Syrien ist aus den Nachrichten verschwunden, der Krieg allerdings noch lange nicht am Ende. Die Freiheitsliebe und JusticeNow! haben den syrisch-stämmigen Politikwissenschaftler Joseph Daher zum Themenkomplex befragt. Während im ersten Teil des Interviews aktuelle Entwicklungen des Syrien-Kriegs, und die Rolle sowohl des Westens als auch des IS beleuchtet wurden, geht es im zweiten Teil vor allem um das Verhältnis Syriens zum Iran und die Einordnung des Krieges in den globalen Kontext imperialer Kriege.
Die Freiheitsliebe/JusticeNow!: In einem Arbeitspapier für die SOAS University of London hast Du 2011 untersucht, wie sich in Palästina und im Libanon linke Gruppierungen mit islamistisch-nationalistischen Gruppen im Kampf gegen den vermeintlich gemeinsamen Feind zusammenschlossen. Welche Rolle spielt aktuell die syrische Linke und sind derart ungewöhnliche Bündnisse auch in Syrien denkbar? Wäre im sechsten Jahr des Krieges ein solcher Pragmatismus möglicherweise angebracht?
Joseph Daher: Ich denke, es ist wichtig, eine völlige politische Unabhängigkeit zu den beiden Akteuren der Gegenrevolution in der MENA-Region [Middle East and North Africa, Anm. J.R.] aufrecht zu erhalten: das sind auf der einen Seite die Vertreter der ehemaligen autoritären Regime und auf der anderen Seite die islamistischen Kräften. Leider war diese Abgrenzung bei vielen „linken“ und demokratischen Kräften nicht der Fall.
Die zwei genannten Akteure sind Feinde der ursprünglichen Ziele der Revolution. Die Volksbewegungen und Aktivistengruppen, die diese Ziele verkörperten, wurden von beiden Kräften immer wieder angegriffen. Die Vertreter des autoritären Regimes und der reaktionären islamistischen Kräfte verkörpern die Konterrevolution – trotz ihrer unterschiedlichen politischen Propaganda.
Die Vertreter des Assad-Regimes präsentieren sich als die Verteidiger der Moderne, als die Retter der Einheit der Nation und die Sieger im Kampf gegen den „Terrorismus“. Die islamistischen Kräfte stellen sich ihrerseits als Garant des Islams, der Moral und der Authentizität der islamischen und arabischen Identität dar, und suchen die Verbindung mit der islamischen „Umma“ [religiös fundierte Gemeinschaft der Muslime, Anm. J.R.].
Sicherlich unterscheiden sie sich nach Außen hin, doch sollte uns das nicht vergessen lassen, dass beide Gruppen ein sehr ähnliches politisches Projekt teilen: der Wille, demokratische und soziale Rechte zu beschneiden und zu unterdrücken, und gleichzeitig den Fortbestand der kapitalistischen Produktionsweise zu gewährleisten und die neoliberale Politik fortzusetzen, durch die die Bevölkerung weiter verarmt. Beide konterrevolutionären Kräfte haben nie eine Möglichkeit ausgelassen, das syrische Volk auf der Basis von religiöser, ethnischer, geschlechtlicher oder regionaler Zugehörigkeit zu spalten und gegeneinander aufzuhetzen.
Diejenigen, die sich entscheiden, „das geringere Übel“ zu unterstützen, wählen den Weg der Niederlage und der Aufrechterhaltung eines ungerechten Systems. Die Aufgabe der Revolutionäre ist es nicht, zwischen den verschiedenen Fraktionen des Bürgertums oder der Konterrevolution zu wählen, die jeweils von verschiedenen internationalen und regionalen imperialistischen Akteuren unterstützt werden. Die Rolle der Progressiven ist es, sich den verschiedenen konterrevolutionären Kräften entgegenzustellen und eine unabhängige Front aufzubauen. Eine demokratische, soziale, antiimperialistische Grundlage muss etabliert werden und alle Formen der Diskriminierung müssen bekämpft werden. Außerdem müssen sie für die radikale Veränderung der Gesellschaft eintreten, in der die unterdrückten Klassen in einer „Dynamik von unten“ die Akteure des Wandels werden. Dies sind die Schlüsselaufgaben der Progressiven.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir zum Beispiel die massenhaften Menschenrechtsverletzungen und Repressalien gegen die Muslimbrüder in Ägypten nicht verurteilen würden, obwohl wir diese als reaktionär betrachten. Es ist die Pflicht der Linken, die demokratischen Rechte aller zu verteidigen.
