Gemeinsamer Kampf in der Türkei und in Griechenland

In wenigen Wochen finden in der Türkei Wahlen statt, die Erdogan vorzeitig ausgerufen hat um sich als Präsident und im Parlament seine Mehrheit langfristig zu sichern. Die türkische Revolutionärin Meltem Oral spricht über die Situation in der Türkei, die Kämpfe der Arbeiterklasse und die Gemeinsamkeiten zwischen griechischer und türkischer Linker.

Εργατικὴ Αλληλλεγὺη: Wie kommentierst du die Entscheidung Erdogans, vorzeitige Wahlen auszurufen?

Meltem Oral: Die Entscheidung für vorzeitige Wahlen war keine Überraschung, wenn wir die Destabilisierung des türkischen politischen Systems bedenken. Die Idee für vorzeitige Wahlen kam von dem Anführer der faschistischen Partei, Devlet Bahçeli, der nunmehr ein Geschäftspartner Erdogans ist in dem, was dieselben „nationale Allianz“ nennen. Die Faktoren, die ein Klima der Instabilität bilden, im Inland, aber auch im Ausland, sind verschiedene. Im Ausland die Entwicklungen an der Syrienfront, die Militärunternehmung in Afrin und die schwankenden Beziehungen mit den USA und mit Russland. Im Inland waren die Krise des Staatsapparates nach dem Versuch der Auferlegung einer Junta, die fortgesetzten Säuberungen, die Reibungen innerhalb der Regierungspartei AKP, die Reaktionen, die die fortgesetzte Anwendung des Ausnahmezustandes erzeugt und die immer mehr angeschwollene Diskussion über eine bevorstehende Wirtschaftskrise Faktoren, die die gewöhnliche Einhaltung des Wahlkalenders verhinderten.
Die Fortsetzung des Ausnahmezustands, die wesentliche Abschaffung der unabhängigen Gerichtsbarkeit, die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage, die Abenteuer und der Opportunismus in der Außenpolitik schaffen ungeheuerliche Spannungen. Die Mehrheit der Gesellschaft war gegen den Putschversuch und demonstrierte für die Bekämpfung und die Verjagung der Putschisten. Diese Leute sehen nun, dass der Putschversuch als Alibi für den Autoritarismus der Regierung verwendet wird. Die vorzeitigen Wahlen sind also ein Versuch, diese Spannungen zum richtigen Zeitpunkt zu kanalisieren, da die Opposition im Moment zersplittert ist. Der Faktor Zeit ist nicht auf Erdogans Seite. Da sich die Spannungen weiterhin anhäufen, kann ein wahrscheinlicher Kampf um die Zeit bei der Wahl buchstäblich einen Bumerang darstellen. Folglich ist es für die Regierung eher besser, das Risiko der vorzeitigen Wahlen einzugehen, statt die wahrscheinlich sichere Niederlage in der Zukunft abzuwarten.

Aber der Wahlsieg der AKP/MHP-Allianz bei den vorzeitigen Wahlen steht nicht fest. Es genügt, sich daran zu erinnern, dass die AKP bei dem letzten Referendum, das für die Akzeptanz des Präsidialsystems durchgeführt wurde, Schwierigkeiten dabei hatte, eine komfortable Mehrheit sicherzustellen, und dass sie in fast allen großen urbanen Zentren verloren hatte. Ob das Ergebnis damals Produkt einer Fälschung war oder nicht ist noch immer ein wichtiges Thema. Die letzten Zählungen zeigen, dass die Regierungskoalition genug Schwierigkeiten dabei haben wird, eine Mehrheit durch Wahlkampf zu schaffen. Schon die Fortführung des Ausnahmezustands, aber auch die Bildung einer Koalition mit den Faschisten der MHP erklärt die Schwäche der AKP-Regierung. Aber in der Opposition herrscht eine Sichtweise eines Anti-Erdogan-Blocks ohne Prinzipien vor. Meral Aksener, ehemaliges Mitglied der faschistischen MHP, oder Abdullah Gül, ehemaliger Präsident, präsentieren sich als wahrscheinliche Kandidaten der Opposition bei den Präsidentschaftswahlen.
Wir sind gegen eine Logik, die einen nationalistischen Kandidaten gegen die nationalistische Regierungskoalition herausholt. Die Ansicht von dem kleineren Übel führt die Opposition in immer mehr dieselben Entscheidungen. Die vereinigte Bemühung muss auf der Basis der Vereinigung der Arbeiterklasse und gegen Krieg und Nationalismus gerichtet stattfinden.

