Nach einem Jahr Krieg liegen große Teile des Nahen Ostens in Trümmern. Und mit ihnen die Glaubwürdigkeit des deutschen Journalismus. Anatomie eines journalistischen Versagens irgendwo zwischen Ignoranz, Orientalismus und Staatsräson.
Wer wissen will, in welchem Zustand sich deutsche Nahost-Berichterstattung nach dem 7. Oktober 2023 befindet, musste nur am 7. Oktober 2024 die Abendnachrichten einschalten. In einem langen Beitrag widmete sich die Tagesschau den Opfern des Hamas-Angriffs vor einem Jahr. Es ist ein empathischer, schmerzhafter Beitrag. Der Zuschauer sieht die Gesichter hinter der Zahl von 1.200 Toten und 251 Verschleppten, erfährt die die Namen und Geschichten hinter dem – so die Sprecherin – „schlimmsten Massaker an Juden seit dem Holocaust“.
Auch der Krieg, mit dem Israel seitdem die Region überzieht, ist Thema der Sendung. Israel werde „von mehreren Seiten angegriffen und wehrt sich mit militärischer Härte gegen seine Feinde“, lautet diesmal die Zusammenfassung. In einer Chronik erfahren die Zuschauerinnen vom Kampf Israels gegen Hamas und Hisbollah, der auch Zivilisten das Leben gekostet habe. Bilder der Toten, ihrer Hinterbliebenen oder der Millionen Vertriebenen gibt es diesmal nicht zu sehen. Die einzigen Palästinenser, die das Publikum in dem neunminütigen Beitrag zu Gesicht bekommt: wütende Männer mit Kalaschnikows.
Der 7. Oktober war der Funke, der die toxische Mischung in deutschen Redaktionen zur Explosion brachte
Einseitigkeit, Entmenschlichung, Ignoranz. Das sind einige der Merkmale deutscher Nahost-Berichterstattung nach dem 7. Oktober. Wer in Deutschland heute die Zeitungen aufschlägt oder den Fernseher einschaltet, um sich über den Krieg in Nahost zu informieren, der stößt mit großer Wahrscheinlichkeit auf Statements der israelischen Armee. Auf Verbrechen, deren Täter sich hinter Passivkonstruktionen verbergen. Auf Euphemismen über „gezielte Gegenschläge“ und „begrenzte Bodeneinsätze“. Auf Floskeln über „Gewaltspiralen“ und „Flächenbrände“. Auf Auslassungen, Rassismus und Fake News.
Nur auf guten Journalismus stößt man immer seltener.
Der Abgrund deutscher Nahost-Berichterstattung öffnet sich in nahezu jeder Nachrichtensendung, auf den Seiten der meisten Tageszeitungen: ob öffentlich-rechtlich oder privat, Boulevard oder seriös, links oder bürgerlich.
Die Ursachen des Niedergangs sind überall dieselben: Tief sitzende rassistische Klischees über islamische Barbarei und westliche Zivilisation. Ein Journalismus, der sich traditionell eher darin versteht, die Politik der Mächtigen darzustellen als zu hinterfragen. Die auch von vielen Journalisten empfundene besondere deutsche Verantwortung für Israel, die sich absurderweise nun in der bedingungslosen Unterstützung eines rechtsextremen, mörderischen Regimes manifestiert, unter dessen Politik auch die eigene Bevölkerung leidet.
Toxisch wirkte dieser Mix in deutschen Redaktionen auch schon vor dem 7. Oktober. Aber so wie Chemikalien erst beim richtigen Verhältnis aus Druck und Temperatur zur Explosion führen, brauchte es auch in deutschen Redaktionen einen Auslöser, um die Katastrophe herbeizuführen.
Enthauptete Babys, Zivilisationsbruch, Holocaust – darunter geht es nicht mehr
In einer Art kollektiven Wettbewerb von Entmenschlichung und Dramatisierung übertrafen sich Medienschaffende nach dem 7. Oktober gegenseitig. Zeitenwende. Zäsur. Zivilisation gegen Barbarei. Darunter ging es oftmals nicht mehr.
„Es gibt keine unschuldigen Zivilisten in Gaza“ und „Free Palestine ist das neue Heil Hitler”, titelte Die Welt. Holocaust-Vergleiche – jahrzehntelang ein tabuisiertes rhetorisches Mittel im deutschen öffentlichen Diskurs und immer wieder Gegenstand von Skandalen – wurden selbst in den bewusst seriösen Abendnachrichten von ZDF Heute und Tagesschau zum Normalfall.
In Regionalzeitungen meldeten Journalisten Funde von palästinensischen Fahnen und Kufiyas an Schulen, als hätten sie eigenhändig einen Hamas-Unterstand ausgespäht. Dem bedingungslosen Bekenntnis zu Israel, das der Bundestag am 10. Oktober 2023 einstimmig von Linke bis AfD ausgegeben hatte, schienen sich nun auch viele Journalisten anzuschließen. Die deutsche Staatsräson von der Sicherheit Israels wurde auch in vielen Redaktionen zur neuen Leitkultur.
Die Welt am 12. Oktober 2023. Die meisten Fake News wurden bis heute nicht richtiggestellt.
Dabei nahmen und nehmen es viele Redaktionen selbst mit dem höchsten journalistischen Gebot, Faktentreue, nicht mehr so genau. „Babys mit abgeschnittenen Köpfen“, titelte BILD am 11. Oktober 2023. „Haben Terroristen ein Baby im Ofen verbrannt?“, lautete die Schlagzeile zwei Wochen später.
Diese und andere zweifelsfrei erwiesene Fake News fanden den Weg in die Medien vieler westlicher Länder. Aber nur in Deutschland verbreiteten sie sich über das ganze mediale Spektrum: von der linken taz bis zur rechten Welt, vom Politik-Krawall-Magazin Focus bis zum seriösen ZDF. Richtiggestellt wurden solche Falschmeldungen nie, teilweise werden sie bis heute verbreitet. Die Wirkung, die sie hinterließen, ist ohnehin nicht zurückzunehmen: die totale Entmenschlichung des „Gegners”. Und der – so sollte sich in den nächsten Wochen zeigen – konnte jeder sein: Schulkinder, Krankenhauspatienten, jüdische Friedensaktivistinnen, Blauhelme und jeder, der zur falschen Zeit am falschen Ort war.
BILD vom 11. Oktober 2023. Selbst Israels Armee stellte später klar: Die Babys mit abgeschnittenen Köpfen hat es nie gegeben. Richtiggestellt haben BILD und viele andere Medien, die Meldung bis heute nicht.
