„Das Ziel der Schnellverfahren ist, Asylsuchende abzulehnen“ – Clara Bünger

Anlässlich der neuen Asylregelung in der EU unterhielten wir uns mit Clara Bünger, der fluchtpolitischen Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag.

Anfang Juni hat die EU eine neue Asylregelung beschlossen. Was beinhaltet diese?

Genau genommen wurde noch keine Regelung beschlossen, aber die EU-Innenminister*innen haben eine gemeinsame Position festgelegt, um in den kommenden Monaten mit dem Europäischen Parlament und der EU-Kommission über die Reform des Europäischen Asylsystems zu verhandeln. Anfang 2024 könnten die Regelungen dann beschlossen werden, also bevor das Europäische Parlament neu gewählt wird. Andernfalls müsste mit dem Gesetzgebungsverfahren wieder von Neuem begonnen werden.

Die Vorschläge, über die nun verhandelt wird, liegen seit September 2020 auf dem Tisch. Besonders kritikwürdig ist der Vorschlag für eine Asylverfahrensverordnung. Darum drehen sich auch die Diskussionen der letzten Wochen. Diese sieht verpflichtende Grenzverfahren an den EU-Außengrenzen für bestimmte Gruppen vor. Grenzverfahren sind entgegen der Behauptung von Nancy Faeser & Co. keine normalen Asylverfahren. Es sind unfaire Schnellverfahren, die das Ziel haben, Asylsuchende abzulehnen und sie möglichst schnell wieder abzuschieben. Sie finden unter faktischen Haftbedingungen statt, weshalb kein Zugang zu unabhängiger Beratung gegeben ist. Außerdem sind die Beschwerdemöglichkeiten gegen ablehnende Entscheidungen eingeschränkt.

Der Verordnungsvorschlag beinhaltet ferner eine drastische Ausweitung der sogenannten Drittstaatenregelung. Es soll künftig ausreichen, wenn in Teilen der als „sicher“ eingestuften Staaten „effektiver Schutz“ besteht, die Genfer Flüchtlingskonvention muss nicht mehr ratifiziert sein. Das würde es erlauben, Staaten wie Tunesien, Ägypten und Marokko als „sicher“ zu definieren und Asylsuchende in diese Transitstaaten abzuschieben. Beim EU-Türkei-Deal wird genau das seit Jahren erprobt. Diese Praxis höhlt das individuelle Recht auf Asyl gefährlich aus. Bei der Asylverfahrensverordnung handelt es sich in Wirklichkeit um eine Asylverhinderungsverordnung.

Die Regelung beinhaltet also auch, dass Kinder und Familien an den Außengrenzen in Lager kommen. Wie erklären Grüne und SPD die Zustimmung zu solchen Regelungen ihren Parteien?

Zunächst einmal ist es mir wichtig zu betonen, dass niemand in Haftlager kommen darf, weil er oder sie einen Asylantrag gestellt hat. Grund- und Menschenrechte gelten ja nicht nur für Familien und Kinder, sondern für alle Menschen. Aber natürlich ist es besonders schlimm, wenn Kinder inhaftiert werden. Das räumen auch SPD und Grüne ein – und beteuern, die Bundesregierung würde sich in den Verhandlungen auf EU-Ebene weiter dafür einsetzen, dass diese Gruppe aus den Grenzverfahren ausgenommen wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich das noch durchsetzen lässt, geht aber gegen Null.

Darauf angesprochen behaupten Vertreter*innen dieser Parteien meist, es bräuchte dringend eine Reform des europäischen Asylsystems, weil die bisherigen Regelungen durch viele Mitgliedstaaten nicht umgesetzt würden, was zu einem Zustand der Rechtlosigkeit führe. Ein Teil davon stimmt sogar: Es gibt längst ein europäisches Asylsystem, und es gibt völker- und menschenrechtliche Verpflichtungen, die viele Mitgliedstaaten mit Füßen treten. Stichwort Pushbacks, Massengrab Mittelmeer, Haftlager auf den griechischen Ägäis-Inseln und anderswo. Es ist allerdings absurd, auf diese untragbare Situation zu reagieren, indem man die Rechte von Flüchtenden noch weiter einschränkt! Denn damit kommt man den Rechten entgegen, die am liebsten überhaupt keine Schutzsuchenden mehr aufnehmen würden. Stattdessen müssten alle demokratischen Kräfte das Recht auf Asyl gegen Angriffe von rechts entschlossen verteidigen.

Von SPD über Grüne bis zur AfD finden sich positive Stimmen und Bezüge auf die Regelung. Rechte erklären glatt, sie hätten sich durchgesetzt. Trifft das zu?

