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Russland und das Gas – Klimaschutz statt Machtpolitik!

Auch wenn der Angriff Russlands auf die Ukraine ohne Zweifel eine bodenlose Schweinerei und moralisch zutiefst verwerflich ist – das moralische Pathos, mit dem in den NATO-Staaten das Verbrechen der russischen Seite als Mittel zur Verfolgung der eigenen aggressiven imperialen Ziele instrumentalisiert wird, ist unglaubwürdig. Es ist nicht von humanitären Anliegen motiviert, sondern dient dazu, eine aggressive Politik mit dem Ziel der möglichst nachhaltigen militärischen Erniedrigung des geopolitischen Rivalen Russland zu rechtfertigen. Es ist offensichtlich, dass die moralische Messlatte nur an den Rivalen auf der geopolitischen Bühne angelegt wird. Werden ähnliche Verbrechen von Staaten begangen, die zum eigenen Lager gezählt oder zumindest als nützliche Bündnispartner gesehen werden, gibt es weder eine moralische Verurteilung noch Sanktionen.

Teil 3 eines Dreiteilers um den Konflikt um die russischen Gaslieferungen unseres Autoren Paul Michel vom Netzwerk Ökosozialismus (Teil 1, Teil 2).

Bei einem anderen Angriffskrieg, dem Überfall der USA auf den Irak 2003, forderte niemand ernsthaft Sanktionen. Dieser Krieg war deutlich brutaler als der aktuelle in der Ukraine und forderte deutlich mehr Opfer unter der Zivilbevölkerung. Damals war aber der Aggressor eine „befreundete Nation“, die USA.

Bereits seit einigen Jahren führt das saudische Regime einen brutalen Krieg gegen den Jemen. Dort spielt sich die größte humanitäre Katastrophe der Gegenwart ab. Es sind hunderttausende Opfer zu beklagen, internationale Hilfsorganisationen nennen es die „schlimmste humanitäre Krise der Welt“ – und doch hat es dieser Krieg kaum je in die Schlagzeilen geschafft. Es ist eben nicht nur der Krieg des Königreichs Saudi-Arabien, es ist ein Krieg, der ohne die aktive Unterstützung des „Westens“ nicht möglich gewesen wäre. Waffenlieferungen, Logistik und Satellitenaufnahmen hielten den Krieg am Laufen. Saudi-Arabien zählt zu den wichtigsten Kunden deutscher Waffenexporte.

Gipfel der Heuchelei ist, dass US-Präsident Joseph Biden jetzt mit seinem Besuch in Saudi-Arabien den saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman die Aufwartung gemacht hat. Das ist der Mann, der vermutlich den Befehl gegeben hat, den oppositionellen Journalisten Jamal Khashoggi in der saudischen Botschaft in Istanbul zu ermorden und seine Leiche zu zerstückeln. Es macht einen immer wieder fassungslos, wie unverfroren in Washington, Brüssel oder Berlin gelogen und sich ein moralisches Mäntelchen umgehängt wird, obgleich es um Macht- und Interessenpolitik geht.

Habeck: Alles gegen Putin! Wen juckt schon das Klima?

Kern von Habecks Politik ist, dass er das russische Gas durch ungleich teureres und „schmutzigeres“ aus Fracking gewonnenes Flüssigerdgas (LNG) aus den USA ersetzen will. Auch beim Emir von Katar ist Habeck schon wegen LNG vorstellig geworden. Das LNG-Beschleunigungsgesetz, das am 20. und 21. Mai in einem rasenden Tempo von Bundestag und Bundesrat verabschiedet wurde, ist blanker Irrsinn. Mit diesem Gesetz können bis zu zwölf Terminals für den LNG-Import gebaut und bis 2043 betrieben werden. Allein die sieben wahrscheinlichsten Projekte davon würden einen Großteil des deutschen CO2-Restbudgets verbrauchen und die deutschen Klimaziele unerreichbar machen. Hier geht es nicht um kurzfristige Maßnahmen. Solche Terminals sind aufwendige Investitionen. Einmal gebaut, werden solche Anlagen in der Regel auf Jahrzehnte hinaus genutzt – und genauso lange entstehen dann auch die mit ihrem Betrieb verbundenen klimaschädlichen Emissionen. Legte man die fossile Infrastruktur aber früher still, wären die Investitionen verloren. Kein Unternehmen würde das freiwillig tun.

Habeck hat zudem angekündigt, bei der Stromproduktion Gaskraftwerke abschalten zu wollen und stattdessen schon abgeschaltete superdreckige Braunkohlekraftwerke wieder in Betrieb zu nehmen. Das bedeutet: Mehr CO2-Ausstoß, deutlich höherer Ausstoß auch anderer Treibhausgase. Es bedeutet wohl auch: RWE hat einen neuen Grund, Lützerath abzubaggern. RWE-Chef Markus Krebber hält daran fest, dass sein Konzern Lützerath im kommenden Jahr abbaggern wird, um Garzweiler II zu erweitern – und hat mit dem Bereithalte-Gesetz einen gewichtigen Grund mehr. „Der planmäßige Tagebaufortschritt ist wichtig, vor allem, wenn wir uns auf Szenarien vorbereiten, in denen Gas gespart werden soll“, sagte Krebber der Süddeutschen Zeitung.