Plötzlich war alles möglich – in Nahost und in deutschen Redaktionen
Angesichts des Schreckens des 7. Oktobers – und dem, was viele Medien daraus machten – schien nun alles möglich und alles erlaubt. Für Israels Armee, die die Region bis heute mit einem für unvorstellbar gehaltenen Maß an Gewalt überzieht. Aber auch für jene, die darüber berichteten.
Wer nach dem 7. Oktober die kontinuierlichen Tabubrüche und Regelverletzungen hinterfragte, galt schnell selbst als Terrorsympathisant. In aufgeregten Feuilleton-Beiträgen und Boulevard-Schlagzeilen wurden öffentlich-rechtliche Nachrichtensprecherinnen dafür angeprangert, wenn sie präzise berichteten, die Angreifer des 7. Oktober einmal nicht als „Barbaren“, sondern als „Kämpfer“ oder „Militante“ bezeichneten. Journalisten, die es wagten, darauf hinzuweisen, dass der Nahost-Konflikt nicht am 7. Oktober 2023 begann, auch Massaker eine Vorgeschichte haben, wurden in mehreren Fällen gleich ganz gecancelt.
Der erste von vielen Medienschaffenden, deren Karriere Opfer der anti-palästinensischen Cancel-Welle wurde. Der Spiegel vom 8. Oktober 2023.
Problemlos weiterarbeiten konnte, wer mitmachte bei der Stimmungsmache: gegen Palästinenserinnen gegen Muslime und ihre linken und jüdischen Unterstützer. Und wer seine journalistischen Standards hintenanstellte und seine Berichterstattung stattdessen an den Narrativen orientierte, die die Presseabteilung der israelischen Armee ausgab.
Mehr Shalicar als alle offiziellen palästinensischen Vertreter zusammen
Das Scheitern deutscher Nahost-Berichterstattung umfasst alle Aspekte journalistischen Handwerks. Von der Wahl von Themen und Perspektiven, über den Umgang mit Quellen, Fakten und Meinungen bis zur Entscheidung über die richtigen Worte, Bilder und Kontexte. Der Abgrund ist so groß, so allumfassend, dass es schwer ist, ihn anhand von einzelnen Fällen zu erhellen. Aber irgendwo muss man ja anfangen – zum Beispiel bei der Frage, welchen Personen Medienschaffende Gehör verschaffen.
Eine der Basics im Journalismus lautet: Alle relevanten Seiten sollen zu Wort kommen. Doch in der Praxis deutscher Nahost-Berichterstattung bekommen Medienkonsumentinnen seit einem Jahr meist nur Stimmen der israelischen Seite zu hören. Vertreter von israelischer Armee, israelischer Regierung und israelischen Geheimdiensten gehören heute zur Standardbesetzung deutscher Nachrichtensendung.
Dauerpräsent in deutschen Medien: IDF-Sprecher Arye Shalicar. Hier bei ZDF Heute am 17.11.2023.
In der Tagesschau zum Beispiel waren im ersten Monat nach dem 7. Oktober in 31 Sendungen insgesamt 28-mal Vertreter aus israelischer Regierung und Armee zu hören. Einen offiziellen palästinensischen Vertreter, sei es von Hamas oder PLO, aus Gaza, der Westbank oder aus dem Ausland, bekam das Tagesschau-Publikum in dieser Zeit kein einziges Mal zu Gesicht. Auch hinterfragt oder kritisch eingeordnet wurden die israelischen Aussagen fast nie.
In Print-Medien ist das Bild ähnlich. Allein der aus Berlin stammende Sprecher der israelischen Armee Arye Sharuz Shalicar kam zwischen dem 7. Oktober und 6. November 45-mal in den zehn auflagenstärksten deutschen Zeitungen zu Wort. Dutzende weitere Male in Talkshows, Fernsehbeiträgen und Online-Medien. Weit mehr als alle offiziellen palästinensischen Vertreter zusammen.
Aus „sagen, was ist“ wurde „sagen, was die israelische Armee behauptet“
Die Allgegenwärtigkeit israelischer Armeesprecher und Regierungsvertreter bei gleichzeitigem Ausschluss palästinensischer Stimmen ist aber nur die Spitze des Eisberges, der die Glaubwürdigkeit des deutschen Nahostjournalismus im letzten Jahr zum Sinken brachte. „Sagen, was ist.“ Aus dem alten Spiegel-Slogan wurde mit dem 7. Oktober für viele Medien: „Sagen, was die israelische Armee behauptet.“
Statt aus eigener Recherche oder zumindest aus dem Überprüfen der Angaben von Kriegsparteien auf Plausibilität besteht deutsche Nahost-Berichterstattung heute zum großen Teil aus der Wiedergabe von Behauptungen der israelischen Armee. In vielen Fällen sind Meldungen deutscher Medien von den Pressemitteilungen der israelischen Armee nur noch durch Anführungszeichen und Konjunktive zu unterscheiden. Häufig fehlen selbst diese.
Eine billige 3D-Animation der Israelischen Armee reichte aus, damit Medien halfen (hier: die Tagesschau), ein Krankenhaus zur Terror-Zentrale zu machen
Wie tödlich die Folgen einer so unkritischen Berichterstattung sein können, zeigte sich erstmals Ende Oktober 2023. Als Israels Armee die Behauptung aufstellte, in einem Krankenhaus befände sich eine „Hamas-Kommandozentrale“, regten sich in vielen deutschen Redaktionen keine Zweifel. „Israel: Hamas-Einsatzzentrum in Klinik entdeckt“, titelte die Tagesschau am 28. Oktober 2023. Gemeint war die Al-Shifa-Klinik, zu der Zeit noch das größte Krankenhaus im Gazastreifen. „Die Terror-Klinik ist enttarnt“, meldete auch BILD. „Hamas-Zentrale unter Schifa Krankenhaus“ gefunden, schrieb die FAZ.
Wenn Journalisten Krankenhäuser sturmreif schreiben
Ähnliche Meldungen fanden sich auch in Medien anderer westlicher Länder. Aber anders als in deutschen Medien fanden sich dort auch Journalistinnen, die die Angaben der israelischen Armee überprüften. Unter anderem Reporter von BBC, The Guardian, The Intercept und Washington Post sprachen mit Augenzeugen, werteten Fotos, Videos, Dokumente und andere Daten aus und prüften israelische Angaben auf ihre Konsistenz und Plausibilität.