Es ist tatsächlich so, dass alle im Bundestag vertretenen Parteien mit Ausnahme der LINKEN die Vorschläge für die Reform des EU-Asylsystems unterstützen. Das zeigt auch das Abstimmungsverhalten bei einem Antrag, den wir als Linksfraktion eingebracht haben. Darin wird die Bundesregierung aufgefordert, Grenzverfahren an den EU-Außengrenzen und der Verschärfung der Drittstaatenregelung nicht zuzustimmen. Es geht also um Minimalforderungen. Doch mit Ausnahme der LINKEN haben alle Fraktionen diesen Antrag abgelehnt.

Es ist leider zutreffend, wenn Rechte die beispiellosen Asylrechtsverschärfungen als ihren Erfolg feiern. Zu nennen sind da auch rechte Regierungen wie die von Ungarn und Polen, die sich seit Jahren weigern, überhaupt Geflüchtete aufzunehmen. Die Idee für Schnellverfahren an der Außengrenze kommt aber nicht von ihnen, sondern aus Deutschland: Der damalige Innenminister Horst Seehofer hat diesen Vorschlag 2019 erstmals öffentlich geäußert. Damals kam von SPD und Grünen scharfe Kritik. Und jetzt sind sie es, die diese menschenfeindlichen Pläne weiterverfolgen.

DIE LINKE, einige Gewerkschaften und Asylorganisationen scheinen die Einzigen zu sein, die wirklich Widerstand leisten. Ist diese Regelung noch zu verhindern?

Ich bin ehrlich gesagt pessimistisch. Gerade sind vor der griechischen Küste Hunderte Menschen ums Leben gekommen – vor den Augen der griechischen Küstenwache, die nichts unternahm, um den Ertrinkenden zur Hilfe zu eilen. Als sich vor etwa zehn Jahren vor Lampedusa eine vergleichbare Katastrophe ereignete, gab es einen öffentlichen Aufschrei, und in Italien wurde die Seenotrettungsmission „Mare Nostrum“ aufgelegt. Heute hält sich das öffentliche Interesse in Grenzen. Mein Eindruck ist, dass die Menschen angesichts der mörderischen Realität an den Außengrenzen zunehmend abstumpfen. Es ist ja nicht so, als gäbe es keine Belege für die andauernden Verbrechen der EU-Staaten. Pushbacks, systematisches Ertrinkenlassen, die Kooperation mit libyschen Milizen usw. sind vielfach belegt. Aber viele scheinen schlicht die Hoffnung verloren zu haben, dass sich daran etwas ändern lässt, und dass es sich lohnt zu kämpfen.

Bei dem Gesetzgebungsprozess auf EU-Ebene kommt noch dazu, dass dieser sehr komplex und für Personen, die sich damit nicht beruflich beschäftigen, kaum nachvollziehbar ist. Wir haben es mit Hunderten Seiten komplizierten Verordnungsentwürfen zu tun, die voller Querverweise sind. Und es finden keine Debatten dazu im Bundestag bzw. in den nationalen Parlamenten statt, sondern ausschließlich in den verschiedenen Gremien auf EU-Ebene. Das macht es schwierig, die Themen zu vermitteln und Protest zu mobilisieren.

Als in den 1990ern das Asylrecht geschliffen wurde, gab es noch Massenproteste. Was hat sich seitdem verändert?

Ein paar Faktoren, die aus meiner Sicht eine Rolle spielen, habe ich ja bereits genannt. Hinzu kommt, dass es Anfang der 90er Jahre um einen Angriff auf das Grundgesetz ging – geschliffen wurde ja Artikel 16 „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, der eine direkte Konsequenz aus den Menschenrechtsverbrechen im Nationalsozialismus war. Das lässt sich leichter politisieren als ein undurchsichtiges Vertragswerk auf EU-Ebene.

Die Proteste gegen die Asylrechtsverschärfungen 1993 wurden auch dadurch gestärkt, dass es 1991 und 1992 Pogrome gegen Geflüchtete in Hoyerswerda und Rostock gegeben hatte, an denen sich Hunderte Rassist*innen und Neonazis beteiligten, ohne dass der Staat einschritt. Nur durch Glück gab es keine Toten. Die rassistischen Ausschreitungen wurden durch die Regierenden instrumentalisiert, um den sogenannte Asylkompromiss durchzusetzen. Dies führte zugleich vor Augen, dass der Rassismus der Neonazis und der staatliche Rassismus Hand in Hand gehen. Das machte es leichter, dagegen zu mobilisieren.

Schließlich sollte nicht vergessen werden, dass aktuell die Grünen an der Regierung beteiligt sind, was stark demobilisierend wirkt. Um die reaktionärsten Entscheidungen durchzusetzen – Hartz IV, Kriegsbeteiligungen und jetzt diese Asylrechtsverschärfung – braucht es offenbar diese Partei.

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