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Die Cancel-Kulturhauptstadt

Shelly Steinberg unterstützt den jüdisch-palästinensischen Dialog in einem Umfeld, das eher gegenseitiges Töten für politisch und ökonomisch opportun hält.

Demokratie ist immer noch ein No-Go für die ehemalige Hauptstadt der Bewegung. München hat sich der Weltelite der Kriegsindustrie als Luxusschauplatz angedient. Stadtväter und Sicherheitskräfte sehen ihre vornehmste Aufgabe darin, die Teilnehmer vor der Konfrontation mit berechtigter Kritik zu beschützen. Zu den wichtigsten Kampfvokabeln in der Auseinandersetzung mit Gegnern gehört „Antisemitismus“. Ein Gespräch mit Shelly Steinberg1 von der Jüdisch-Palästinensischen Dialoggruppe (JPDG) am Rande der sogenannten Münchner „Sicherheitskonferenz“ (SIKO), wo sich die Kriegstreiber jedes Jahr mit Champagner bespritzen. Das Interview, geführt von Jonny Rieder, erschien am 12.03.2024 erstmals bei manova.

München eigenlobt sich gerne als „bunte“ Stadt, als Streiterin „für eine lebendige, wehrhafte demokratische Stadtgesellschaft, für Freiheitsrechte und für die Rechte von Minderheiten und Andersgläubigen“2. In der Alltagspraxis erweist sich das pathetische Gesums oft genug als Mogelpackung. Wer eine andere Meinung vertritt als die der russophoben, NATO-schmusigen Befürworter des israelischen Feldzugs gegen die Gaza-Bewohner3, wird ganz schnell ausgegrenzt. Anfang Februar beantragten die Fraktionen SPD/Volt und Die Grünen/Rosa Liste eine Streichung der städtischen Unterstützung für die diesjährige Friedenskonferenz, einer Gegenveranstaltung zur SIKO. Und zunehmend nutzt die Stadt ihre Macht, um israelkritische Veranstaltungen zu verhindern.

Jonny Rieder: Die Jüdisch-Palästinensische Dialoggruppe (JPDG) engagiert sich für eine friedliche Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern. Wie sieht das aus?

Shelly Steinberg: Die Gruppe hat sich 1985 gegründet, um einen Rahmen für die Begegnung von Juden/Israelis und Palästinensern zu ermöglichen. Die Palästinenser der Gruppe hatten Juden/Israelis bis dahin nur als Soldaten wahrgenommen, und einige der Juden/Israelis hatten vorher noch nie Kontakt zu Palästinensern. Das zeigt, wie vor Ort eine Trennung der beiden Völker staatlich institutionalisiert ist. Sie mussten also erst hierher nach München kommen, um sich zu begegnen und ins Gespräch zu kommen.

Daraus entstand der Wunsch, auch der hiesigen Bevölkerung zu zeigen, dass ein friedliches Miteinander möglich ist, wenn der Rahmen dafür gegeben ist. Mit Vorträgen, Filmvorführungen, Reisen nach Israel/Palästina et cetera sollen die Münchner auf die Zustände in Israel aufmerksam gemacht werden. Das Interesse ist sehr groß, auch einmal eine andere Sicht zu erfahren als die deutsche offizielle. Ich würde sagen, die Mehrheit der Deutschen hält Israels Vorgehen für falsch. Aufgrund der deutschen Geschichte jedoch fällt es vielen schwer, sich gegen Israel auszusprechen. Andere stellen sich auf keine der beiden Seiten. Für sie ist die JPDG eine Alternative. Wir betrachten selbstverständlich beide Völker als ebenbürtig — mit all ihren Rechten.

Jonny Rieder: Einige Gruppierungen werfen euch Israel-Feindlichkeit vor, weil ihr Konflikte nicht mit Gewalt lösen wollt — im Gegensatz zum israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu, der unter anderem wegen Korruption und Völkermord angeklagt wurde. Sind diese Gruppierungen wirklich Freunde Israels?