Εργατικὴ Αλληλλεγὺη: Bevor du zum Marxismus-Kongress 2018 nach Athen kommst organisiert ihr euer eigenes entsprechendes Festival. Kannst du uns etwas dazu sagen?

Meltem Oral: Die revolutionären Marxisten der Türkei haben die Veranstaltungen des Marxismus-Kongresses 2018 zwei Wochen vor eurem Kongress. Die 50 Jahre seit den Bewegungen von 1968 und die 200 Jahre seit der Geburt von Karl Marx werden zentrale Themen auf den Veranstaltungen sein. Es ist sehr wichtig in einer Periode der zwischenimperialistischen Antagonismen, der Kriege und des Nationalismus, dass wir Orte schaffen, an denen Revolutionäre aus verschiedenen Ländern die Gelegenheit haben, sich zu treffen und Erfahrungen auszutauschen. Wir halten die Veranstaltungen des Marxismus-Kongresses für einen bedeutenden Schritt für die Schaffung einer internationalen Antikriegsbewegung von unten. Im Programm gibt es Themen wie die Lage im Nahen Osten, die kurdische Frage, die Frauenfrage, die Lehren aus 1968, die Erfahrungen der Arbeiterklasse, den Kampf gegen Rassismus usw. Außer den Genossen und Freunden aus der Türkei werden wir Genossen aus dem Ausland wie John Molineux und Argyri Erotokritou dabei haben.

Εργατικὴ Αλληλλεγὺη: Womit werden die Arbeiterbewegung und die Linke in der Türkei in den letzten Jahren konfrontiert?

Meltem Oral: In den letzten Jahren gab es einen Rückzug der Massenbewegungen besonders aufgrund der Unterdrückung durch den Ausnahmezustand. Die Unternehmung des türkischen Militärs in Syrien mit Afrin als Ziel schaffte ein erstickendes chauvinistisches Klima. Jede Kritik am Krieg und an den nationalistischen, kriegstreiberischen Politikern wird mit Unterdrückung und Inhaftierung beantwortet. Neulich werden Studenten der Boğaziçi-Universität, die einen antifaschistischen Antikriegsmarsch veranstalteten, mit Haftstrafen konfrontiert. Tausende sind in den Gefängnissen, wie unser Genosse Emin Sakir, ohne Prozess, ohne Prozessdokument, ohne zu wissen, wofür sie beschuldigt werden. Eine Lehrerin, die in einer Fernsehsendung erschien und nur sagte: „Die Kinder sollen nicht im Krieg sterben“ wurde mit ihrem gerade sechs Monate alten Kind inhaftiert. Der Ausnahmezustand wird von der Regierung zur Knebelung jeder Art von Opposition verwendet. Gerade gestern sagte Erdogan in einer Erklärung, die er abgab, klar, dass der Ausnahmezustand ein Werkzeug gegen die Streikmobilisierungen sei und damit zum Wirtschaftswachstum beitrage. Aus diesem Grund ist der Erste Mai entscheidend, um zu zeigen, dass die Bewegung und die Linke trotz der Unterdrückung massenhaft da sind.

Εργατικὴ Αλληλλεγὺη: Gibt es Widerstand?