Das Ergebnis der Faktenchecks und investigativen Recherchen: Keine der Vorwürfe der israelischen Armee rund um das Al-Schifa-Krankenhaus ließ sich bestätigen. Ein paar schlechte 3D-Animationen und arrangierte Fotos von Schutzwesten und Kalaschnikows hatten ausgereicht, damit Journalisten ein Krankenhaus sturmreif schreiben.
Gazas größtes Krankenhaus nach der Zerstörung durch die israelische Armee. Screenshot aus der Al-Jazeera-Doku „Al-Shifa Hospital: Annihilation and Resilience”
Hunderte Menschen starben, als die israelische Armee das Krankenhaus ab dem 15. November stürmte. Augenzeugen berichteten, wie Soldaten Patientinnen und Pfleger exekutierten. Vom einst größten Krankenhaus des Gazastreifens ließ die israelische Armee nur Trümmer übrig. Über den realen und gut dokumentierten Schrecken, der sich im Al-Schifa-Krankenhaus abspielte, das Massengrab, welches ein Team der WHO am Eingang des Krankenhauses fand, las man in deutschen Medien kaum etwas. Als die israelische Armee ihren realen Terror über die angebliche Terror-Klinik brachte, waren die meisten Medien schon zur nächsten „Hamas-Kommandozentrale“ weitergezogen.
Wie Medien dazu beitragen, für unumstößlich gehaltene Tabus zu brechen
Was Medien mit ihrer Berichterstattung über die angebliche Terror-Klinik hinterlassen haben, war nicht nur ein zerstörtes Krankenhaus und ungezählte Tote. Mit ihren Beiträgen trugen sie auch dazu dabei, den Raum des Möglichen zu verschieben. Galten Krankenhäuser in früheren Kriegen, sei es im Nahen Osten oder anderswo, ohne jede Frage als absolut schützenswerte Objekte und jeder Angriff auf sie als Kriegsverbrechen, war es nun im öffentlichen Diskurs zunehmend möglich, Krankenhäuser als legitime Angriffsziele zu markieren.
Tagesschau.de am 15.11.2023: Einst für unumstößlich gehaltene Tabus wurden zu einer Frage von Pro und Contra
Die Frage von Angriffen auf Krankenhäuser wandelte sich von einem absoluten Tabu zu einer Frage von „Pro und Contra“, bis schließlich solche Angriffe so selbstverständlich wurden, dass nicht einmal mehr die Frage nach ihnen gestellt wird. „Eine konzertierte Politik zur Zerstörung des Gesundheitssystems im Gazastreifen“, bescheinigten die Vereinten Nationen Israel in einem ausführlichen Bericht am 10. Oktober 2024. Mediale Beachtung fand der Bericht – anders als unzählige Fake News über „Hamas-Kommandozentralen“ in Krankenhäusern – kaum.
Auch Die Zeit markierte ein Krankenhaus als Angriffsziel und erklärt seine Bombardierung zum „Dilemma” – nicht für die tausenden Patienten, sondern für die israelische Armee
Seitdem Medien über die vermeintliche „Hamas-Zentrale“ unter der Al-Shifa-Klinik berichteten, hat die israelische Armee jedes einzelne Krankenhaus im Gazastreifen angegriffen, gestürmt, bombardiert und teilweise oder ganz zerstört. Fast immer gingen den Angriffen Propagandakampagnen der israelischen Armee voraus: über „Hamas-Waffenlager“, „Hamas-Tunnel“, „Hamas-Abschussrampen“ oder „Hamas-Kommandozentralen“. Immer wieder übernahmen viele deutsche Medien diese Meldungen. Nicht ein einziges Mal haben sich Israels Vorwürfe unabhängig bestätigen lassen.
Stellen sich IDF-Meldungen als falsch heraus, sind Medien schon zur nächsten „Hamas-Kommandozentrale“ weitergezogen
Dass Medienschaffende unkritisch die unbelegte und tödliche Propaganda der israelischen Armee übernehmen, gilt nicht nur für Krankenhäuser. „Israels Armee greift Kommandozentrale der Hamas in Schulgebäude an“, schreibt Der Spiegel am 6. Oktober 2024 (später hat die Redaktion ein „angeblich” ergänzt, den Korrekturhinweis aber „vergessen“). Mit Schlagzeilen wie dieser verbreiten Medien nicht nur die tödliche Propaganda der israelischen Armee. Sie verstoßen auch gegen die Regeln ihres eigenen Handwerks.
Für Tatsachenbehauptungen wie in der Spiegel-Schlagzeile brauchen Journalistinnen eigentlich irgendeine Art von Verifizierung: Interviews mit Menschen vor Ort, Recherchen eines Korrespondenten, Angaben glaubwürdiger und unabhängiger Quellen wie Hilfsorganisationen. So hat es mit Sicherheit auch jeder Spiegel-Redakteur in seiner Ausbildung gelernt. Doch die einzige Quelle, die sich im Text findet, ist der Angreifer selbst: die israelische Armee.
Sich für keine Propagandameldung zu Schade: Der Spiegel vom 18. November 2023.
Die Beispiele lassen sich endlos fortsetzen:
- „Israels Militär meldet Fund von Waffen und Munition in Kindergarten“
- „Israel bombardiert Hamas-Zentrale in Moschee“
- „Hamas-Tunnel unter UNRWA-Gebäude gefunden
- „Israel findet wohl Hamas-Waffenlager in Kinderzimmer“
Solche Meldungen sind nicht die Ausnahme, sie erscheinen täglich in deutschen Medien. So gut wie nie gibt es glaubwürdige oder unabhängige Belege für die Behauptungen. Real ist hingegen die Zerstörung, die mit solchen Meldungen einhergeht. Doch über das gut belegte Leid, das sich hinter der Zahl von 500 Schulen, 800 Moscheen und zehntausenden Wohnungen verbirgt, die bei israelischen Angriffen zerstört wurden, erfahren Konsumentinnen deutscher Medien sehr viel weniger als über Behauptungen aus den unbelegten PR-Meldungen der israelischen Armee.
Kollektive journalistische Verantwortungslosigkeit
Worüber die Öffentlichkeit auch wenig erfährt: Konsequenzen. Spätestens dann, wenn sich Journalisten zum ersten Mal für solche Kriegspropaganda haben einspannen lassen und die tödliche Wahrheit zum Vorschein kommt, müsste ein Denkprozess in den Redaktionen einsetzen. Wie konnte das passieren? Wer ist dafür verantwortlich? Welche Konsequenzen ziehen wir? Wie stellen wir sicher, dass es nicht wieder passiert? Und wie erlangen wir verloren gegangenes Vertrauen insbesondere von den Betroffenen unserer Berichterstattung zurück? Eine Auseinandersetzung mit solchen Fragen war im letzten Jahr aus keiner einzigen deutschen Redaktion zu hören.
