Das Europäische Parlament spricht sich mit überwältigender Mehrheit für die andauernde militärische Unterstützung der Ukraine „bis zum Sieg“ aus, will Beschränkungen für den Einsatz westlicher Waffen in Russland, einschließlich Taurus-Marschflugkörper, unverzüglich aufheben, und verlangt dafür aus den Haushalten der EU- und NATO-Staaten astronomische Summen. Die Wörter Diplomatie, Verhandlungen und Multilateralismus kommen auch nach zweieinhalb Jahren Krieg in dem neunseitigen Dokument nicht vor. Dafür soll die EU-Kommission strategische Kommunikation in den Mitgliedstaaten anstoßen, die den Menschen die Bedeutung des Krieges erläutert. Ein düsterer Ausblick für die Zukunft.
Am 19. September 2024 hat das Europäische Parlament eine Entschließung zur anhaltenden finanziellen und militärischen Unterstützung für die Ukraine verabschiedet. Sie wurde mit überwältigender Mehrheit angenommen, was keine Überraschung ist, da sie von fast allen Fraktionen von grün bis rechtskonservativ gemeinsam eingebracht wurde. Die Linke hatte einen separaten Antrag eingereicht und sich dem gemeinsamen Entwurf der Grünen, Liberalen, Sozialdemokrat:innen, Konservativen und Rechtskonservativen nicht angeschlossen; die rechtsaußen-Fraktionen PfE und ESN hatten keinen eigenen Vorschlag beigesteuert. 425 Abgeordnete stimmten mit Ja, 131 mit Nein, und 63 enthielten sich. Das macht eine Zweidrittel-Mehrheit für Ja, wenn man die Enthaltungen mitzählt. Ansonsten wären es drei Viertel.
Der angenommene Text zeichnet ein wahrhaft düsteres Bild für unsere gemeinsame Zukunft, in Ausrichtung, Wortwahl und Auslassungen. Als einzige Option bietet er Krieg bis zum Sieg. Der Beschluss ist zwar nicht bindend, aber man sollte zumindest annehmen, dass er in irgendeiner Form die europäische Wählerschaft repräsentiert. Unter diesem Gesichtspunkt ist es wichtig, sich die Resolution genauer anzuschauen.
Die europäische öffentliche Meinung: Solidarität mit der Ukraine und Verhandlungswillen
Bevor wir uns dem Inhalt der Parlamentsresolution widmen, möchte ich ausschnitthaft einige Eindrücke zur öffentlichen Meinung wiedergeben. Es scheint offenkundig, dass die Mehrheit der EU-Bürger:innen solidarisch mit den Menschen der Ukraine ist und auch nach wie vor grundsätzlich die Unterstützung der Ukraine durch ihre Länder und die EU befürwortet. Man kann auch davon ausgehen, dass die wenigsten Russlands Invasion gutheißen oder sich einen Sieg Russlands wünschen, selbst wenn es zu dieser Frage meines Wissens keine handfesten Daten gibt. Was die Art und Weise der Unterstützung für die Ukraine angeht, ist die europäische öffentliche Meinung allerdings gespalten. Dieses differenzierte Bild in Bezug auf die Mittel findet leider keinerlei Beachtung im aktuellen parlamentarischen Beschluss.
Laut einer vom European Council on Foreign Relations in Auftrag gegebenen Umfrage von Januar 2024 glaubten nur 10% der Befragten aus verschiedenen EU-Ländern an einen Sieg der Ukraine. 30% bestätigten allerdings, dass sie – wenn sie entscheiden könnten – die Ukraine dabei unterstützen würden, die von Russland besetzten Gebiete zurückzugewinnen. 40% wiederum gaben an, sie würden die Ukraine zu Verhandlungen für ein Friedensabkommen mit Russland drängen. Interessant ist, dass Deutschland bei dieser Frage ziemlich genau in der Mitte des länderübergreifenden Meinungsbilds liegt. Das heißt, die teils eklatanten Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland, die in den hiesigen Erhebungen zu Tage kommen und heiß diskutiert werden, ergeben europaweit einen Durchschnitt (der übrigens seinerseits trotz großer Unterschiede zwischen einzelnen Ländern keine nennenswerte Ost-West- und auch keine Nord-Süd-Diskrepanz aufweist).
