der Unabhängigkeitserklärung Israels, der Plan D (auch Plan Dalet), der die systematische Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung vorsah. Es ist also einer der vielen Mythen über die Staatsgründung Israels (14. Mai 1948), wenn immer wieder behauptet wird, die arabischen (vor allem die jordanische und die ägyptische) Armeen hätten die Palästinenser zur (vorübergehenden) Flucht aufgerufen: Nach gewonnenem Krieg würden sie dorthin zurückkehren können.

Nakba

Stattdessen wurden vor und nach der Staatsgründung 700.000 Palästinenser vertrieben. Das ist weit mehr als die Hälfte der damals 1,2 Millionen palästinensischen Einwohner des Landes, in dem gleichzeitig 600.000 Juden lebten. Während der Nakba wurden 774 Dörfer zerstört, 531 davon vollständig. Die Bewohner wurden ermordet oder vertrieben, die Massaker dienten dazu, die Vertreibungen zu befördern. Der Sechs-Tage-Krieg 1967 bot die Gelegenheit zu weiterer Landnahme: Ostjerusalem und die syrischen Golanhöhen wurden völkerrechtswidrig besiedelt und annektiert, im übrigen Westjordanland begann die gleichfalls illegale Besiedlung.

Das Gebiet der sogenannten Westbank wurde weiter zerstückelt und mit Siedlungen bestückt, die palästinensischen Bauern und Hirten vertrieben, so dass es heute, 57 Jahre nach der Besetzung, aussieht wie eine Fläche voller kleiner, unverbundener Flecken. Dass es Israel nicht um eine temporäre Besetzung geht sondern um eine dauerhafte Inbesitznahme wird deutlich daran, dass Israel bisher zwar eine formale Annexion der C-Gebiete (lt. Abkommen von Oslo 1993), also von 62% des im Sechs-Tage-Krieg eroberten Westjordanlands, vermied, de facto jedoch dieses Land mit einer Vielzahl von jüdischen Siedlungen überzog. Die systematische Vertreibung dort geht weiter und wurde im letzten halben Jahr erheblich intensiviert: Seit dem 7. Okt. 2023 wurden über vierhundert Personen, oft Kinder, erschossen.

Unmittelbar nach dem 7. Okt. 2023 legte das Geheimdienstministerium einen Plan vor, der vorsieht, die 2,3 Mio. Bewohner des Gaza-Streifens nach Ägypten zu „transferieren“. Eine solche Vertreibung im großen Stil, sei es auch „nur“ durch die Unbewohnbarmachung des Streifens, kommt einer zweiten Nakba gleich. Die israelische Reaktion auf den Angriff am 7. Oktober scheint so neben dem Kampf gegen die Hamas in eine weitere gigantische ethnische Säuberung einzuleiten.

Die tatsächlichen territorialen und politischen Vorstellungen Israels machte Netanjahu deutlich, als er am 22. September 2023, gut zwei Wochen vor dem Überfall des 7. Oktober, vor der UN-Vollversammlung eine Karte mit dem Titel „The New Middle East“ entrollte, die zwischen „dem Meer und dem Fluss“ (Mittelmeer und Jordan) nur ein einziges, geschlossenes Staatsgebiet, Israel, zeigte. Seine Vorstellungen über die Behandlung der nichtjüdischen Bevölkerung hatte er schon 2018 deutlich gemacht, als er das auf Likud-Antrag beschlossene „Nationalstaatsgesetz“ mit den Worten kommentierte: „Israel ist nicht der Staat aller seiner Bürger.“ Es soll also ein Apartheid-System herrschen, das nur Juden volle Bürgerrechte zugesteht.

Wie aber steht es tatsächlich mit dem zionistischen Projekt?

  1. Der wachsende Einfluss religiös-orthodoxer und ultranationalistischer Kräfte stellt die israelische Gesellschaft vor eine Zerreißprobe und bringt die seit der der Staatsgründung 1948 verdrängte Frage nach einer staatsrechtlich definierten Identität wieder oben auf die politische Tagesordnung. Diese Frage hat schon die Erarbeitung einer Verfassung verhindert, nämlich die Frage wer ist Jude? Die nationalreligiösen Israelis fordern die strenge Auslegung des religiösen Gesetzes, wonach Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde. Da vor allem in den USA Konversionen zum Judentum von liberalen Rabbinern durchgeführt werden, diese aber von den in Personenstandsfragen zuständigen orthodoxen Rabbinern in Israel meist nicht anerkannt werden, gelten Kinder aus Ehen, in denen die Konversion der Mutter als problematisch erachtet wird, dort nicht als Juden, haben also nicht mehr automatisch das Recht auf Einwanderung in den jüdischen Staat, der damit nicht mehr der vom zionistischen Projekt versprochene „sichere Hafen“ für verfolgte Juden aus aller Welt.
  2. Nirgendwo leben Juden heute gefährlicher als in Israel. Genau dies hat der 7. Oktober 2023 mehr als deutlich gezeigt: Erstmalig wurden Juden in großer Zahl auf israelischem Staatsgebiet, getötet, entführt. Damit hat der Zionismus in seinem Kernanspruch versagt. Trotz extremer Militarisierung der israelischen Gesellschaft, trotz der Omnipräsenz seiner weltweit als hoch professionell geltenden Geheimdienste hat der Staat seine Bürger nicht zu schützen vermocht.

Dass Sicherheits- und Polizeiminister Itamar Ben Gvir, einer der Anführer der Nationalreligiösen, inzwischen über 100.000 Schnellfeuergewehre an Siedler verteilen ließ, dürfte weniger der Herstellung der Verteidigungsfähigkeit der Siedler gegen palästinensische Bauern und Hirten dienen. Eher könnte die massenhafte Bewaffnung von in der Regel militärisch gut ausgebildeten Radikalen auch als Vorbereitung auf einen bevorstehenden Bürgerkrieg verstanden werden. Die Entwicklung des Zionismus zu einer militanten, religiös aufgeladenen Ideologie, deren Kern das „auserwählte Volk“ ist, könnte auch das Ende des Zionismus bedeuten, wie wir ihn hundert Jahre kannten, den Staat Israel radikal verändern und den Nahen Osten in ein Zeitalter der Religionskriege katapultieren.

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Werner Ruf


[1] Haaretz, 15. 11. 1968, zit. n. Bunzl. John (2008): Israel im Nahen Osten, Wien, Köln, Weimar, S.40f.

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