Scheideweg: Montenegro und Serbien zwischen NATO und Russland

Dragan Plavšić erläutert die Hintergründe der NATO-Erweiterungen auf dem Balkan und welche Konsequenzen diese für die regionale Linke haben.

Im Dezember des vergangenen Jahres lud die NATO den kleinen Staat Montenegro dazu ein, das 29. Mitglied im mächtigsten Militärbündnis unserer Tage, wenn nicht sogar aller Zeiten, zu werden. Von Anfang an war klar, dass die Einladung zum Bündnis dem Ego des montenegrinischen Staatschefs Milo Đukanović und seiner regierenden Clique schmeicheln würde. Die Anbiederung der NATO gegenüber Montenegro ist jedoch nur ein Trick, denn jedem sollte klar sein, dass die Stimme Montenegros in der NATO so wahrnehmbar sein wird wie ein Flüstern im Sturm.

Die Einladung Montenegros hatte sicherlich nichts mit einem möglichen militärischen Beitrag zur NATO zu tun – es handelt sich um ein Land mit gerade einmal 620.000 Einwohnerinnen und Einwohnern sowie einer nur 2.000 Personen starken Streitmacht. Wenn es überhaupt militärische Überlegungen gab, waren sie geostrategischer Natur. Denn Montenegro liegt an der Adria vorteilhaft: mit Slowenien, Kroatien und Albanien, die es sich in der NATO bequem gemacht haben, sowie Italien als langjährigem NATO-Mitglied, würde das adriatische Meer quasi zu einem privaten NATO-Schwimmbecken.

Auch wenn dieser militärisch-geostrategische Faktor nicht entscheidend war, zeigt er doch auf, worum es sich bei der Erweiterung handelt – nämlich um imperialistische Geopolitik. Erst im Kontext der aktuellen, explosiven geopolitischen Lage sowie der Zerrissenheit der Bevölkerung Montenegros zwischen pro-westlichem und pro-russischem Lager, erklären sich Zeitpunkt und Wichtigkeit der NATO-Einladung.

Die NATO-Erweiterung, Russland und der Balkan

Im vergangenen September informierte Joe Biden, Vizepräsident unter Barack Obama, Mila Đukanović in einem Telefongespräch darüber, dass die USA in der Dezembersitzung der NATO einen Beitritt Montenegros zum Militärbündnis unterstützen würden. In einem offiziellen Schreiben des Weißen Hauses heißt es, dass der mögliche Beitritt Montenegros „die Glaubwürdigkeit der NATO-Politik der offenen Tür“ stärken würde. Das Gespräch war „orwellschen“ Charakters, wenn man sich die vier Schlüsselbegriffe ansieht: „NATO-Politik (der) offenen Tür“. Sie zeigen die Bestimmtheit, mit der die Vereinigten Staaten von Amerika unnachgiebig und aggressiv ihre Expansion gen Osten und Russland fortsetzen wollen.

Ausdehnung der NATO und Russlands nach 1990. Von Jakob Reimann, unter  CC BY-SA 2.0-Lizenz frei verwendbar.

Seit 1989, dem Untergangsjahr des russischen Imperiums und des Warschauer Paktes, versuchen die USA durch die NATO beziehungsweise die EU, ihre imperialistische Erweiterungs- und Integrationspolitik durchzusetzen. Nach 40 Jahren des kalten Krieges sahen die USA dies als ideale Möglichkeit, die Schwäche Russlands auszunutzen; es mit neuen NATO-Mitglieder zu umzingeln und somit eine präventive Barriere aufzubauen, die eine mögliche zukünftige Rückkehr Moskaus auf die Weltbühne abwehren sollte.

Zur gleichen Zeit brach der Vielvölkerstaat Jugoslawien auseinander und vieles deutete darauf hin, dass eine erfolgreiche NATO-Erweiterungsstrategie nur funktionieren würde, wenn der Bürgerkrieg so schnell wie möglich ein Ende fände. Russland hoffte zur gleichen Zeit, trotz seiner geschwächten Position einen gewissen geopolitischen Einfluss auf dem Balkan erhalten zu können, indem es sich auf slowenische „Brüdergefühle“ sowie die Orthodoxie berief, insbesondere bei den Serben.