Shelly Steinberg: Es gibt ganz unterschiedliche Gruppen, die uns bekämpfen: die Stadt München, die jüdischen Gemeinden, die Deutsch-Israelische Gesellschaft (DIG), Antideutsche, um nur ein paar zu nennen. Mit ihrer „pro-israelischen“ Agenda unterstützen sie nicht Israel an sich, sondern lediglich dessen Regierung und Politik. Wir sehen jetzt ganz deutlich, dass Netanjahus Regierung auch gegen die eigene Bevölkerung vorgeht und den Staat in Richtung Diktatur „reformieren” möchte. Wer Netanjahus Regierung unterstützt, stellt sich ganz klar gegen die israelische Bevölkerung.

Jonny Rieder: Israelweit demonstrieren Tausende gegen Netanjahus Regierung und deren Völkermord im Gaza4 — worüber deutsche Mainstream-Medien kaum berichten -, zeitgleich hetzen in Deutschland die falschen Freunde Israels gegen Versöhnung und Verständigung, indem sie Kritik an Israel als Antisemitismus framen. Wie passt das zusammen?

Shelly Steinberg: Um ihre Agenda durchzusetzen, vermischen und missbrauchen die „pro-israelischen“ Lobbyisten Begriffe wie Antisemitismus, Israelfeindlichkeit und Antizionismus. Die JPDG stellt sich klar gegen Antisemitismus, ebenso wie gegen Zionismus. Diese nationalistische Ideologie deklariert die jüdische Dominanz gegenüber den Palästinensern in Israel/Palästina. Ein zionistischer Staat kann aber keine Demokratie sein. Wer jedoch Israel kritisiert, wird von den vermeintlichen Israel-Unterstützern eben nicht als antizionistisch beurteilt, sondern als antisemitisch diffamiert.

Jonny Rieder: Was verstehst du unter „Antisemitismus“ — im Gegensatz zur willkürlichen Mainstream-Definition? Und schadet der inflationäre Gebrauch des Begriffs nicht Israelis und anderen jüdischen Menschen?

Shelly Steinberg: Antisemitismus ist ganz klar als Hass/Anfeindung gegen Juden aufgrund ihrer bloßen Existenz als Juden definiert. Beim Antisemitismus geht es wie bei jeder anderen Form von Rassismus nicht darum, was gemacht wird, sondern wer etwas macht — nicht das Was, sondern das Wer ist entscheidend. Und daher ist der Antisemitismusvorwurf gegenüber Kritikern der israelischen Politik absurd. Den Palästinensern und ihren Unterstützern ist es egal, dass die Besatzer und Unterdrücker Juden sind. Wären die Besatzer Buddhisten, würden die Palästinenser sich genauso wehren.

Der Israel-Diskurs in Deutschland verläuft jedoch anders: Kein anderes Land verteidigt mit einer regelrechten Obsession alles, was Israel macht, weil es sich dabei um Juden handelt. Israel darf nicht kritisiert werden, eben weil es sich um Juden handelt. Das ist absurd!

Jonny Rieder: Jenseits pathetischer Reden hat die deutsche Politik wenig übrig für Demokratie, sonst würde sie sich nicht Regierungen anbiedern, die alles Mögliche sind, aber keine Demokratien: USA, Saudi-Arabien, Ukraine, Israel…

Shelly Steinberg: Wer die Apartheidpolitik Israels unterstützt, ist kein Unterstützer Israels; denn diese Politik ist auch für Israel schädlich. Und was sagt es über einen Staat aus, dessen eigene Existenz auf der Entrechtung eines anderen Volkes basiert? Trotz der gewalttätigen Reaktionen der Palästinenser kann man nicht von einer „Selbstverteidigung Israels“ sprechen. Hier geht es um die Macht eines Volkes über ein anderes. Es ist auffallend, wie wenig sich die „Pro-Israelis“ auf Fakten beziehen — sie glorifizieren und rechtfertigen jeden Gewaltakt Israels und behaupten, damit Israel zu unterstützen.