Wenn es Möglichkeiten zur Einheit mit einigen Teilen der Volksbasis der Muslimbrüder gibt, etwa auf der Ebene von Demonstrationen unter demokratischen und nicht-religiösen Parolen und Zielen, sollte darüber nachgedacht werden.
Dieses Dilemma wurde in einem Interview mit Gilbert Achcar sehr gut erklärt: „Es sind die altbekannten Regeln gemeinsamer Aktionen mit Gruppen, mit denen wir nicht viel gemeinsam haben – außer dem gemeinsamen Feind. Sie wurde vor über einem Jahrhundert von einem russischen Revolutionär zusammengefasst, und ich wiederhole sie hier gerne:
1) Legt eure Organisationen nicht zusammen. Schlagt vereint zu, aber lauft getrennt.
2) Gebt die eigenen politischen Forderungen nicht preis.
3) Verschweigt die abweichenden Interessen nicht.
4) Achtet aufmerksam auf den Verbündeten, wie auf einen Feind.
5) Konzentriert euch mehr darauf, die Situation zu nutzen, als den Verbündeten zu halten.
Auch militärische Zusammenarbeit ist in dieser Perspektive natürlich enthalten.
Die Freiheitsliebe/JusticeNow!: Bei aller berechtigten Kritik am Regime in Teheran, unter Präsident Rohani hat sich der Iran international geöffnet (Atomdeal, Ende der Sanktionen), wie es unter Rohanis unsäglichem Vorgänger Ahmadinedschad noch undenkbar gewesen wäre. Was könnte das für Teherans engen Verbündeten Assad bedeuten? Naiv gefragt, könnte der Iran gar eine Vermittlerrolle zwischen dem Westen und Assad einnehmen?
Joseph Daher: Nein, die Islamische Republik Iran könnte nie die Rolle eines Vermittlers zwischen der westlichen Welt und Assad spielen. Es ist ein Hauptverbündeter des Assad-Regimes.
2013 wurde Hassan Shateri, General einer iranischen Spezialeinheit, nähe Damaskus durch einen israelischen Luftschlag getötet. By sayyed shahab-o- din vajedi, licensed under CC BY 4.0.
Seit Beginn des Aufstands in Syrien haben die Sicherheits- und Nachrichtendienste des Iran das Assad-Regime unterstützt. Diese Unterstützung hat sich zu einer Trainingsmission ausgeweitet, bei der zusätzlich auch die iranischen Revolutionsgarden (IRGC) und deren Eliteeinheit die Quds-Brigaden in Syrien stationiert wurden. Außerdem hat der Iran mit essentiellen Waffenlieferungen das Assad-Regime und die regimetreuen Shabiha-Milizen unterstützt. Das Ausmaß der Beteiligung iranischer Eliteeinheiten in Syrien wurde deutlicher, als im Februar 2013 der iranische General Hassan Shateri, aus Aleppo kommend und nach Beirut unterwegs, im Umland von Damaskus ermordet wurde. Shateri war ein ranghoher Befehlshaber der Quds-Brigaden.
Alaeddin Boroujerdi, der Vorsitzende des Ausschusses für Außenpolitik und Nationale Sicherheit im iranischen Parlament, erklärte in Damaskus im Juni 2015, dass die Unterstützung des Iran für das syrische Regime „stabil und konstant“ sei und betonte, dass es keinerlei Grenzen in der Zusammenarbeit mit Syrien gebe.
Neben seiner militärischen Unterstützung hat der Iran auch drei wichtige Kredite an das Assad-Regime vergeben. Salam al-Saadi schreibt in Carnegie:
- Das erste Darlehen über 1 Mrd. Dollar kam im Januar 2013, nachdem die syrischen Staatseinnahmen bereits auf 50 Prozent des Vorkriegsniveaus abgestürzt waren. Das Assad-Regime hat diese Darlehen für importierte Lebensmittel aufgewendet und um die syrischen Währungsreserven zu stützen, die aufgrund explodierender Militärausgaben seit dem Beginn des Aufstands nahezu erschöpft waren.
- Das zweite Darlehen über 3,6 Mrd. Dollar kam im August 2013 und war in erster Linie für den Kauf von Ölprodukten vorgesehen.
- Im Juni 2015 hatte der Iran seine „vorläufige Genehmigung“ für einen weiteren Kredit in Höhe von 1 Mrd Dollar erteilt, der den Import von Finanzprodukten erleichtern sollte. Dieses Darlehen soll vordergründig den starken Wertverfall des syrischen Pfunds kompensieren, indem mehr Geld in den Markt gepumpt und so der Zusammenbruch der lokalen Währung vermieden wird.