Warren Christopher, ehemaliger Staatssekretär unter Bill Clinton, war 1994/95 aufgrund der Intervention in Bosnien-Herzegowina sehr skeptisch, gab jedoch später zu, dass im Lauf der Zeit ein Beziehungsdreieck zwischen Bosnien, Russland und der NATO entstanden war, das man nicht hätte ignorieren können. Er stellte später fest, dass das Abkommen von Dayton einen Schlussstrich unter den Bürgerkrieg zog, nachdem die USA mit Bombardements entschieden in den Krieg eingegriffen hatten. „Das Abkommen zementierte die NATO als festen Bestandteil der europäischen Sicherheitsarchitektur und führte zu einer universalen Anerkennung für zukünftige kritische Sicherheitslagen.“ Diese Umgestaltung und Neuausrichtung der NATO gilt noch viel stärker für das Jahr 1999, als die NATO die erste Welle osteuropäischer Staaten in ihre Reihen aufnahm – Ungarn, Polen und die Tschechei – nur um im selben Monat, unter der Führung der USA, mit einem Angriffskrieg gegen den damaligen Staatenbund Jugoslawien (Serbien und Montenegro) zu beginnen.

Sei es drum – die NATO-Expansion machte es allen objektiven Beobachterinnen einfach, vorauszusehen, dass, je näher das Bündnis durch die Aufnahme baltischer und anderer ehemaliger Ostblockstaaten an die russischen Grenzen heranrückte, Moskau reagieren würde. Und das trotz ihrer militärischen, wirtschaftlichen und politischen Unterlegenheit – schlussendlich, um Russlands internationales Prestige sowie seinen geopolitischen Einfluss zu sichern.

Der Konflikt in Georgien, selbst langjähriger NATO-Anwärter, sowie die Intervention Russlands im Jahr 2008 zugunsten der kleinen, separatistischen Republiken Abchasien und Ost-Osetien, waren eindeutige Zeichen dafür, dass sich der Konflikt auf die nächste Stufe hob. Durch die Lage am Schwarzen Meer sowie ihre Möglichkeit, Russland quasi „einzumauern“, war es vorauszuahnen, dass die Ukraine die Hauptlinie des Konfliktes werden würde. Wie Warren Christopher 1995 erneut im orwellschen Geiste vorwegnahm:

„Natürlich verdienen einige ehemalige sowjetische Republiken aufgrund ihrer zukünftigen potentiellen Bedeutung für die Sicherheit der Region erhöhte Aufmerksamkeit. Die Ukraine spielt eine Schlüsselrolle. Aufgrund ihrer Lage zwischen Russland und Zentraleuropa ist sie ein Fundament für die Sicherheit in Europa.“

Im Licht dieser langfristigen geostrategischen Planung, die 2014 im Sturz des ukrainischen Präsidenten Janukowitsch mit Hilfe der USA gipfelte, war Putins Reaktion mehr als absehbar: er würde die russische Minderheit der Ostukraine unterstützen und mit einem Vormarsch auf Sewastopol die Krim annektieren, um so der russischen Schwarzmeerflotte einen sicheren Hafen zu bieten.

Dieser sehr spezifische Kontext – Putins erfolgreiche Etablierung von Hindernissen im Weg einer erneuten NATO-Erweiterung in Georgien und der Ukraine sowie die Verhinderung einer größeren westlichen Intervention in Syrien – erklärt, warum das „Dreiecksverhältnis“ zwischen NATO, Russland und dem Balkan heute entscheidend ist. Insbesondere wird dadurch deutlich, warum Montenegro in den Fokus der aktuellen Erweiterungsdebatten gerückt ist.

Die NATO, Russland und Montenegro

Die Kluft zwischen der pro-westlichen (pro-amerikanischen) und pro-russischen Fraktion in Montenegro vertieft sich von Jahr zu Jahr. Dies führt zu wachsenden Zweifeln am politischen Rückhalt der regierenden pro-NATO-Clique Đukanovićs. Eine Schlüsselrolle spielten dabei Putins „neusten Erfolge“, egal wie relativ sie waren, denn sie stärkten die Anti-NATO-Opposition merklich. Dies spitzte die Frage zu, in welche geopolitische Richtung sich das Land entwickeln würde.