Meltem Oral: Es gibt eine Zunahme des Widerstands der Arbeiter. Die größte Angst der Regierung ist die vor einer massigen Arbeiterbewegung, die auch die Arbeiter mitnehmen würde, die die Regierung wählen. Gerade im letzten Monat entschieden sich 130000 Arbeiter in der Metallbranche, die in drei verschiedenen Gewerkschaften organisiert sind, zusammen dafür, in den Streik zu treten. Unter dem Ausnahmezustand sind Streiks im Wesentlichen illegal. Trotzdem, ab dem Moment, in dem die Arbeiter ihre Entschiedenheit zeigten, selbst illegal zu streiken, gab die Regierung klein bei und wurde dazu gezwungen, viele der Forderungen der Arbeiter zu akzeptieren. Es gibt auch kleinen und großen Widerstand gegen die Privatisierungen und gegen die flexible Beschäftigung.
Andererseits war eine andere Bewegung, die es schaffte, trotz des Ausnahmezustandes auf den Straßen zu bleiben und Leute zu mobilisieren, die Frauenbewegung. Besonders die Märsche am 8. März sind jedes Jahr immer größer. Es sind Märsche, auf denen radikale Parolen hörbar sind, und seit jetzt zwei Jahren verwandeln sie sich in große Veranstaltungen für die Freiheit und den Frieden. Trotzdem ist das generelle Gefühl die Angst. Die Leute fürchten sich wegen der Unterdrückung davor, auf die Straße zu gehen, zu mobilisieren. In diesem Klima der Angst schafften es die Frauen mit verschiedenen Motiven, die Versammlung der Bewegung zu erhalten und eine bedeutende Masse zu versammeln. Sicher ist diese Wirkung eine Seite des globalen Aufschwungs der Frauenbewegung. Aber in der Türkei spielen die Frauen eine entscheidende Rolle dabei, dass der Schrecken auf der Straße zerschellt.

Εργατικὴ Αλληλλεγὺη: Wie bedeutsam ist die internationale Bewegung auf allen Kampffronten?

Meltem Oral: Die Lösung gegen die Enttäuschung, die der Zyklus des Autoritarismus schafft, sind die marxistische Theorie und der internationale Kampf. Die Türkei stellt keine Ausnahme dar. Auf der ganzen Welt beobachten wir den Aufstieg der nationalistischen und kriegerischen Politiker. Die zwischenimperialistischen Antagonismen verschärfen sich. Trump verursacht Spannungen im Nahen Osten (Iran und Syrien) und in Südostasien. Wie wir auch bei dem letzten Angriff auf Syrien gesehen haben, versucht er die westlichen Mächte mittels einer aggressiven Militärpolitik um sich zu sammeln. In einer solchen Zeit ist der Kampf auf internationaler Ebene von entscheidender Bedeutung.
Die Kämpfe auf der ganzen Welt zeigen uns die Hoffnung. In den USA gehen die jungen Menschen gegen die atomaren Aufrüstungen auf die Straße, in Frankreich beobachten wir eine neue Welle von Arbeitskämpfen gegen die Angriffe der Regierung Macron, in Armenien erhebt sich die Bevölkerung gegen die autoritäre Regierung, womit sie den Präsidenten des Landes zum Rücktritt zwingt, in Griechenland der antirassistische Kampf, die tausend, die in Ungarn auf die Straße gegen Orban auf die Straße gingen sind Beweise dafür, dass die Arbeiterklasse noch nicht ihre endgültige Antwort gegeben hat. Andererseits ist heute die Organisierung einer internationalen Antikriegsbewegung von entscheidender Bedeutung. Die diplomatischen und militärischen Spannungen, die sich auf den beiden Ufern der Ägäis verschärfen, ist ein weiteres Zeichen dafür, auf was die Welt zusteuert. Die Linken der Türkei und Griechenlands müssen sofort die Zusammenarbeit in Richtung der Schaffung einer gemeinsamen Bewegung gegen den Krieg verstärken. Das vorherrschende Klima der Spannung kann nur so, durch gemeinsame Antikriegstätigkeit, gekippt werden.

Anmerkung von Meltem Oral: Die erwähnte Lehrerin wurde mittlerweile nach öffentlichem Druck freigelassen.

Meltem Oral ist Mitglied der Revolutionär-sozialistischen Arbeiterpartei (DSIP) in der Türkei. Das Interview erschien zuerst in der Zeitung „Arbeitersolidarität“ (εργατικὴ αλληλλεγγὺη) vom 25.04.18, der Zeitung der Sozialistischen Arbeiterpartei (SEK) in Griechenland, die Teil des antikapitalistischen Parteienbündnisses ANTARSYA ist. Das Interview führte Lena Verdé. Übersetzt wurde es von Angelo Treichel.

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