Die Kredite wurden von einer Vielzahl von Vereinbarungen beider Regimes über wirtschaftliche und finanzielle Zusammenarbeit begleitet, die noch zum Ausbruch der Proteste im Jahr 2011 relativ klein war, ganz im Gegensatz zu den wirtschaftlichen Beziehungen Syriens mit der Türkei und den Golfmonarchien.
Im Jahr 2012 begannen die beiden Regimes, ein Freihandelsabkommen umzusetzen, was dazu führte, dass die meisten der gehandelten Waren jetzt keinen Steuern und Zöllen mehr unterliegen. Der Handel zwischen beiden Ländern hat sich von etwa 300 Mill. Dollar im Jahr 2010 auf 1 Mrd. Dollar 2014 mehr als verdreifacht.
Im Juli 2013 befreite Damaskus ein iranisches Lebensmittelunternehmen von sämtlichen Steuern auf Lebensmittel, die nach Syrien importiert werden. Es gab unbestätigte Berichte, der Iran habe versucht, von der syrischen Regierung Sicherheiten für die Darlehen auch in Form von Immobilienvermögen oder anderem Staatseigentum zu erhalten.
Beide Länder haben ihren Wunsch deutlich gemacht, mit Hilfe von zwei neuen Seerouten das Handelsvolumen auf 2 Mrd. Dollar im Jahr 2015 erneut zu verdoppeln. Obwohl auch dieser Betrag nicht unbedingt sehr hoch erscheint – vor allem im Vergleich mit den mehr als 10 Mrd. Dollar jährlichem Handel zwischen Iran und Irak – ist solch ein Wachstum während eines blutigen Krieges dennoch bemerkenswert.
Im Mai 2015 unterzeichneten Syrien und Iran mehrere Investitionsabkommen im Öl-, Strom- und Industriesektor.
Neben den lukrativen Verträgen, die iranische Unternehmen derzeit in Syrien genießen und die den Handel zwischen beiden Ländern ankurbeln sollen, ist Syrien auch in die Zukunftsplanungen des Iran zur Ausweitung seiner Aktivitäten im globalen Erdgasmarkt eingebunden. Syriens Abhängigkeit von iranischen Finanzspritzen erlaubte es dem Iran, 2011 ein Abkommen zu unterzeichnen, das den Bau einer Pipeline vorsieht, die iranisches Gas durch den Irak und Syrien transportiert – bestimmt für den europäischen Markt. Während der Krieg in Syrien den Bau dieses so wichtigen iranischen Projekts blockiert hat, würde ein Sturz des syrischen Regimes die Hoffnungen Irans zunichte machen, die Pipeline zu bauen und so seinen Anteil am globalen Erdgasmarkt zu erhöhen.“
Auch die libanesische Hisbollah – ideologisch und politisch dem Iran stark verbunden – ist ein wichtiger Akteur pro Assad-Regime. Die Hisbollah hat militärisch Seite an Seite mit den syrischen Streitkräften gekämpft. Ebenso kämpfen schiitische Milizen aus dem Irak zur Unterstützung von Assad. Ihre Anwesenheit wurde im Jahr 2012 mit der Gründung der Abu al-Fadhal al-Abbas-Brigade offenkundig, einer regierungsnahen Miliz, die aus syrischen und ausländischen schiitischen Kämpfer besteht, darunter Mitglieder der libanesischen Hisbollah und der irakischen Milizen Asa’ib Ahl al-Haqq und Kata’ib Hisbollah.
Was das Ende der Iran-Sanktionen angeht, so sollten wir für das iranische Volk glücklich sein! Denn die Menschen waren es, die am meisten unter den Sanktionen gelitten haben, während das Regime in Teheran sie als Ausrede benutzen konnte, um die sozioökonomischen Probleme des Landes herunterzuspielen. Nach meinen Informationen liegt die Inflation im Iran bei rund 20 Prozent (offizielle Angaben), und der Mangel an Basisprodukten wie Medikamenten hält weiter an, während die Arbeitslosenquote bei etwa 25% liegt und 40% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt.