Jonny Rieder: Auf der Anti-SIKO-Demo hast du gesagt: „Eine solche Unterstützung ist, wie wenn man seinem betrunkenen Freund auch noch die Autoschlüssel in die Hand drückt.“ Bizarr, wenn deutsche Politiker schwadronieren, sie hätten aus dem Holocaust gelernt, und dann Netanjahu bei seinem Krieg gegen die Palästinenser unter die Arme greifen…

Shelly Steinberg: Ja, es ist erschreckend, wie einige Deutsche sämtliche demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien über Bord werfen, sobald es um Israel geht. Wer Israel wirklich unterstützen möchte, muss sich gegen diese Politik aussprechen. Doch diese Unterstützer merken gar nicht, in was für eine Ecke sie sich selbst stellen. Sie verherrlichen und rechtfertigen Gewalt, verleumden, wenden sich gegen internationales Völkerrecht und unterstützen rechtsextreme Politiker.

Jonny Rieder: Wie kam es zu deiner Rede auf der Anti-SIKO-Demo und wie kam sie an?

Shelly Steinberg: Das Aktionsbündnis gegen die NATO-Sicherheitskonferenz5 hat mich gefragt, ob ich auf der Demo eine Rede halten würde. Ich empfand das als große Ehre. In meinem Umfeld kam dazu nur positive Resonanz. Gerade jetzt, wo die Situation in Israel/Palästina noch katastrophaler ist als je zuvor, ist es wichtig, die Dinge an- und auszusprechen und den Leuten hier auch aufzuzeigen, welche Auswirkungen eine blinde Unterstützung Israels auf Deutschland haben kann.

Jonny Rieder: Israel und seine Waffen-Buddys wurden am Internationalen Gerichtshof (IGH) wegen Völkermord und Beihilfe zum Völkermord angeklagt. Ist das den Bürgern hier bewusst?

Shelly Steinberg: Sollte Israel verurteilt werden, wird nicht nur Israel die Konsequenzen tragen müssen, sondern auch jeder Staat, der diesen Völkermord nicht unterbindet und im schlimmsten Fall — wie Deutschland — auch noch mit Waffenlieferungen unterstützt. Rund 28 Prozent von Israels Waffen-Etat stammen aus deutschen Lieferungen. Sogar jetzt noch, wo schon 30.000 Menschen in Gaza umgebracht wurden, kamen aus Deutschland Panzer- und Schusswaffenmunition für rund 20 Millionen Euro nach Israel. Ich glaube, der deutschen Bevölkerung ist das nicht bewusst.

Was die meisten auch nicht wissen: Ein enormer Teil ihrer Steuergelder fließt in Verleumdungskampagnen gegen israelisch-palästinensische Friedensinitiativen und in die Bekämpfung dieser Initiativen.

Jonny Rieder: Den Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter6 (SPD) hast du mehrfach adressiert in deiner Rede. Was genau wirfst du ihm vor?

Shelly Steinberg: Der Münchner Stadtrat — allen voran OB Reiter — geriert sich als Komplize der pro-israelischen Lobby7 und begeht dafür sogar Verfassungsbruch. Israelkritische Stimmen werden systematisch aus Münchens öffentlichem Diskurs verbannt. Öffentliche Räume für Veranstaltungen wurden uns und anderen Friedensinitiativen über Jahre hinweg vorenthalten, sowie finanzielle Unterstützung vom Kulturreferat.

Dagegen haben Münchner Bürger geklagt. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig8 war eindeutig: Die Vorgehensweise der Stadt missachtet das in der Verfassung verbriefte Recht auf freie Meinungsäußerung. Das heißt, OB Reiter und seine Kollegen haben über Jahre hinweg nicht nur Gesetze, sondern auch ihren Amtseid gebrochen. Damit sind der OB und ein Großteil des Stadtrats nicht mehr tragbar.

Jonny Rieder: Spaßfrage: Hat OB Reiter seine Israel-Bigotterie nach dem Urteil gegen Vernunft getauscht?

Shelly Steinberg: Von wegen. Die Stadt ignoriert den Urteilsspruch aus Leipzig und macht einfach weiter wie gehabt. Sie setzt Einrichtungen unter Druck, damit sie die Mietverträge kündigen, falls israelisch-palästinensischer Friedensinitiativen dort Räume für Veranstaltungen gebucht haben. Die Stadt droht beispielsweise mit dem Entzug städtischer Fördergelder. Das ist Erpressung.