Obwohl die montenegrinische Opposition – eine Koalition der Demokratischen Front, gegründet 2013 – die herrschende Clique Đukanovićs wiederholt für ihre korrupte und kriminelle Vetternwirtschaft sowie offensichtliche Wahl- und Medienmanipulationen angriff, wurde deren Unterstützung durch die USA nie geschwächt. Die Demokratische Front unterscheidet sich von der Regierung vor allem durch ihre pro-russischen und pro-serbischen Positionen, wobei auch sie selbst eine EU-Mitgliedschaft anstrebt.

Diese Haltung hat nichts mit der historischen „Verbundenheit“ mit „Mütterchen Russland“ zu tun. Sie ist vielmehr Ergebnis der tief verwurzelten Erinnerung großer Bevölkerungsteile an die NATO-Bombardierung 1999 sowie der Skepsis gegenüber der Regierung, nachdem die herrschende Elite 2006 nur knapp das Referendum über die Unabhängigkeit für sich entschieden hatte.

So erklärt sich das Timing der USA, Montenegro nun ins NATO-Bündnis einzuladen, um so eine mögliche Rückkehr Russlands als geopolitischer Player zu verhindern. Vor allem aber ist es eine Intervention in die Innenpolitik Montenegros und eine Stärkung der herrschenden Clique, welche ihrerseits eine Stärkung der pro-russischen Kräfte verhindern soll. Die Intervention vertieft jedoch die Spannungen im Land und könnte sie auch zum Siedepunkt bringen – mit unberechenbaren Ergebnissen.

Seit der Einladung Montenegros durch Joe Biden erschüttern nun schon monatelang Demonstrationen die Hauptstadt Podgorica. Angeführt von der Demokratischen Front fordern Demonstranten faire und freie Wahlen. Đukanović reagierte darauf mit Repressionen, woraufhin die Demonstrationen zu einem allgemeinem Ausdruck der Unzufriedenheit wurden und durchaus  zu größeren Unruhen führen könnten. Wenn man das „große Ganze“ betrachtet, verursacht dies bei den „Global Playern“ keinerlei Kopfschmerzen. Montenegro selbst spielt in den Überlegungen Washingtons klar keine zu große Rolle. Der „Wert“ des Landes liegt in der Rolle, die es bei weiteren regionalen und internationalen Entwicklungen spielen könnte.

In der aktuellen politischen Beziehung zwischen Russland und den USA, die sich zunehmend verschlechtert und direkte Auswirkungen auf die Innenpolitik Montenegros hat, nimmt das Land im Vergleich zu seiner Größe eine proportional umgekehrte Wichtigkeit ein, und ist eher als Signal an Russland zu verstehen:

Russland soll wahrnehmen, dass die NATO-Erweiterungen fortgesetzt werden, unabhängig von den „Erfolgen“ Putins in Georgien, der Ukraine und Syrien – selbst wenn Putin diese als Hindernisse für eine NATO-Erweiterung auffasst. Es ist ein Zeichen dafür, dass sich die NATO in jenem Teil Europas – dem Balkan – ausbreiten wird, in dem Moskau sich eigentlich über historische Verbundenheit die nötige Unterstützung für eigene, egoistische und imperialistische Ambitionen erhofft haben dürfte.

Was passiert in Montenegro?

Wird Montenegro tatsächlich der NATO beitreten? Ein Anschluss Montenegros an das Nordatlantische Militärbündnis ist keine Selbstverständlichkeit, dessen ist sich Washington vollkommen bewusst. Im offiziellen Schreiben Joe Bidens aus dem Weißen Haus heißt es ausdrücklich, dass amerikanische Unterstützung zum NATO-Beitritt nur erfolgen würde, wenn Montenegro im Inland die Öffentlichkeitsarbeit für einen NATO-Beitritt drastisch verstärkt. Und größere Unterstützung kann die Regierung allem Anschein nach auch gebrauchen.

Im vergangenen Jahr erhielt Marko Milačić, montenegrinischer „Antiđukanović“ und Anti-NATO-Aktivist aus der Bewegung für die Neutralität Montenegros, über einen Whistleblower Informationen dazu, dass die Regierung, um einen NATO Beitritt zu gewährleisten, deutlich mehr unternimmt als sie behauptet.