Im deutschen Kontext ist eine Umfrage der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) aufschlussreich, obwohl die letzten Daten von März 2023 und somit nicht aktuell sind. Dort zeigte sich eindeutig eine Unzufriedenheit mit den deutschen Anstrengungen zur diplomatischen Beilegung des Krieges. Mehr als die Hälfte (53%) meinten, sie gehen nicht weit genug, während nur ein Drittel (33%) sie angemessen fanden. In Bezug auf Unterstützung mit Waffen fand knapp die Hälfte das deutsche Engagement angemessen; 31% wiederum fanden, es geht zu weit, und nur 16% meinten, es müsse mehr getan werden. Laut einer aktuellen Statista-Umfrage von September 2024 sind mittlerweile die Hälfte (51%) der Deutschen der Meinung, Deutschland solle keine Waffen mehr an die Ukraine liefern. 38% finden, es sollten auch in Zukunft Waffen geliefert werden. Daraus lässt sich nicht entnehmen, in welchem Umfang Waffenlieferungen unterstützt werden. Trotz der unterschiedlichen Fragestellung zeichnet sich ein allgemeiner Meinungstrend gegen eine weitergehende militärische Unterstützung ab. Um das militärische Mehr-Tun, dem nur eine Minderheit zustimmt, scheint es in der Politik aber die ganze Zeit zu gehen. Und genau das propagiert auch der europäische Parlamentsbeschluss.
Der EU-Parlamentsbeschluss: Krieg bis zum Sieg
Die Abgeordneten des EU-Parlaments haben sich mit überwältigender Mehrheit für eine politische Linie ausgesprochen, die unnachgiebig auf militärische Konfrontation setzt, indem es „seine Unterstützung der Zusagen der EU und ihrer Mitgliedstaaten, bis zum Sieg der Ukraine in jeder möglichen Weise humanitäre, militärische, wirtschaftliche, finanzielle und politische Unterstützung zu leisten,“ bekräftigt.
Was ist mit Sieg gemeint? Das bleibt vorerst undurchsichtig, stellt sich aber im Laufe des Dokuments als Umsetzung von Wolodymyr Selenskyjs Friedensformel heraus. Die Vorstellungen des Parlaments, wie dies erreicht werden soll, sprechen eine eindeutige Sprache. Es „fordert die Mitgliedstaaten auf, Einschränkungen des Einsatzes westlicher Waffen gegen legitime militärische Ziele im Hoheitsgebiet Russlands unverzüglich aufzuheben“ und „bedauert zutiefst, dass der Umfang der bilateralen militärischen Hilfe der Mitgliedstaaten für die Ukraine zurückgeht, […] fordert die Mitgliedstaaten daher erneut auf, […] Waffenlieferungen in Reaktion auf eindeutig ermittelten Bedarf, […] einschließlich des Marschflugkörpers Taurus, zu beschleunigen“.
Während die Resolution den Rückgang der bilateralen militärischen Hilfe zutiefst bedauert, „begrüßt [sie] die öffentlichen Anstrengungen und die Crowdfunding-Initiativen von Bürgern in einigen Mitgliedstaaten zur Sicherstellung einer kontinuierlichen Versorgung der Ukraine mit Waffen“. Ja, das steht dort wirklich. Bürger:innen sollen die Waffenversorgung sicherstellen. In der deutschen Übersetzung werden diese Bürgerinitiativen nur begrüßt, in der englischen Version werden sie begrüßt und beklatscht („welcomes and applauds“). Das war für den deutschen Text dann wahrscheinlich doch zu viel…
Unfassbare Summen für militärische Unterstützung
In Bezug auf den finanziellen Umfang „bekräftigt [das Parlament] seinen Standpunkt, dass alle EU-Mitgliedstaaten und NATO-Verbündeten gemeinsam und individuell ihre Zusage geben sollten, jährlich mindestens 0,25% ihres BIP für die militärische Unterstützung der Ukraine aufzuwenden“. Abgesehen von der Gefahr einer Ausweitung des Krieges in Raum und Zeit (die Entschließung verzichtet auf einen Zeitrahmen) würde die Umsetzung dieser Vorgabe die meisten europäischen Gesellschaften wohl in den Ruin treiben. Darüber hinaus hat das EU-Parlament keinerlei Handhabe, für NATO-Verbündete zu sprechen, die nicht Mitglieder der EU sind. Somit grenzt es an eine mutwillige Irreführung der Ukraine, eine solche Unterstützung, wenn auch nur unverbindlich, in Aussicht zu stellen.