Und auch die Kritik von außen ist verschwindend gering: Wer in Deutschland als Journalist über Promis, Politiker oder Manager recherchiert, kann sich schnell auf Unterlassungserklärungen einstellen. Wer in einem Text über einen Hundeangriff durch Auswahl von Fotos und O-Tönen die Interpretation zulässt, es handle sich um einen Wolfsangriff, muss mit einer Rüge des Presserates rechnen.
Wer hingegen immer wieder die Propagandameldungen einer Armee verbreitet, Schulen und Krankenhäuser ohne jeden Beleg zu Terror-Zentralen umdeutet und damit zum Tod von unzähligen Menschen beiträgt, bekommt schlimmstenfalls ein paar kritische Leserkommentare.
Welche Begriffe Journalisten wählen, entscheidet sich daran, wer wen getötet hat
Großangriff mit Ausrufezeichen: BILD über Irans Angriff auf Israel am 1.10.2024
Begrenzte Operation mit Fragezeichen: BILD über Israels Invasion des Libanon am 30.09.2024
Sprache ist ein weiteres Instrument, mit dem Medien seit dem 7. Oktober 2023 die Wirklichkeit bis zur Unkenntlichkeit verzerren. In der deutschen Nahost-Berichterstattung haben sich völlig unterschiedliche Begrifflichkeiten etabliert. Deren Auswahl hängt oft allein davon ab, wer im Nahen Osten gerade Opfer und wer Täter ist.
Zwei Ereignisse, bei den man diesen Effekt besonders anschaulich beobachten konnte, waren der Einmarsch israelischer Bodentruppen in den Libanon am Abend des 30. September 2024 und der iranische Raketenangriff auf Israel einen Tag später am 1. Oktober 2024:
- „Eskalation in Nahost“, meldete Tagesschau, nachdem der Iran rund 200 Raketen Richtung Israel geschickt hatte. Die Meldung zum israelischen Angriff auf den Libanon am Tag zuvor: „Israel beginnt lokal begrenzte Bodenoffensive.“
- „Iranischer Großangriff“, meldete BILD am Abend des 1. Oktober. Den Einmarsch Israels in den Libanon am Tag zuvor bezeichnete die Redaktion hingegen als eine „begrenzte Operation am Boden“
- Eine „neue Eskalationsstufe“ sah N-TV im Angriff Irans. Israels Eskalation im Libanon hingegen: eine „begrenzte Bodenoffensive“, mit dem Ziel „Terror-Infrastruktur zu eliminieren“.
Dieser Gegensatz fand sich in allen großen Tageszeitungen und Online-Medien. Sie alle beschrieben den iranischen Angriff entweder sachlich und faktenbasiert wie die FAZ, die auf ihrer Titelseite schlicht titelte „Iran feuert Raketen ab“ oder dramatisiert, wie die NZZ die den Angriff als „totale Eskalation“ bezeichnete.
In vielen Beiträgen finden sich zudem Adjektive wie „massiv“, um den iranischen Angriff zu beschreiben. Zur Beschreibung des um ein vielfaches tödlicheren Einmarsches Israels in den Libanon finden sich solche Begriffe nicht. Diesen beschrieben Medien durchgängig mit von der israelischen Armee vorgegebenen Euphemismen wie „begrenzte Bodenoperation“ (WAZ) oder „präziser Einsatz gegen Hisbollah-Ziele“ (WELT). Die naheliegenden Begriffe „Invasion“ oder „Krieg“ benutzte keine Redaktion, um den israelischen Angriff zu beschreiben.
Wie die Redaktionen überprüft hatten, ob die israelischen Angriffe wirklich „präzise“ oder „begrenzt“ waren, wird in keinem der Beiträge erklärt. Eine Pressemitteilung der israelischen Armee reichte aus, damit deutsche Medien die eigene Sorgfaltspflicht über Bord warfen.
Die palästinensische Stadt Rafah vor und nach Israels begrenztem Einsatz. Screenshot von Bellingcat, „Satellite Imagery Shows Vast Destruction in Rafah”
Die letzte „begrenzte Operation“ ließ eine Geisterstadt zurück
Dabei hätten die Redaktionen es auch hier längst besser wissen müssen. Als die israelische Armee im Mai 2024 in die Stadt Rafah im Gazastreifen einmarschierte, hatten viele Medien fast identische Formulierungen verwendet. „Israel setzt ‚begrenzte‘ Einsätze in Rafah fort“. Diese dpa-Meldung findet sich in den meisten großen Tageszeitungen.
Wenige Wochen später war das zuvor mit über einer Million Binnenvertriebenen überfüllte Rafah eine zum großen Teil zerstörte Geisterstadt. Um das zu erfahren, schlug man aber am besten ausländische Zeitungen auf. Über das reale Ausmaß und die realen Folgen des „begrenzten Einsatzes“ erfuhr man in deutschen Medien wenig. Auch in diesem Fall war der mediale Zug schon zur nächsten „Spezialoperation“ und zum „präzisen Gegenschlag“ weitergefahren.
Wie unterschiedlich Medien Ereignisse beschreiben, je nachdem ob Israelis die Opfer oder die Täter sind, lässt sich oft sogar innerhalb einzelner Beiträge, manchmal sogar anhand einzelner Überschriften nachvollziehen. „Raketenterror über Tel Aviv. Luftangriffe auf Hisbollah-Ziele.“ Diese Schlagzeile erschien am 25. September 2024 in Der Spiegel. Mit der dramatisierenden Formulierung „Raketenterror über Tel Aviv“ war eine einzelne Rakete der Hisbollah gemeint, die nahe Tel Aviv abgefangen wurde und durch die glücklicherweise niemand zu Schaden kam.
Mit „Luftangriffe auf Hisbollah-Ziele“ bezeichnete das Nachrichtenmagazin hingegen den Abschuss und Abwurf hunderter Raketen und Bomben durch die israelische Armee, durch die in den Tagen zuvor hunderte Menschen getötet, Tausende verletzt und Zehntausende vertrieben wurden. Die Formulierung war nicht nur euphemistisch, sondern auch faktisch falsch. Denn getroffen hatte die israelische Armee nicht nur „Hisbollah-Ziele“, sondern zahlreiche zivile Gebäude wie Wohn- und Krankenhäuser. Getötet hatte sie dabei nach Angaben libanesischer Behörden vor allem Zivilisten.