So wurde enthüllt, dass eine Umfrage aus dem Jahr 2014, welche die Regierung selbst bestellt hatte, eine Mehrheit von 57 Prozent gegen einen möglichen NATO-Eintritt ergeben hatte. Die Regierung vertuschte das Ergebnis und behauptete weiterhin, dass die BefürworterInnen des Beitritts mit 46 Prozent vorne lagen. Im Juni 2015 wurde eine neue Umfrage veröffentlicht, die ergab, dass lediglich 41-46 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner einen Beitritt befürworteten. Nach Angaben der Bewegung für die Neutralität Montenegros sind auch diese Zahlen falsch. Ihr liegen angeblich Informationen hoher Funktionäre der regierenden Partei vor, nach denen maximal 35 Prozent der Bevölkerung des Landes für einen Beitritt sind. Trotzdem behauptete Đukanović noch bis Dezember, die Befürworter eines NATO-Beitritts hätten zehn Prozentpunkte Vorsprung.

Welche Umfrageergebnisse auch immer wahr sein mögen – es ist offensichtlich, dass Umfragen in Montenegro kein getreues Abbild der öffentlichen Meinung sind, sondern politische Werkzeuge. Das Einzige, was sich aus den Umfragen ableiten lässt, ist, dass es zum NATO-Beitritt eine mehr als ambivalente Meinung gibt. Die unterschiedlichen Ergebnisse zeigen die geopolitische Zerrissenheit der montenegrinischen Politszene, welche sie für internationale Entwicklungen sehr empfänglich macht. Vielleicht ist es also kein Zufall, dass gerade die Umfrage aus dem November 2014 eine Mehrheit gegen einen NATO-Beitritt zeigte, war doch gerade der Ukraine-Konflikt voll ausgebrochen.

In jedem Fall liegt darin auch der Grund dafür, dass die herrschende Partei kein Referendum über einen möglichen NATO-Beitritt des Landes abhalten wird, sondern die Entscheidung im Parlament herbeiführen möchte, wo die Chancen auf einen Sieg des Regierungslagers deutlich größer sind.

Umfragen zeigen allerdings deutlich, dass diese Entscheidung zu Lasten Đukanovićs geht, da 84 Prozent der Montenegriner und Montenegrinerinnen dafür sind, ein Referendum über den möglichen NATO-Beitritt abzuhalten. Diese Forderung ist damit auch eine wichtige Forderung der Opposition geworden.

Die NATO, Russland und Serbien

Die Einladung Montenegros in die NATO ist auch eine Botschaft an Serbien – das einzige Land auf dem Balkan, das bisher keine Absichten hegt, der NATO beizutreten. Die Menschen Serbiens erinnern sich noch gut an das NATO-Bombardement von 1999, und kürzlich durchgeführte Umfragen zeigen, dass 73 Prozent der Bevölkerung gegen und nur 12 Prozent für einen NATO-Beitritt sind. Russland sieht in diesem Zustand seit langem eine Chance für sich, während die USA nervös sind und diesen Zustand zu überwinden suchen.

Abgesehen davon ist nicht nur Montenegro, sondern auch Serbien geopolitisch gespalten. Im Vergleich zu Montenegro spielt sich diese Spaltung in Serbien lediglich auf Regierungsebene ab, mit Blick auf die unheimliche sogenannte  „Neutralitätspolitik“ zwischen Ost und West, deren langfristige Lebensfähigkeit von vielen BeobachterInnen regelmäßig in Frage gestellt wird.

Ein Grund dafür ist, dass Serbien seit 2006 Mitglied der NATO-„Partnerschaft für den Frieden“ ist. Seit vergangenem Jahr ist Serbien einen Schritt weiter gegangen und hat die Zusammenarbeit auf das höchstmögliche Niveau für Nicht-NATO-Mitglieder gehoben, indem es einen individuellen Partnerschafts-Aktionsplan unterzeichnete. Noch im selben Jahr nahm sein Militär an NATO-Übungen in Bulgarien, Mazedonien, der Ukraine und letztendlich, im Oktober 2015, auch in Deutschland teil.