Jonny Rieder: Ist Reiter auf dem israelischen Auge blind?

Shelly Steinberg: Scheint so. Reiter und sein Stadtrat stellen sich auch gegen internationales Recht, etwa beim jährlichen „Israeltag“9 in München, wo OB Reiter stets die Schirmherrschaft übernimmt. Einer dieser „Israeltage” trug das Motto „Vereintes Jerusalem“10. Als meine Eltern Herrn Reiter darauf aufmerksam machten, dass das Motto dem internationalen Recht widerspreche, sagte er: „Da habe ich mich wohl vor den falschen Karren spannen lassen.“

Das heißt, wenn es um pro-israelische Interessen geht, ignoriert Reiter deren Legitimität und Legalität. Aber: ER ist der OB und hat das letzte Wort — theoretisch. Praktisch geriert sich OB Reiter als Laufbursche der Israelitischen Kultusgemeinde. Im Interesse der Pro-Israellobby geht er auch gegen Münchner vor.

Jonny Rieder: Die Stadt München bestimmt seit einiger Zeit selbst, was unter Meinungsfreiheit fällt?

Shelly Steinberg: Ganz genau. Hier ist ganz klar eine Veränderung in der demokratischen Auffassung zu erkennen. Toleranz gibt es nicht mehr. Das lateinische Wort „tolerare“ bedeutet „erdulden, ertragen“. Und genau das ist ein Baustein von Demokratie: andere Meinungen zu erdulden. Das müssen wir ja schließlich auch ständig. Aber im völligen Gegensatz zum Toleranzprinzip setzt die Stadt auf rigorose Cancel-Culture.

Jonny Rieder: München ist sicher nicht die einzige Bewerberin für den Titel der „Cancel-Kultur-Hauptstadt“…

Shelly Steinberg: Bei einem Prozess gegen Uwe Becker (CDU), Ex-Bürgermeister und Kämmerer Frankfurts und heutiger Antisemitismus-Beauftragter Hessens, erklärte ein Richter, die Meinungsbildung habe von unten nach oben stattzufinden und somit würde sich eine Einmischung von oben verbieten. Meinungsfreiheit bedeutet nicht nur das Recht des Einzelnen auf freie Meinungsäußerung, sondern auch das Recht, sich freiheitlich eine Meinung bilden zu können.

Mit ihrer permanenten Zensur missachtet die politische Ebene somit auch das Recht der Gesellschaft, Zugang zu unterschiedlichen Informationen zu bekommen. Die Aufgabe der politischen Ebene ist es, genau dieses Spektrum an Informationen zu gewährleisten und nicht — wie jetzt — eine bestimmte Meinung und Direktive vorzugeben und mit verfassungswidrigen Repressionen durchzusetzen.

Jonny Rieder: Ist die pauschale Annahme, Israelis oder Juden könnten per Definition quasi nur Opfer sein, aber niemals Täter, nicht zutiefst antisemitisch, ähnlich dem sogenannten „positiven Rassismus“11?

Shelly Steinberg: Das ist umgekehrter Antisemitismus oder Philosemitismus. Wenn ein Jude sich öffentlich für den Genozid an den Palästinensern ausspricht und eine entsprechende Gegenwehr erfährt, dann hat das nichts mit Antisemitismus zu tun. Dann wird auf seine menschenverachtende Mentalität reagiert. Dennoch muss derjenige, der so argumentiert, mit einem Antisemitismusvorwurf rechnen. So zum Beispiel auch auf der diesjährigen Berlinale12: Das Wort „Jude“ ist kein einziges Mal gefallen, dennoch wurde dort ein herbeifantasierter Antisemitismus skandalisiert.

Für die Politik ist der Begriff „Genozid“ bezogen auf Israels Gaza-Gemetzel ein Unwort und damit antisemitisch.

Jonny Rieder: Was bezwecken diese absurden Antisemitismus-Vorwürfe, und wie reagiert ihr darauf?