Die Legende von den nicht nachprüfbaren „Hamas-Angaben“
Sucht man in deutschen Medienberichten nach Opfern israelischer Angriffe, stößt man schnell auf eine immer wiederkehrende Formulierung: „Die Angaben können nicht unabhängig überprüft werden“. Handelt es sich um palästinensische Opfer, kommt meist noch die Bezeichnung „Hamas-Angaben“ hinzu. Entsprechende Hinweise unter offiziellen israelischen Angaben, die Journalisten mindestens genauso wenig nachprüfen, findet man weitaus seltener.
Warnhinweis auf Tagesschau.de – zu finden meist unter palästinensischen und libanesischen Angaben
Wer sich auf den Ursprung der Erzählung von den „nicht nachprüfbaren Hamas-Angaben“ macht, muss überraschenderweise nicht weit zurückgehen. Sie entstand im Oktober 2023 – obwohl die Hamas bereits seit 2007 die Verwaltung des Gazastreifens innehat und seitdem auch die offiziellen palästinensischen Todeszahlen für diese Region herausgibt. Doch jahrelang schien sich kaum ein Journalist an den Angaben zu stören.
Im Gegenteil: Blickt man zurück auf die Berichterstattung über vergangene Kriege, wurden offizielle Angaben über palästinensische Todeszahlen selten infrage gestellt. Nicht die rund 1.400 Toten des Krieges von 2008, nicht die 150 von 2012, nicht die 2.100 von 2014 und auch nicht die 250 von 2021. Schon damals handelte es sich – nach heutigen Begrifflichkeiten – um „Hamas-Angaben“ – auch wenn die Zahlen, die das Palästinensische Gesundheitsministerium in Gaza auf Basis der Sterbemeldungen der Krankenhäuser im Küstenstreifen herausgibt, nie so bezeichnet wurden.
Das jahrelange mediale Vertrauen in die offiziellen Zahlen zu palästinensischen Toten hat einen einfachen Grund: Sie haben sich stets als verlässlich erwiesen. Abweichungen zu später erhobenen Zahlen der Vereinten Nationen bewegten sich in den vergangenen Kriegen stets im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Auch in diesem Krieg haben unter anderem Vertreter von WHO, Human Rights Watch und UN die Glaubwürdigkeit der Zahlen bestätigt.
Nicht die Glaubwürdigkeit der Zahlen hat sich geändert, sondern die Art der Berichterstattung
Der Grund, warum Medienschaffende trotzdem neuerdings an den Zahlen zweifeln, sind keine eigenen Recherchen, die zeigen, wie die Hamas die Todeszahlen manipuliert hätte. Was sich gegenüber den Vorjahren geändert hat, ist nicht die Verlässlichkeit der Zahlen – es ist der Journalismus.
Einmal mehr haben Medienschaffende unkritisch die Angaben der israelischen PR-Maschinerie übernommen. Als deren Vertreter ab Mitte Oktober 2023 die palästinensischen Angaben öffentlich in Zweifel zogen und das Framing von den „Hamas-Zahlen“ in die Welt setzten, übernahmen viele Redaktionen diese Darstellung einfach. Eine Zeit lang kamen palästinensische Opferzahlen daraufhin in einigen Medien gleich gar nicht mehr vor. Dem Live-Ticker von Zeit Online war lange Zeit zum Beispiel diese Zusammenfassung vorangestellt:
So einfach lassen sich zehntausende Tote aus der Welt schaffen und die Verhältnisse der Gewalt in Nahost völlig auf den Kopf stellen. Auch heute noch begegnet man palästinensischen Opferzahlen in deutschen Medienberichten auffällig selten und wenn, dann meist mit Hinweisen, die diese Angaben zu Unrecht in Zweifel ziehen.
Das heißt nicht, dass Journalistinnen die Zahlen einfach für sich stehen lassen sollen. Tatsächlich ist Zweifel an der Aussagekraft der Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums angebracht. Aber nicht, weil es Hinweise darauf gibt, dass die Zahlen übertrieben sein könnten. Im Gegenteil. Ein journalistisch sauberer Hinweis zur Aussagekraft offizieller palästinensischer Opferzahlen könnte wie folgt lauten:
„Die Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums in Gaza umfassen nur behördlich registrierte Todesfälle. Experten weisen darauf hin, dass die tatsächliche Zahl der Getöteten sehr viel höher liegen dürfte. Gründe sind unter anderem, dass viele Tote noch unter den Trümmern liegen oder durch die Zerstörung bürokratischer Strukturen in Gaza nicht erfasst werden konnten. Eine Zählung von 99 amerikanischen Ärztinnen und Ärzten, die im Gazastreifen Dienst taten, kam am 2. Oktober 2024 auf 118.908 Todesopfer. Eine am 10. Juli 2024 von Forschenden im Wissenschaftsmagazin The Lancet veröffentlichte Schätzung geht von mindestens 186.000 Todesopfern aus.“
Namen, Bilder und Geschichten gibt es meist nur von israelischen Opfern
Die Angabe von Todeszahlen ist nur ein kleiner Aspekt, wenn es darum geht, menschliches Leid sichtbar zu machen. Jeder Journalist lernt in seiner Ausbildung: Gute Berichterstattung braucht Namen, Bilder und Geschichten. In der deutschen Nahost-Berichterstattung heißt das vor allem: israelische Namen, israelische Bilder und israelische Geschichten.
Reportagen, Porträts und Interviews über und mit Opfern und Angehörigen des Hamas-Überfalls vom 7. Oktober 2023 finden sich in allen großen deutschen Medien und erscheinen bis heute immer noch mehrmals wöchentlich. Eine auch nur annähernd vergleichbare Berichterstattung zu den palästinensischen, libanesischen, syrischen oder jemenitischen Opfern israelischer Angriffe gibt es nicht.
Ein Beispiel von vielen: die Berichterstattung über Shani Louk. Die Deutsch-Israelin besuchte am 7. Oktober 2023 das von Kämpfern der Hamas und anderer militanter palästinensischer Gruppen überfallene Supernova-Festival und galt lange als verschollen. Am 17. Mai 2024 meldete die israelische Armee, Louks Leiche in einem Tunnel im Gazastreifen gefunden zu haben. Bis heute ist die junge Frau Gegenstand riesiger medialer Aufmerksamkeit. Allein über Shani Louk und ihre Familie erschienen in deutschen Medien bis heute mehr Porträts und Reportagen als über alle palästinensischen Todesopfer zusammen.