Um die schwer vorstellbaren Zahlen in Relation bringen: 2023 hatte Deutschland laut Statistischem Bundesamt ein BIP (Bruttoinlandsprodukt) von ungefähr 4,2 Billionen Euro. 0,25% davon sind 10,5 Milliarden Euro. Der Regierungsentwurf für den Bundeshaushalt 2025 beläuft sich auf knapp 490 Milliarden Euro. Das würde also bedeuten, dass Deutschland über 2% seines gesamten Haushalts allein für die militärische Unterstützung der Ukraine ausgeben sollte. Das wäre soviel wie der Etat für das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (2,1%) und ziemlich viel mehr als die Mittel für das Ministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen (1,5%). Der Betrag scheint aber nicht im Haushaltsentwurf eingestellt zu sein. Für das laufende Jahr hatte die Bundesregierung ursprünglich mit 4 Milliarden Euro für die militärische Unterstützung der Ukraine geplant; der Bundestag stockte diesen Betrag dann auf knapp 7,5 Milliarden Euro auf. Auch für 2025 sieht die Regierung laut Tagesschau-Berichten wieder 4 Milliarden Euro vor. Wie eine Erhöhung finanziert werden soll, ist unklar.
Wie auch immer, es bleibt festzuhalten, dass Militär und Verteidigung auch ohne die astronomische Summe von 10,5 Milliarden Euro für die Ukraine einen ziemlich großen Teil der Ausgaben des Bundes ausmachen. Der Haushaltsentwurf 2025 sieht 11% (53 Milliarden Euro) der Mittel für Verteidigung vor. Das ist genauso viel wie für die drei Bundesministerien für Bildung und Forschung (4,6%); Gesundheit (3,35%); und Familie, Senioren, Frauen und Jugend (3%) zusammen. Und das schließt weder das 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr noch die sogenannte Ertüchtigungsinitiative, die Verteidigungsministerium und Auswärtiges Amt gemeinsam (!) über die allgemeine Finanzverwaltung (Einzelplan 60) bewirtschaften, mit ein. Nur das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat einen größeren Etat als die Verteidigung. Das ergibt sich daraus, dass er die Rentenzahlungen, einschließlich Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, beinhaltet. Alle weiteren Bereiche des Ressorts, wie sämtliche Sozialleistungen und Inklusionsförderungen, liegen mit insgesamt 46 Milliarden Euro unter dem Verteidigungsetat. Diese Gewichtung kann nicht zum Wohl unserer Gesellschaft sein.
Was fehlt: Diplomatie
Zurück zur Resolution des EU-Parlaments. Genauso schockierend wie das, was drinsteht, ist das, was fehlt. In dem neunseitigen Dokument tauchen die Wörter Diplomatie und Verhandlungen nicht ein einziges Mal auf. Die Bereitschaft, Verhandlungen als eine Möglichkeit in Betracht zu ziehen, um einen seit zweieinhalb Jahren andauernden Krieg zu beenden, ist kein Eingeständnis von Schwäche oder gar Zustimmung für die Handlungen des Gegners, in diesem Fall Russland. Die Vorstellung, man gebe dem Gegenüber durch Verhandlungsbereitschaft recht, widerspricht dem Gedanken der Diplomatie. Ein weiterer Begriff, der nicht vorkommt, ist multilateral. Dabei gibt die EU an, für Multilateralismus zu stehen und zeigt sich öffentlich „entschlossen, die Reformbemühungen für einen Multilateralismus anzuführen, der für das 21. Jahrhundert tauglich ist“. Auch russische Zivilist:innen oder die russische Zivilgesellschaft bleiben im Text unerwähnt.