Shelly Steinberg: Der Antisemitismusvorwurf wird von der politischen Ebene als „Wunderwaffe“ gegen unliebsame — in diesem Fall israelkritische — Stimmen verwendet. Aus Angst vor diesem Vorwurf wird allerorts eingeknickt. Damit wurden schon Karrieren zerstört. Das Bequeme an diesem Vorwurf: Er benötigt keine inhaltlichen Argumente. Es gibt keine inhaltliche Auseinandersetzung. Stattdessen wird storniert, gecancelt. Undemokratisch und verfassungswidrig. Klappe zu, Affe tot.

Um sich jedoch nicht komplett lächerlich zu machen, wenn sich der Antisemitismusvorwurf gegen israelkritische Juden richtet, werden die abstrusesten Begriffe erfunden, zum Beispiel „selbsthassende Jüdin“. Es bleibt also nicht bei haltlosen Diffamierungen, es wird auch noch eine Psychoanalyse als Diagnose mitgeliefert. So auch bei meiner Mutter Judith Bernstein. Seit Jahrzehnten schon muss sie sich solche Beschimpfungen und Diffamierungen anhören. Auch vom Münchner Stadtrat

Jonny Rieder: Das klingt nach der guten alten Hexenjagd…

Shelly Steinberg: Bisher haben wir versucht, unsere Meinungsfreiheit im Gespräch einzufordern. Aber zunehmend sehen wir uns gezwungen, vor Gericht zu gehen. Etwa gegen den bereits erwähnten Uwe Becker.

Als Vertreter der Stadt Frankfurt am Main setzte er den dortigen „Club Voltaire“ unter Druck, nachdem meine Mutter Judith dort als Referentin zu einer Veranstaltung eingeladen worden war. Er drohte mit Entzug öffentlicher finanzieller Mittel, sollte Judith dort auftreten, „eine bekannte Antisemitin, die landauf, landab nur Antisemitismus verbreite“. Das Verwaltungsgericht Frankfurt urteilte zugunsten meiner Mutter. Dem Gericht war schlichtweg nicht ersichtlich, inwiefern ihr Handeln antisemitisch sei.

Jonny Rieder: Kürzlich gab es in München Großkundgebungen „gegen rechts“. Wie glaubwürdig sind solche Events, wenn dort auch kriegstreiberische, Völkermord verbrämende Parteien wie SPD und Grüne vertreten sind, gegen die sich eine konsequent gedachte „Demo gegen rechts“ ja ebenfalls richten müsste?

Shelly Steinberg: Politisch gesehen sind diese Demos lächerlich. Ich finde es gut, wenn Bürger gegen rechts auf die Straße gehen. Aber die Vereinnahmung solcher Demos durch deutsche Politiker ist absurd. Man kann nicht hier gegen rechts auf die Straße gehen und gleichzeitig eine faschistische Regierung in Israel unterstützen. Die deutsche Politik verrät mit ihrer Israel-Politik alle demokratischen Werte und macht sich selbst als Demokratie unglaubwürdig. Mehr noch: Um seine pro-israelische Agenda durchzusetzen, beseitigt Deutschland seine eigenen rechtsstaatlichen Strukturen immer weiter.

Israel wird gerne als politischer Maßstab verwendet, à la: „Wer Israel unterstützt, KANN ja gar kein Antisemit sein.“ Das ist schlichtweg falsch: Es sind Anti-Demokraten, die diese Politik und Regierung Israels unterstützen.

Jonny Rieder: In Sachen Demokratieferne sehe ich keinen signifikanten Unterschied mehr zwischen der kriegswilligen Ampelregierung (plus CSU/CDU) und der flüchtlingsfeindlichen AfD.

Shelly Steinberg: Sogar die AfD ist großer Israelfan und hatte schon Netanjahus Sohn Yair Netanjahu auf ihren Wahlplakaten. Jeder, der gegen die AfD auf die Straße geht, sollte sich die kriegstreiberische Politik der restlichen Parteien anschauen und diese kritisieren. Denn die Konsequenzen der Mentalität von „Konfrontation und Krieg statt Diplomatie“, die sich in der deutschen Politik breitgemacht hat, wird jeder einzelne Deutsche früher oder später zu spüren bekommen. Spätestens, wenn der IGH Israel für den Genozid an den Palästinensern verurteilt, werden die Israel unterstützenden Länder auch zur Rechenschaft gezogen werden.

Jonny Rieder: Hoffentlich.