Einer von hunderten Artikeln über die von der Hamas getötete Deutsch-Israelin Shani Louk. Der Spiegel vom 12. September 2024.
Einer von drei Artikeln über die von der israelischen Armee getötete deutsch-palästinensische Familie Abujadallah. Süddeutsche Zeitung vom 8. Dezember 2023.
Man mag argumentieren, dass Shani Louks deutsche Herkunft sie für deutsche Medien besonders interessant macht. Das stimmt. Aber müsste das dann in ähnlicher Weise nicht auch für die Familie Abujadallah gelten? Die sechsköpfige Familie aus Dortmund befand sich zu einem Familienbesuch in Gaza als eine Bombe der israelischen Armee in ihr Wohnhaus einschlug und Mann, Frau und die vier Kinder tötete. Sowohl Shani Louk als auch die Abujadallahs hatten deutsche Pässe. Dennoch könnte die mediale Aufmerksamkeit unterschiedlicher nicht sein: In den zehn auflagenstärksten deutschen Zeitungen wurde die deutsch-israelische Shani Louk im vergangenen Jahr in über 200 Beiträgen erwähnt. Der deutsch-palästinensischen Familie Abujadallah widmeten dieselben Zeitungen insgesamt drei Beiträge – alle gingen auf eine einzelne Redakteurin der Süddeutschen Zeitung zurück.
Dieser Bias zugunsten israelischer und zu Lasten aller anderen Opfer, wird besonders an jenen Tagen deutlich sichtbar, an denen neben Palästinensern, Libanesen, Syrern oder Jemeniten auch Israelis sterben. Der 1. September 2024 war so ein Tag. Palästinensische und israelische Behörden meldeten an dem Tag insgesamt 53 Tote: 47 Palästinenser kamen bei israelischen Angriffen im Gazastreifen ums Leben. Aus einem Tunnel in Rafah barg die israelische Armee zudem sechs tote israelische Geiseln. Letztere waren an jenem Tag das Top-Nachrichtenthema in deutschen Medien. In unzähligen Zeitungsbeiträgen gab es Geschichten über jeden einzelnen der Getöteten. Online-Medien zeigten Kinderbilder, im Radio und TV liefen Interviews mit den Angehörigen.
Allein auf der Website der Tagesschau erschienen zu den sechs getöteten israelischen Geiseln an diesem Tag 21 Beiträge. Von den 47 Palästinensern, die am selben Tag getötet wurden, erfuhr das Tagesschau-Publikum hingegen so gut wie nichts. Ein zehnzeiliger Eintrag im Live-Blog über „11 Tote bei Angriff im Gazastreifen“ war der einzige Hinweis, dass an jenem Tag auch Palästinenser ums Leben gekommen waren. Und selbst diese knappe Meldung bestand zur Hälfte aus der Darstellung der israelischen Armee, wonach der Angriff einer „Hamas-Kommandozentrale“ gegolten habe.
Die Parallelwelt der BILD
Diese Schieflage zugunsten israelischer und zu Lasten aller anderen Opfer findet sich in allen großen deutschen Medien. Aber in keinem Medium ist sie so extrem wie in der BILD. Schon vor dem 7. Oktober 2023 waren Palästinenserinnen in Deutschlands auflagenstärkster Zeitung fast nur dann ein Thema, wenn sich Aggressionen gegen Israel richteten und nie, wenn Aggressionen von Israel ausgingen (oder wenn BILD es so darstellen konnte).
BILD-Leserinnen leben in einer Parallelwelt, in der das von Israel verursachte Leid nicht vorkommt. Von Opfern israelischer Angriffe erfährt man in BILD nur, wenn es sich bei ihnen um „Terroristen“ handelt (oder BILD sie als solche bezeichnet).
Eine der seltenen BILD-Schlagzeilen zu einem israelischen Angriff – in diesem Fall auf ein Flüchtlingslager mit über 90 Toten
Der 13. Juli 2024 war einer der seltenen Tage, an dem es ein israelischer Angriff in eine Schlagzeile von Bild.de schaffte. Sie lautete: „Israels Schlag gegen Terror-Führer: Ist die Hamas-Bestie HIER etwa lebend rausgekommen?“ Dazu ein Foto von Mohammed Deif, dem Chef der Qassam-Brigaden, dem militanten Arm der Hamas. Über die mindestens 90 weiteren Todesopfer und über 300 Verwundeten, die Israels Bombardierung des Flüchtlingslagers al-Mawasi zur Folge hatte, erfuhren BILD-Leser nichts.
Auch über Opfer der israelischen Angriffe auf den Libanon erfahren BILD-Leserinnen nur dann etwas, wenn es sich nach Darstellung von BILD dabei um „Hisbollah-Terroristen“ handelt. Nur ein einziges Mal schaffte es bisher ein Toter des Krieges im Libanon, mit Foto und Namen auf Bild.de – ohne von der Redaktion als „Terrorist“ bezeichnet zu werden. „Von Hisbollah-Terroristen erschossen: Israel-Soldat (†22) verschickte vor seinem Tod ein Video“, lautete die Schlagzeile vom 2. Oktober 2024. Die 2.000 Menschen, die „Israel-Soldaten“ in den letzten Monaten im Libanon töteten, waren der BILD-Redaktion keine Überschrift wert.
Das größte Versagen besteht in den Beiträgen, die nie geschrieben wurden
In vielerlei Hinsicht haben viele deutsche Medien ihre Art der Nahost-Berichterstattung in den letzten Monaten von BILD übernommen. Die unkritische Übernahme israelischer Armeepropaganda, der Ausschluss palästinensischer Stimmen, der einseitige und wirklichkeitsverzerrende Fokus auf israelische Opfer, der oftmals mitschwingende Rassismus und die Ausblendung aller Fakten und Perspektiven, die sich nicht in die Erzählung von der islamischen Barbarei und der westlichen Zivilisation fügen: Für all das steht die Berichterstattung der BILD schon seit Jahren. Während die Zeitung bis zum 7. Oktober 2023 aus den meisten anderen Redaktionen für diese Art der Berichterstattung entweder belächelt oder verachtet wurde, tun es ihr die meisten großen Medien in Deutschland mittlerweile gleich.
Das zeigt sich vor allem daran, was Medien nicht berichten. Das größte Versagen deutscher Nahost-Berichterstattung besteht nicht in den einseitigen, irreführenden oder falschen Berichten. Es besteht in den Berichten, die nie geschrieben und Beiträgen, die nie gesendet wurden. Ein Großteil des Schreckens, der sich jeden Tag im Nahen Osten abspielt, versteckt sich bestenfalls in kleinen Agenturmeldungen oder den hinteren Zeitungsseiten. Immer häufiger nicht einmal das.