Auf der anderen Seite hat Serbien seinen Beobachterstatus in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, der russischen Version der NATO, die momentan aus sechs Mitgliedern und zwei Beobachtern besteht. Im Gegensatz zu Montenegro weigerte sich Serbien 2014 zudem, Sanktionen gegen Russland einzuführen und nahm 2015, unter starkem Zähneknirschen der NATO, an gemeinsamen militärischen Übungen mit Russland teil.

Diese geopolitische Schizophrenie, gehüllt in den Mantel der Neutralität, spiegelt klar die unterschiedliche Arbeits- und Herangehensweise des pro-russischen Präsidenten Serbiens, Tomislav Nikolić, und seines pro-westlichen Premierministers Aleksander Vučić wieder.

Dennoch ist die serbische Politik der „Neutralität“ Ausdruck des mehr oder minder starken Willens der herrschenden Klasse, die glaubt, um ihre politischen Ziele zu erreichen, müsse sie auf zwei Stühlen sitzen: Auf der einen Seite die Mitgliedschaft in der EU, für die Serbien die Furcht der EU vor russischem Einfluss benötigt; andererseits eine Einigung über den Status des Kosovo, für die das Land die Interventionen Russlands benötigt, um wenigstens einen Teil der eigenen Agenda umsetzen zu können.

Allerdings enthält diese Strategie einen grundlegenden und schwerwiegenden Fehler: je mehr Serbien versucht, Russland gegen die USA auszuspielen, um bessere Zugeständnisse für sich zu erzielen, umso intensiver werden Russland und die USA um die „politische Seele“ des Landes streiten und so eine imperialistische Intervention auf dem Balkan provozieren. Deswegen ist der Charakter der serbischen Neutralität ein „formaler“, kein realer. Sie erinnert vielmehr an die Überlebensstrategie eines Gefangenen, eingesperrt in einem Käfig zusammen mit einem Tiger und einer Hyäne, welcher versucht, den Appetit des einen dadurch zu zügeln, dass er die Zuneigung der anderen sucht – nur um schlussendlich den Appetite beider Seiten zu steigern.

Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich das Land in den vergangenen Jahren, insbesondere jedoch 2015, im Fokus des Gerangels zwischen den USA und Russland wiedergefunden hat. Um in diesem Handgemenge eine klare Analyse liefern zu können, müssen die Imperialismen der Kontrahenten, welche um Serbiens Loyalität ringen, verglichen werden.

Vergleich von NATO und Russland

Die konkrete Analyse beider imperialistischer Mächte führt uns unweigerlich zur Schlussfolgerung, dass die NATO (also die USA) die eindeutig Überlegenheit auf allen drei entscheidenden Ebenen hat: der wirtschaftlichen, der politischen und der militärischen.

Die Vereinigten Staaten sind nach wie vor die größte Volkswirtschaft der Welt, mit einem zehnmal so hohen BIP wie Russland, trotz eines relativen Rückgangs seit 1945. Russlands BIP liegt weltweit auf Platz zehn, weit abgeschlagenen hinter etlichen NATO-Mitgliedsstaaten wie Großbritannien, Frankreich, Italien und vor allem Deutschland, dessen BIP alleine bereits mehr als das Doppelte des russischen beträgt.

Der politische Einfluss der USA ist global, gedeckt durch die falsche „universelle“ Ideologie, angeblich Menschenrechte zu verbreiten, und abgesichert durch mehrgliedrige Allianzen mit sehr unterschiedlichen Staaten auf der ganzen Welt. Auf der anderen Seite besitzt Russland kein derartiges „ideologisches“ Konstrukt für seine Außenpolitik – sein geopolitischer Einfluss bleibt regional, gespeist aus ethnischen, religiösen oder historischen Allianzen sowie aus opportunistischen Unterstützungsverhältnissen, die sich manchmal durch NATO-Interventionen ergeben.