In Bezug auf die Möglichkeit für Frieden fordert das Parlament „ein tatkräftiges Engagement der EU bei der Umsetzung der Friedensformel der Ukraine sowie bei der Schaffung der Grundlagen für die Abhaltung des zweiten Friedensgipfels“. Die Friedensformel von Wolodymyr Selenskyj („Ukraine’s Peace Formula“) beinhaltet 10 Punkte, unter anderem die volle Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine sowie ihre Eingliederung in den euro-atlantischen Sicherheitsraum. Als Vorbedingung für Gespräche – insbesondere, wenn sie wie in diesem Parlamentsbeschluss von außen kommt – scheint das in der jetzigen Situation nicht konstruktiv. Der zweite Friedensgipfel (Peace Summit) bezieht sich auf eine Neuauflage des ersten Gipfels in der Schweiz im Juni 2024, zu dem Russland nicht eingeladen war. Ohne die Teilnahme Russlands als maßgebliche Kriegspartei, zumindest durch Vermittler, macht ein Friedensgipfel wenig Sinn. Mehr zum Thema Frieden, oder wenigstens zu diplomatischen Bemühungen in Richtung Konfliktlösung, hat die Resolution nicht zu bieten, und das ist sehr dünn.
Aufruf zur „strategischen Kommunikation“ über die Bedeutung des Krieges
Deshalb bleibt dem Europäischen Parlament letztendlich nichts anderes übrig, als auf Propaganda zu setzen. In dem Beschluss fordert es „die Kommission auf, in den Mitgliedstaaten eine strategische Kommunikation anzustoßen, um die Bedeutung der Verteidigung der Ukraine für die allgemeine Stabilität in Europa zu erläutern und sicherzustellen“. Dieser Satz ist eines Parlaments, also einer Volksvertretung, nicht würdig. Er beschreibt die Menschen, die es gewählt haben, als unmündig und unfähig, eigenständig zu begreifen, was ein sicheres Europa ausmacht. Darüber hinaus unterstellt er indirekt Desinteresse am Schicksal der Ukraine. Die Abgeordneten, die die Belange der europäischen Wähler:innen repräsentieren sollen, sagen ganz offen, dass unsere Meinung nicht zählt und wir manipuliert werden müssen, wenn sie nicht in Brüssels Pläne passt. Der Parlamentsbeschluss an sich ist schon ein Propagandatext, da müssen sich die Abgeordneten gar nicht hinter der EU-Kommission verstecken.
Gerade im Zusammenhang mit der Einsetzung eines neuen EU-Kommissars für Verteidigung kommt die Resolution als dienerische Schützenhilfe für die harte Linie der Kommission unter Ursula von der Leyen daher. Der erste EU-Kommissar für Verteidigung, Andrius Kubilius aus Litauen, ist genau wie die neue EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas aus Estland ein Hardliner, für den der Krieg nur durch einen Sieg der Ukraine beendet werden kann.
Wenn dies die Grundlage für die strategische Kommunikation sein soll, dann droht nicht nur eine Ausweitung des Krieges, sondern auch zunehmende innergesellschaftliche Spannungen und Entfremdung. Es wird unweigerlich zu weiteren Repressionen der Meinungsfreiheit führen, wenn alle, die eine militärische Eskalation und durch Aufrüstungsausgaben verursachte Einschnitte in ihre Sozialsysteme ablehnen, als uneuropäisch oder russlandfreundlich geächtet werden.
Im Angesicht all dessen ist es erschütternd, dass die drei verbliebenen deutschen Europaabgeordneten der Linken sich nicht geschlossen dagegen positioniert haben. Einzig Özlem Demirel stimmte dagegen, Martin Schirdewan enthielt sich, und Carola Rackete stimmte dafür. Dieser Parlamentsbeschluss ist ein Skandal, der weder dem Willen der Bürger:innen Rechnung trägt, noch Solidarität mit den Menschen in der Ukraine beweist, die die Last des andauernden Krieges tragen. Er dient einzig der weiteren militärischen Eskalation ohne Ausblick auf ein Ende der Gewalt. Das ist eine dunkle Vision für die Zukunft, bei der wir nicht tatenlos zusehen können.
Marie-Olivia Badarne, MERA25 Vorstandsmitglied