Aufmacher auf Zeit.de am Morgen nach einem der größten Massaker dieses Krieges
In der Nacht auf den 10. August 2024 bombardierte die israelische Armee eine mit Flüchtlingen überfüllte Schule im Osten von Gaza-Stadt und tötete nach palästinensischen Angaben über 100 Menschen. Der Angriff auf die Tabin-Schule war eines der größten Massaker dieses Krieges und wäre zu anderen Zeiten und im Fall anderer politischer Konstellationen Gegenstand von Breaking News und Titelseiten gewesen. In fast allen deutschen Medien war das Massaker hingegen bestenfalls ein Ereignis von vielen.
Die Aufmacher der großen Online-Nachrichtenwebsites am Morgen nach dem Angriff: die Renovierung des Berliner Pergamon-Museums (Der Spiegel), der Erfolg einer neuen Abnehmspritze (Zeit Online), die Talahon-Abteilung einer Edeka-Filiale (BILD). Auch auf den Covern der großen Tageszeitungen fand das Massaker kaum statt. Eine kleine Meldung auf der Titelseite der Süddeutschen Zeitung war die einzige Erwähnung. Nur die junge Welt widmete dem Angriff auf die Tabin-Schule ihren Aufmacher.
Es gibt Alternativen zur Gewalt, Journalisten berichten nur nicht darüber
Nicht nur das Ausmaß des Leides in Nahost hat immer seltener in deutschen Medien Platz. Großes Schweigen herrscht in deutschen Medien auch immer dann, wenn Nachrichten publik werden, die die gängigen israelischen Narrative und Gewaltlogiken infrage stellen.
In tausenden Beiträgen wird bis heute die Geschichte erzählt, wonach Israel den Krieg in Gaza führe – und führen müsse –, um die Geiseln aus der Gefangenschaft der Hamas zu befreien. Berichte darüber, dass die Hamas schon am 9. Oktober 2023 die Freilassung aller Geiseln im Gegenzug für ein Ende der israelischen Angriffe angeboten haben soll, finden sich in großen deutschen Medien ebenso wenig wie über die vielen anderen Gelegenheiten, zu denen die Hamas israelische und US-amerikanische Bedingungen für einen Waffenstillstand erfüllte. Erst als die Hamas immer weitergehende Forderungen Israels, wie nach einer dauerhaften Besetzung von Teilen des Gazastreifens, zurückwies, berichteten auch viele deutsche Medien: „Hamas schlägt Waffenruhe-Deal aus.“
Für das Friedensangebot sämtlicher 57 islamischer und arabischer Staaten an Israel interessierte sich kaum ein deutsches Medium. Times of Israel am 30. September 2024.
Auch als Ayman Safadi am 27. September 2024 am Rande einer UN-Versammlung in New York vor die Kameras trat, hätte seine Aussage eigentlich das Zeug für Titelseiten und Breaking News gehabt. Im Namen sämtlicher 57 arabischen und islamischen Staaten bot Safadi Israel einen sofortigen Frieden und die vollständige Normalisierung der Beziehung an. Außerdem würden sein Land und alle anderen Staaten für die Sicherheit Israels garantieren. Im Gegenzug soll Israel die Besatzung beenden und die Errichtung eines palästinensischen Staates zulassen.
Kurz: Für Frieden mit der gesamten arabisch-islamischen Welt muss sich Israel nur an internationales Recht halten. Es ist genau das, was auch der Internationale Gerichtshof wenige Monate zuvor von Israel forderte. Dieses Friedensangebot der Arabischen Liga liegt seit 2002 auf dem Tisch und wurde seitdem immer wieder erneuert. Größere mediale Beachtung erregte es in westlichen Medien in den letzten Jahren genauso wenig wie aktuell.
Nichts rechtfertigt den 7. Oktober, der 7. Oktober rechtfertigt alles
„Context is everything.” Diesen Satz hat wahrscheinlich jeder Journalist unzählige Male in Studium oder Volontariat gehört. Nimmt man ihn ernst, würde das bedeuten: Der Großteil der deutschen Nahost-Berichterstattung ist nichts. Schon vor dem 7. Oktober 2023 kamen Begriffe wie „Besatzung“, „Belagerung“ oder „Vertreibung” auffällig selten in Berichten zu aktuellen Ereignissen in Israel und Palästina vor. Dabei sind aktuelle Ereignisse ohne ein Mindestmaß an Einordnungen zu Geschichte und Politik der Region nicht zu verstehen.
Schon etwas von Geschichtsklitterung hat die chronische Weigerung vieler deutscher Redaktionen, sich mit den Ereignissen vor dem 7. Oktober 2023 auseinanderzusetzen. Mehr noch: Viele Journalisten machen die eigene Ignoranz gegenüber der Gewalt, Besatzung und Entrechtung, die die Region bis zum 6. Oktober 2023 prägte, zu einer Art politischem Statement. In vielen Medien lautet die Botschaft bis heute: Nichts rechtfertigt den 7. Oktober, der 7. Oktober rechtfertigt alles.
Einordnungen zur seit 17 Jahren andauernden Belagerung des Gazastreifens, der seit 57 Jahren andauernden israelischen Besatzung, den seit 76 Jahren andauernden Vertreibungen und Entrechtungen finden sich nur in wenigen Beiträgen deutscher Medien. „It didn’t start on Oct 7” ist ein beliebter Slogan in Sozialen Medien und auf palästinensischen Kundgebungen im letzten Jahr. In den meisten deutschen Redaktionen ist diese Binsenweisheit noch nicht angekommen.
The New Arab am Tag bevor Palästinenser scheinbar grundlos Israel angriffen
Wenn es nicht einmal ein Genozid in die Schlagzeilen schafft
Die größte Leerstelle offenbart der deutsche Nahost-Journalismus aber regelmäßig beim Umgang mit jenen Informationen, die es angeblich kaum gibt: den von unabhängigen Quellen. Wie sehr ein Journalismus, der nur noch aus der endlosen Wiederholung vermeintlicher „Hamas-Kommandozentren“, „begrenzter Gegenschläge“ und „Angaben, die nicht überprüft werden können”, die Realität verschleiert, zeigte sich unter anderem am 26. Januar 2024. An dem Tag ordnete der Internationale Gerichtshof (IGH) Israel an, alles zu tun, um einen Völkermord an den Palästinensern im Gazastreifen zu verhindern. Die Anordnung wurde weitgehend ignoriert – von Israel und den meisten Medien.