Die neoliberale Politik der früheren Regierungen, einschließlich und vor allem die des Populisten Ahmadinedschad, wurde unter dem aktuellen Präsidenten Hassan Rohani fortgesetzt. Eshaq Jahangiri, Rohani Vizepräsident, sagte Anfang 2016: „Die Regierung ist in einer bestimmten politischen und wirtschaftlichen Situation gefangen, die erhebliche Maßnahmen erfordert. Wir müssen auf wichtige Fragen reagieren, einschließlich der weit verbreiteten Arbeitslosigkeit,“ und fügte hinzu, dass „der Iran einen großen Bevölkerungsanteil junger Leute hat. Wenn wir nicht in der Lage sind, diese Probleme zu lösen, wird sich diese Gegebenheit zu einer ernsten Bedrohung auswachsen.“
Darüber hinaus attackieren die Regierung und die Bosse immer wieder Arbeiter, die versuchen, unabhängige Gewerkschaften zu gründen, und sperren sie hinter Gittern. Die Sprecher von Streikenden werden systematisch entlassen und wegen „Wirtschaftssabotage“ angeklagt…
Die linken und progressiven Kräfte im Iran sollten trotz der harten Repressionen die Gelegenheit nutzen, und die Widersprüche des Regimes, ihre Lügen und die Korruption offenlegen und anprangern. Ihre Politik hat das iranische Volk weiter in Armut getrieben, während ihre autoritäre und reaktionäre Politik alle Bereiche der Gesellschaft betrifft: Frauen, Arbeiter, religiöse Minderheiten, etc…
Der Atom-Deal wird das Land natürlich für Auslandsinvestitionen und den weltweiten Handel öffnen, die Führung macht sich auch stark für die Privatisierung verschiedenster Sektoren der Wirtschaft. Doch es wird ausschließlich bei der wirtschaftlichen Öffnung bleiben – zu einer politischen Öffnung wird es nicht kommen. Das Regime wird seine autoritäre Natur beibehalten. Auch die Präsidentschaft von Rohani hat nichts an dieser Situation geändert, obwohl er von vielen als Reformer mit freiheitlichen Werten präsentiert wird. Mehr als 960 Menschen wurden im Jahr 2015 durch das Regime hingerichtet, trauriger „Rekord“ seit 1989.
Für die syrischen revolutionären Kräfte wäre es gewiss das Beste, würde auch das Regime im Iran von den dortigen Revolutionären gestürzt, doch das Gegenteil ist der Fall.
Die Freiheitsliebe/JusticeNow!: Syrien ist neben der Ukraine und Jemen zur wichtigsten Front eines vielschichtigen Stellvertreterkrieges verkommen, bei dem einerseits die alten Feinde Russland und USA, aber auch die Regionalmächte Saudi-Arabien und Iran gegeneinander kämpfen. Wie bewertest Du persönlich diese tragische Rolle Syriens als Spielball ausländischer Mächte? Und vor allem, wie relevant ist die große Weltpolitik für die Menschen vor Ort?
Joseph Daher: Trotz ihrer Rivalitäten verfolgen imperialistische und sub-imperialistische Interventionen dennoch auch gemeinsame Ziele: die im März 2011 eingeleitete revolutionäre Bewegung zu zerschlagen, (zumindest kurz- und mittelfristig) das Regime in Damaskus zu stabilisieren und seinen kriminellen Diktator an der Spitze zu halten, und den IS militärisch zu besiegen.
Wir dürfen uns nicht einbilden, dass die imperialistischen Rivalitäten zwischen den Vereinigten Staaten, China und Russland auf globaler Ebene unüberwindbar seien, denn sie alle stehen in der Realität auf vielen Gebieten in starken gegenseitigen Abhängigkeiten zueinander. Und sie alle sind bürgerliche Regimes, die schon immer die Feinde der Volksrevolutionen waren, und daher versuchen, einen stabilen politischen Kontext herzustellen, um so in Missachtung der Interessen der Bevölkerung ihr politisches und wirtschaftliches Kapital zu akkumulieren. Keine regionale oder internationale Macht ist ein wahrer Freund der syrischen Revolution. Die Quelle des Aufstands in Syrien oder auch anderswo in der Region waren natürlich nie die imperialistischen Widersprüche, sondern immer die politische und sozioökonomische Frustrationen der Bevölkerung.
Die verschiedenen imperialistischen Mächte und regionalen Regimes haben trotz ihrer Rivalität in der Tat ein gemeinsames Interesse an der Niederschlagung der Volksrevolutionen in der Region, und wie oben gezeigt ist Syrien das offensichtlichste Beispiel.