Der größte Unterschied wird jedoch beim Militär deutlich. Das Militärbudget der USA alleine ist größer als das der nachfolgenden neun größten Militärnationen der Welt, darunter China, Russland, Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Selbst wenn man die gesamte OVKS nimmt, bestehend aus Armenien, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan, ist die Bedeutung im Vergleich mit den USA kaum nennenswert. Und hier ist noch nicht einmal berücksichtigt, dass die NATO von ihren Mitgliedsstaaten verlangt, zwei Prozent des eigenen BIP für das Militär auszugeben.

Um Missverständnissen vorzubeugen: diese Tatsachen stehen hier nicht, um die geopolitische Wichtigkeit Russlands zu in Frage zu stellen, sondern um es in die richtige Perspektive zu rücken. Es handelt sich um feste, empirische Belege dafür, dass die USA die aggressive Spitze der aktuellen Weltpolitik ist. Diese Vorherrschaft ist die Grundlage des Selbstvertrauens Washingtons, vom eigenen Vorteil so gut es geht zu profitieren – nicht nur in der Ukraine, sondern auch auf dem Balkan.

Was passiert in Serbien?

Die Kluft zwischen den USA und Russland wird sich auch in der Veränderung der „Neutralität“ Serbiens widerspiegeln, in Form einer Gleichgewichtsstörung beziehungsweise eines Ungleichgewichts.

Obwohl Serbien Beobachterstatus in der russischen OVKS hat, ist es deutlich fester in die Strukturen der NATO eingebunden. Obschon Serbien es 2014 ablehnte, Sanktionen gegen Russland einzuführen, nahm das Land im Juni 2015 an militärischen Übungen der NATO in der Ukraine teil. Während es 2015 Teil einerseits militärischer Übungen mit Russland war, unternahm Serbien im gleichen Zeitraum 22 Übungen mit der NATO.

Wenn wir diesen Tatsachen hinzufügen, dass das Land der EU beitreten möchte, ist die Politik eher als pro-westlich denn als pro-russisch zu charakterisieren. In der Folge fühlen sich die USA dazu ermutigt, den Druck auf Serbien zu erhöhen – nicht nur mit einer angedrohten NATO-Mitgliedschaft Montenegros, sondern auch mit anderen politischen Mitteln.

Es ist kein Zufall, dass kurz nach der Einladung Montenegros bekannt wurde, dass Kroatien, seit 2009 NATO-Mitglied, ballistische Raketen mit einer Reichweite von 300 Kilometern von den USA erwerben wolle. Diese wären zusammen mit dem Raketenabschusssystem M270 in der Lage, Mittel- und Südserbien zu erreichen.

Wir sollten nicht die Bedeutung der Tatsache ignorieren, dass Kroatien so eine leistungsfähige und relativ exklusive, strategische Waffe erwirbt, die weltweit lediglich ein Dutzend Länder besitzen – darunter sieben NATO-Mitgliedsstaaten: die USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Griechenland und die Türkei. Die USA verändern mit der Bewaffnung Kroatiens, Gegenspieler und ehemaliger „Feind“ Serbiens, die militärische Stärke absichtlich zu Ungunsten und zur Furcht Serbiens.

Das unmittelbare Motiv der Veröffentlichung dieser Nachricht war eine typisch heuchlerische Warnungen an Serbien – oder zumindest einige Menschen in Serbien – davor, selbstständig 0der in Absprache mit Russland in die inneren Angelegenheiten Montenegros bezüglich der NATO-Mitgliedschaft zu intervenieren. Laut Marko Ćustić, Herausgeber des kroatischen Militärmagazins Defender, ist der Grund jedoch noch offensichtlicher:

„Das Ziel Kroatiens ist es, Serbien einzuschüchtern – denn das amerikanische Interesse besteht darin, dass sich Serbien für den Westen entscheidet. Dies ist nur einer der Schritte der USA auf dem Weg, Serbien in die Arme der europäischen Integration zu führen.“

Obwohl das Risiko kalkuliert ist, bleibt es gefährlich, betrachtet man die Entflammbarkeit der serbisch-kroatischen Beziehungen. Nach jahrelangen politischen Bemühungen, Belgrad eindeutige, pro-westliche Positionen abzuringen und seine Positionen neu auszurichten, haben die USA beschlossen, nun auch den militärischen Druck durch regionale „Vermittler“ zu erhöhen. Die USA erhoffen sich, dadurch ihren Einfluss auf den sogenannten pragmatischen Teil der herrschenden Klasse erhöhen zu können, damit dieser sich ein für alle Mal auf einen pro-westlichen Kurs begibt und aktiv gegen den pro-russischen Teil der Herrschaftselite vorgeht.