  1. Shelly Steinberg lebt in Tel Aviv und München; ihre Mutter Judith Bernstein ist Mitbegründerin der Jüdisch-Palästinensischen Dialoggruppe und hat in München Stolpersteine verlegt. ↩︎
  2. Die Zitate stammen aus einer Rede von Münchens derzeitigem Oberbürgermeister Dieter Reiter am 27. Januar 2023, dem Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust und des Nationalsozialismus ↩︎
  3. Zumindest sehen das die Regierungen vieler Nicht-NATO-Mitgliedsstaaten so, zum Beispiel Brasilien, Kolumbien, Marokko, Nicaragua, Pakistan und Südafrika, sowie viele Israelis, die tagtäglichen gegen Netanjahus Regierung demonstrieren ↩︎
  4. vgl. unter anderem den Beitrag auf der Website von Al Jazeera: Thousands rally across Israel calling for Netanyahu’s resignation; https://www.aljazeera.com/gallery/2024/1/28/thousands-rally-across-israel-calling-for-netanyahus-; Und bei CNN: Anti-government protests in Israel draw thousands as frustrations grow over hostage crisis; https://edition.cnn.com/middleeast/live-news/israel-hamas-war-gaza-news-02-04-24/h_2f1652470e4669a018f44ae3855bdc49 ↩︎
  5. Aktionsbündnis gegen die NATO-Sicherheitskonferenz (#antisiko): https://www.sicherheitskonferenz.de/ ↩︎
  6. OB Reiter hat seine überragende Demokratietauglichkeit schon des Öfteren bewiesen, etwa als er 2022 den Chefdirigenten der Münchner Philharmoniker, Valery Gergiev, entließ, weil dieser sich nicht „von der russischen Invasion der Ukraine“ distanzierte — ganz so, als wäre es die vertragliche Aufgabe eines Musikers, zu politischen Ereignissen Stellung zu nehmen. 2023 versuchte Reiter vergeblich, ein Konzert des Pink-Floyd-Gründers und Menschenrechtsaktivisten Roger Waters zu verhindern. ↩︎
  7. Shelly Steinberg nennt hier speziell die Israelitische Kultusgemeinde unter dem Vorsitz Charlotte Knoblochs. ↩︎
  8. Am 13. Dezember 2017 fasste die Stadt München einen Beschluss „gegen Antisemitismus“, wonach sie sich das Recht gibt, Veranstaltungen zu verbieten, die ihrer Vorstellung von Antisemitismus entsprechen. Das Bundesverwaltungsgericht hat diesen Beschluss 2022 als rechtswidrig eingestuft, weil er das Recht auf Meinungsfreiheit verletze. (Urt. v. 20.01.2022, Az. 8 C 35.20). https://www.bverwg.de/de/200122U8C35.20.0 ↩︎
  9. Israeltag: Propaganda-Veranstaltung der israelischen Regierung (https://i-like-israel.de/israeltag-2022/) ↩︎
  10. Vereintes Jerusalem: Vgl. Deutscher Bundestag: Völkerrechtliche Bewertung der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels, 2018; https://www.bundestag.de/resource/blob/547174/adebd0ea6bd7a85c6c49671547fc3b50/wd-2-009-18-pdf-data.pdf ↩︎
  11. Positiver Rassismus: Form des Rassismus, die Menschen aufgrund äußerer Merkmale wie Hautfarbe et cetera pauschal positive Eigenschaften zugeordnet. ↩︎
  12. Auf der Berlinale 2024 kritisierte der US-amerikanische Filmemacher Ben Russell den Genozid Israels an den Palästinensern, worauf ihm vielfach die Antisemitismus-Keule über den Schädel gezogen wurde. Vgl. Der eigentliche Berlinale-Skandal auf den Nachdenkseiten (https://www.nachdenkseiten.de/?p=111697). Ähnlich erging es seinen Kollegen Yuval Abraham (Israel) und Basel Adra (Palästina) nach ihrer Berlinale-Rede, in der sie Deutschland aufforderten, keine Waffen mehr an Israel zu liefern. https://www.youtube.com/watch?v=nZBbOBPLSvA ↩︎

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