Die Türkei, Saudi-Arabien und Katar ihrerseits wollen wie kein anderer den Sturz der Assad-Familie – nicht jedoch die Beseitigung des Regimes und seiner Institutionen. Die Golf-Monarchien und private Netzwerke in diesen Ländern wollen die Volksrevolution in einen religiös aufgeheizten Bürgerkrieg verwandeln, denn sie befürchten, ein demokratisches Syrien und eine Ausbreitung der Revolution in der Region, würde ihre Macht und ihre Interessen gefährden. Zur Erinnerung: die Türkei, Saudi-Arabien und Katar genossen vor dem Aufstand 2011 noch gute Beziehungen zum Assad-Regime. Anschließend unterstützten sie dann politisch und wirtschaftlich islamistische Bewegungen wie Jabhat Al-Nusra, Ahrar Sham, Army of Islam und andere ähnliche Gruppen, die allesamt eine fundamentalistische und reaktionäre Ideologie im absoluten Widerspruch zum Geist der Revolution pflegen.
Die Umwandlung des Geistes der Revolution in einen scheinbar religiösen Krieg versetzte die Golf-Monarchien in die Lage, die eigenen Bevölkerungen zu erpressen: ‘Seht her, alle Umwälzungen in der Region sind extrem anfällig, in einen Religionskrieg zu eskalieren. Wir sollten daher unbedingt den Status quo festigen.‘ – mit anderen Worten: die diktatorische Macht soll unangetastet bleiben.
Der türkische Staat seinerseits will nicht tatenlos zusehen, wie sich der Einfluss der PKK [von Ankara als Terrororganisation eingestufte Arbeiterpartei Kurdistans, Anm. J.R.] in Syrien entlang der gesamten Grenze zur Türkei weiter festigt, und unterstützt daher die Koalition der Army of the Conquest, dominiert von Jabhat Al-Nusra und Ahrar Sham. Die beiden letztgenannten Gruppen, vor allem aber Jabhat Al-Nusra, haben seit 2013, viele Angriffe gegen die Kräfte der PYD [syrische Kurdenpartei, Anm. J.R.] und andere syrische Gruppen und Zivilisten durchgeführt und begingen Menschenrechtsverletzungen und Übergriffe gegen kurdische Zivilisten.
Die türkische Regierung hat erneut bekräftigt, dass in ihre Augen die PKK und Daesh (IS) auf einer Stufe stünden. Der türkische Premierminister erklärte außerdem, dass Ankara nicht zögern würde, auch die Kräfte der PYD (syrische PKK) in Syrien zu bombardieren, so wie sie die PKK im Nordirak bombardiert.
Heute besteht die Aufgabe darin, jeder Möglichkeit zur Beendigung des Krieges offen gegenüber zu stehen: das syrische Volk hat schon viel zu lange gelitten. Und die meisten von ihnen streben nach einem Übergang hin zu einem demokratischen Syrien. Doch jede Form einer „realistischen Lösung“ – wie Offizielle und Analysten es so gerne formulieren – kann mittel- und langfristig nicht Assad und andere Kriminelle des Regimes mit Blut an den Händen umfassen, sonst werden wir eine Fortsetzung des militärischen Konflikts in Syrien und der Bedingungen beobachten, die erst zum Aufstieg von Daesh (IS) geführt haben.
Assad und seine verschiedenen Verbündeten im Regime müssen für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Ein ähnlicher Prozess sollte auch für die Verbrechen der islamistischen Kräfte und anderer Gruppen angestrebt werden. Um auch nur die kleinsten Veränderungen erwarten zu können, müssen wir verstehen, dass nicht nur Assad gestürzt werden muss, sondern müssen auch hohe Beamte in den Geheimdiensten, in der Armee und weitere Schlüsselfunktionäre entmachtet und zur Rechenschaft gezogen werden. Wenn wirkliche Veränderungen das Ziel sind, muss die patrimoniale Natur des syrischen Regimes ins Zentrum der Analyse gesetzt werden.
Jede Übergangsphase hin zur Demokratie sollte das Ende des Assad-Regimes beinhalten und nicht deren Aufrechterhaltung.
Abschließend ist zu betonen, dass es nicht die Aufgabe der progressiven Kräfte sein kann, sich zwischen zwei imperialen Mächten oder deren Proxies zu entscheiden. Alle äußeren Akteure stehen mehr oder weniger im Wettbewerb um politischen Machtgewinn und die Ausbeutung von Ressourcen oder anderen Völkern. Diese Lesart würde das Verständnis des antikapitalistischen Kampfes ad absurdum führen, denn der Kampf der progressiven Kräfte muss immer den Interessen der einfachen Arbeiter und dem Befreiungskampf des Volkes von sämtlichen Formen des globalen imperialistischen Systems dienen. Den einen Imperialismus dem anderen vorzuziehen, garantiert daher lediglich die Stabilität des kapitalistischen Gesamtsystems und die Ausbeutung der Völker.
Julius Jamal und Jakob Reimann danken Joseph Daher recht herzlich für seine ausführlichen, höchst informativen Antworten!