Die sofortige Reaktion auf den Erwerb der M270 durch Kroatien bestand allerdings darin, sich nach Russland zu wenden und den Kauf der Boden-Luft-Raketenabwehrsysteme S-300 zu beantragen, welche Raketen bereits vor dem Einschlag abfangen sollen. Der russische Vizepremier Dmitri Rogosin sagte bei einem Besuch in Belgrad im Januar: „Wir werden unseren Verbündeten auf dem Balkan direkte Unterstützung zusichern. In kürzester Zeit werden wir eure Bitte bearbeitet haben.“ In der direkt darauf folgenden Pressekonferenz gab der serbische Premierminister bekannt, dass Russland dem Land eine „Miniaturausgabe“ der S-300-Systeme geschenkt habe.

Die USA hatten eine solche Reaktion natürlich vorhergesehen, liegt es doch in ihrer Natur, solche Dinge langfristig zu planen. Ihnen ist bewusst, dass kroatische und bosnjakische Politiker in Bosnien einen NATO-Beitritt planen – ohne Rücksicht auf die gegenteilige Position der serbischen Bevölkerung. Die USA wissen auch, dass sich Mazedonien der NATO anschließen wird, sobald der Namensstreit mit Griechenland geklärt ist  – was, wenn man den Medien glauben kann, sehr bald geschehen könnte. Und zu guter Letzt können sich die USA in vollen Umfang auf die Entscheidung des Kosovo verlassen, der NATO beizutreten. Dies würde bedeuten, dass Serbien komplett von NATO-Mitgliedern eingekreist wäre.

Diese potentiellen Neumitglieder erhöhen nochmals die vergleichsweisen Einflussmöglichkeiten von USA und Russland, dieses Mal auf der geopolitischen Ebene. Und diese grundlegende Ungleichheit auf allen wichtigen Ebenen – wirtschaftlich, politisch und militärisch –, welche unauflöslich und untrennbar mit der Europäischen Union und dem Kosovo verbunden ist, wird es nicht erlauben, dass das serbische Schiff sich allzuweit von europäischen Häfen entfernt. Und amerikanische Geostrategen sind davon überzeugt, dass ihnen das Wetter in die Hände spielen wird. Eine feste Verankerung Serbiens im Westen würde etliche Probleme in Montenegro, dem Kosovo und Bosnien lösen, wo viele Menschen dem Land gegenüber loyal sind.

Alles in Allem gibt uns diese Entwicklung genug Anlass zum Nachdenken darüber, was sie uns zu den gefährlichen Plänen des amerikanischen Imperialismus auf dem Balkan verrät. Seine unerbittliche Entschlossenheit, die NATO auf dem Balkan zu erweitern, zieht vielfältige Risiken politischer Umwälzungen in Montenegro und ein Schüren der Feindschaft Kroatiens und Serbiens nach sich; er verursacht ein Wettrüsten auf dem Balkan und er provoziert langfristig eine Antwort Russlands, das sich in seiner Begierde, seine eigenen imperialistischen Ambitionen auf dem Balkan durchzusetzen, zusehends durch die NATO eingekreist sieht.

Fazit: Die NATO, Russland und die Balkan-Linke

Trotz des aggressiven Vertrauens der USA darin, dass sich Serbien dem Westen zuwenden wird, bleibt die Frage offen. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Tatsache, dass die Mehrheit der Bevölkerung einen NATO-Beitritt ablehnt, obwohl gleichzeitig eine Mehrheit pro-europäisch orientiert ist. Gleichzeitig können schon kleine Fehltritte in den NATO-Erweiterungsplänen ausreichend sein, um dramatische Konsequenzen auszulösen. Wenn, sagen wir, Montenegro in nächster Zeit die Einladung zur NATO-Mitgliedschaft ablehnen würde, wäre der Effekt proportional umgekehrt zur „Größe“ des Landes, diesmal jedoch zum Nachteil der Vereinigten Staaten. Es wäre das erste Mal in der Geschichte der NATO Ostererweiterung, dass ein Land eine Einladung zum Bündnis nicht annimmt. Das könnte eine kritische Selbstreflexion in Osteuropa auslösen und die dogmatische „Selbstkolonisation mit dem Westen“ der vergangenen 25 Jahre in Frage stellen. Und diese Debatte würde für die Linke neue Räume eröffnen.