In den Print-Ausgaben der großen deutschen Tageszeitungen fand sich die Warnung vor einem Völkermord durch das höchste Gericht der Welt nur in einer einzigen Schlagzeile wieder. Das Top-Nachrichtenthema zu dieser Zeit: Anschuldigungen der israelischen Armee, im Palästina-Hilfswerk der Vereinten Nationen (UNRWA) befänden sich „Hamas-Terroristen.“
Anders als es die meisten deutschen Medien regelmäßig ihrem Publikum glauben machen wollen, lassen sich Angaben überprüfen. Viele Menschen tun das tagtäglich, oftmals unter Einsatz ihres Lebens. Seit einem Jahr bieten Hilfsorganisationen, Menschenrechtler, internationale Organisationen, Wissenschaftler und investigative Reporterinnen glaubwürdige und umfassende Einblicke in das wahre Ausmaß von Leid und Schrecken in der Region.
Auf Titelseiten und in den Nachrichtensendungen großer deutscher Medien findet man ihre Erkenntnisse dennoch nur selten. Hier ist eine sehr kleine Auswahl an unabhängigen Veröffentlichungen, die weit aus glaubwürdiger sind als IDF-Pressemitteilungen und dennoch sehr viel weniger Aufmerksamkeit bekamen:
- 13.10.2023: Das Essay „A Textbook Case of Genocide” des israelischen Holocaust- und Genzodi-Forschers Raz Zegal.
- 22.11.2023: Der gemeinsame Bericht verschiedener internationaler humanitärer Organisationen u.a. zur Realität von „Safe Zones” in Gaza
- 13.11.2023: Der Fact Check von The Intercept zu Israels Vorwürfen gegen das Al-Shifa-Krankenhaus
- 30.11.2023: „A mass assassination factory” von +972 über Israels Einsatz von KI in Gaza
- 09.12.2023: Das Statement von über 55 Holocaust- und Genozidforschern zur „Mass Violence in Israel and Palestine”
- 24.03.2024: Die Dokumentation der UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese über den „Völkermord in Gaza” „Anatomy of a Genocide”
- 09.04.2024: „Netanyahu Is Blocking a Hostage Deal” im Jacobin-Magazin
- 13.04.2024: „Yes, it is genocide” des israelischen Historikers Amos Goldberg
- 15.05.2024 Der UNHR-Bericht „Genocide in Gaza: Analysis of International Law and its Application to Israel’s Military Actions since October 7, 2023”
- 14.05.2024: Dokumentation von Angriffen auf das palästinensische Gesundheitssystem durch Medecines Sans Frontieres
- 25.06.2024: Die Recherche von +972 zur gezielten Tötung von Journalisten in Gaza
- 10.07.2024: Die Lancet-Studie „Counting the dead in Gaza”
- 19.07.2024: Der Bericht der US-amerikanischen Ärzte Mark Perlmutter und Feroze Sidhwa „We Volunteered at a Gaza Hospital. What We Saw Was Unspeakable.”
- 31.07.2024: UN-Bericht über die Misshandlung palästinensischer Gefangener
- 13.08.2024: Haaretz-Recherche darüber, wie die israelische Armee Palästinenser als menschliche Schutzschilde verwendet
- 13.08.2024: „As a former IDF soldier and historian of genocide, I was deeply disturbed by my recent visit to Israel” des israelischen Holocaust-Forschers Omer Bartov
- 25.08.2024 Der Bericht von B’Tselem über die Misshandlung palästinensischer Gefangener „Welcome To Hell”
- 30.09.2024: „The Target Factory” über Israels Einsatz von KI in Gaza
- 02.10.2024 Al-Jazeeras Dokumentation über israelische Kriegsverbrechen anhand von Social-Media-Posts der beteiligten Soldaten
- 02.10.2024: Der Brandbrief von 99 amerikanischen Ärzten an die US-Regierung, der die Zahl der Toten in Gaza auf über 100.000 schätzt
- 03.10.2024: Auswertung von FAO und UNOSAT zur Zerstörung landwirtschaftlicher Infrastruktur in Gaza
- 08.10.2024: Die Klage gegen 1.000 IDF-Soldaten wegen Kriegsverbrechen
- 08.10.2024: Die Al-Jazeera-Recherche „Israel wiped out 902 families in Gaza”
- 09.10.2024: Die Dokumentation von Airwars „The Killings They Tweeted”
- 10.10.2024: Der UN-Bericht über die systematische Zerstörung des palästinensischen Gesundheitssystems
Statt den zahlreichen unabhängigen Berichten Aufmerksamkeit zu schenken, war die Berichterstattung auch zum Jahrestag des 7. Oktober 2023 in deutschen Medien vor allem von Relativierung, Rechtfertigung und Ignoranz gegenüber Israels Gewalt geprägt – nicht nur in der eingangs erwähnten Tagesschau. Auch in den Heute-Nachrichten des ZDF widmete man sich mit Bildern, Interviews und Geschichten ausführlich den Opfern des vergangenen Jahres – den israelischen, nicht den palästinensischen. Zur Einordnung der Gewalt, mit der Israel seit einem Jahr die Region überzieht, wählte man eine andere Form: Man schaltete Israels Armeesprecher zu.
Eine Zerstörung, wie sie die Welt seit 1948 nicht gesehen hat. Mit diesen drastischen Worten beschrieb auch das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen einmal die Folgen des Krieges in Gaza. Selbst im Best Case- Szenario würde der Wiederaufbau bis ins Jahr 2040 dauern. Realistischer sei, dass die Schäden selbst im nächsten Jahrhundert noch nicht überwunden seien. Für die Glaubwürdigkeit des deutschen Journalismus dürfte die Prognose ähnlich lauten.
Das Aufmacherbild zeigt das Gemälde „”La vuelta del malón” des argentinischen Malers Ángel della Valle aus dem Jahr 1892. Abgebildet ist eine fiktive Szene, in der indigene Krieger eine weiße Frau entführen. Die kolonialistische, dichotome Weltsicht von nicht-weißen „Barbaren” und unschuldigen Weißen kann man heute auch in manchem Tagesschau-Beitrag wiederentdecken.
Der Artikel von Fabian Goldmann erschien am 16. Oktober 2024 auf seinem Blog Schantall und die Scharia und wurde mit freundlicher Genehmigung des Autors auf etos.media zweitveröffentlicht.
Eine Antwort
Toller und starker Artikel! Deutsche Medien und Journalismus (bis auf wenige) sind heutzutage eine Schande und werden international geächtet genau wie die Regierung..