Es ist keine Frage, dass sich die organisierte und authentische Balkan-Linke gleichzeitig der imperialistischen amerikanischen  Aggression und den imperialistischen Ambitionen Russlands auf dem Balkan entgegen stellen muss. Sie darf dabei jedoch nicht auf einem Abstrakten Niveau verbleiben, ihr Widerstand muss stets Bezug zur aktuellen Machtverteilung der zwei Weltmächte haben. Auf dem Balkan ist das Gleichgewicht der Kräfte, wie dieser Artikel aufzuzeigen versucht, zugunsten der USA und der NATO gekippt. Aus diesem Grund müssen alle Anstrengungen gegen die USA gerichtet werden, auch wenn die Taktik vorsichtig in jedem Land anzupassen ist.

Sicherlich ist der Mangel an organisiert-authentischen Linken in Montenegro ein Problem. Unabhängig davon ist die augenblickliche politische Lage eine gute Gelegenheit für alle Linken des Landes. Die Bewegung für die Neutralität Montenegros, welche sich in den Anti-NATO-Protesten engagiert, wäre ein Ansatzpunkt, denn sie hält Distanz zu den unkritischen, pro-russischen Kräften und betont die militärische Neutralität. Daneben unterstützt die Bewegung die Idee eines Referendums, welches die Lage definitiv und demokratisch lösen würde. Schließlich gewann die Bewegung auch die Unterstützung linker Intellektueller wie Immanuel Wallerstein, der Mitglied des International Advisory Board ist.

Dies zeigt auch auf, wofür sich die Linke Serbiens einsetzen sollte, um Fortschritte zu erzielen. Die serbische Linke sollte sich, statt der pseudo-formalen „Neutralität“ der aktuellen Regierung für echte Neutralität einsetzen. Dies bedeutet konkret ein Ende jeglicher Beteiligung an militärischen Übungen gemeinsam mit NATO oder OVKS.

Diese Forderung muss gleichzeitig mit einer politischen Offensive verbunden werden, die den zwei Themen den Todesstoß versetzt, die Serbien an die EU binden. Zur Frage des Kosovo sollte die Linke  dafür eintreten, dass die serbische Regierung dessen Unabhängigkeit anerkennt, um im Umkehrschluss zu verhindern, dass Serbien und das Kosovo weiterhin in NATO-Pläne einbezogen werden (NATO-free zone). Eine solche Position würde Serbien gleichzeitig aus der Abhängigkeit von USA und Russland befreien. Was die Frage der EU-Mitgliedschaft betrifft, sollte die Linke Serbiens ein völlig neutrales Auftreten anstreben, welches aufzeigt, dass ein EU-Beitritt nur bedeuten würde, sich dem Diktat Brüssels zu unterwerfen.

Schlussendlich braucht es aber eine größere Perspektive, wenn die authentische Balkanlinke gestärkt aus der Kampf hervorgehen soll – und das ist die Balkanföderation. Ohne einen derartigen Leitsatz, der einen Transformationsprozess gegenüber den benachbarten Balkanstaaten und –völkern hin zu Freundschaft und Solidarität erfordert, wird es unmöglich sein, selbst kleinste politische Ziele umzusetzen. Und gerade der tägliche, gleichzeitige Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter gegen die neoliberale Austeritätspolitik auf dem gesamten Balkan muss unser Sprungbrett für dieses Prinzip sein.

Dragan Plavsić ist Mitglied von Marks21 in Serbien und gemeinsam mit Andrej Zivković Herausgeber des Buchs „Die sozialistische Tradition des Balkans und die Balkan-Föderation, 1871-1915“, erschienen 2003. Der Text erschien ursprünglich auf marks21.info.

Übersetzt von Daniel Kerekeš, redigiert von Marion Wegscheider.

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