Der „grüne“ Wirtschaftsminister ist offenbar zu der Überzeugung gelangt, dass der Sturz von Putin wichtiger ist als Maßnahmen zur Verhinderung der Klimakatastrophe. Mit ihrer Besessenheit für das Militärische sind die Grünen bei einer Klimawandelbeschleunigungspolitik gelandet.

Und das in einer Situation, in der Klimaforscher eine deutlich beschleunigte Erderwärmung feststellen und extreme Hitzewellen in Indien, Pakistan und in Südeuropa uns einen Vorgeschmack von dem geben, was da auf uns zukommt. Erschreckend ist, dass es aus dem Umfeld der Grünen und leider auch aus weiten Teilen der Klimaschutzbewegung gegen solchen Wahnsinn kaum Proteste gibt.

Mehr Tempo beim ökologisch-sozialen Umbau

Statt einer so dummen und schädlichen Embargoentscheidung (schädlich vor allem für Klima und Umwelt) wäre eine Politik nötig, die den Anteil der fossilen Energien an der Energieversorgung der Bundesrepublik so schnell wie möglich mit geeigneten Maßnahmen reduziert. Das Problem ist allerdings, dass es Habeck & Co. gar nicht darum geht. Ihr Handeln ist einzig durch kriegerische Erwägungen bestimmt. Klimaschutz ist kein Thema. Selbst da, wo es sehr leicht möglich wäre, den CO2-Ausstoß zu reduzieren, rührt die Bundesregierung dazu keinen Finger. Nach wie vor ist die Einführung eines Tempolimits in Deutschland kein Thema. Autofreie Wochenenden wie in den 1970er Jahren wären sinnvoll, wenn sie von deutlichen Rabatten auch bei ICs und ICEs begleitet werden würden. Stattdessen macht die Bundesregierung der Mineralölwirtschaft mit der Suspendierung der Mehrwertsteuer Geschenke, obwohl schon vorher klar war, dass die Konzerne das nicht an die Autofahrer weitergeben würden.

Auch ein Verbot von Kurzstreckenflügen und eine Kontingentregelung fürs Fernfliegen wären ohne weiteres schnell umsetzbar. Weitere Instrumente, die auf eine dauerhafte Rücknahme des ressourcenfressenden Autoindividualverkehrs zielen, wären forcierter Ausbau des ÖPNV und der Bahn. Die während der Corona-Pandemie eingeführten Popup-Bike-Lanes in den Großstädten haben zudem gezeigt, dass sie den Autoverkehr reduzieren können. Eine verpflichtende Verallgemeinerung dieser Maßnahmen könnte diese Effekte noch verstärken.

Wenn man einen Blick auf die Gasgroßverbraucher wirft, stechen sofort die Wärmeerzeugung der Haushalte und einige Industriebranchen ins Auge. Eine nichtfossile Wärmeerzeugung lässt sich nur langfristig durch eine Sanierung der Häuser erreichen, kombiniert mit einer massiven Einführung von Wärmepumpen bzw. von städtischen Wärmenetzen. Die verschiedenen Bundesregierungen verschleppen diese Maßnahmen seit Jahren. Schneller wirken könnte der Rückbau einiger Industriebranchen, die ihre Technologie bequem auf billiges russisches Gas ausgerichtet haben, um ökologisch schädliche und überflüssige Produkte herzustellen. Dazu gehören Teile der Chemie-, der Papier- und der Glasbranche. Der mit Abstand größte industrielle Gasverbraucher ist die Chemiebranche. Diese nutzt einen Teil des Gases als Rohstoff für Plastik und Dünger und einen anderen als Brennstoff zur Herstellung von Strom und Dampf für chemische Prozesse.

Augenfällig ist, dass der größte Teil des eingesetzten Erdgases und Rohöls stofflich und energetisch für die Herstellung von Kunststoffen genutzt wird. Und davon gehen wiederum 35 Prozent in die Produktion von Verpackungen, 22 in den Bausektor und zwölf Prozent in den Automobilbereich. Der Bereich der Verpackungen ließe sich allein durch eine gesetzlich verankerte Pfandpflicht für Behälter von Shampoos, Reinigungs- oder Waschmittel schnell und deutlich reduzieren. Dazu müsste es eine Material-, eine Etikettierungs- und Formvereinheitlichung geben. Einwegverpackungen wären grundsätzlich zu verbieten.

Die Lösung nicht so schwierig

Auf den ersten Blick erscheint die Situation sehr zerfahren, eine Lösung nur schwer vorstellbar. Nüchtern betrachtet ist die Lösung der Probleme aber gar nicht schwierig. Es gibt aktuell real keinen Gasmangel. Wenn die NATO-Staaten bereit wären, mit Russland zu einer Vereinbarung zur Einstellung der Kampfhandlungen in der Ukraine zu kommen und auf eine diplomatische Lösung zu setzen, würden natürlich auch die Sanktionen keinen Sinn machen. Es spricht vieles dafür, dass das Thema Gaslieferungen vom Tisch wäre, wenn es zu einem Waffenstillstand und echten Friedensverhandlungen käme. Alles aufgeregte Spekulieren darüber, wem im kommenden Winter bei einem akuten Gasmangel zuerst der Saft abgedreht werden soll, wäre damit hinfällig. Das aufdringliche rhetorische Trommelschlagen der Regierenden rund um die Sanktionen ist die Begleitmusik zum Geschützdonner auf dem Schlachtfeld.

Die durch die aktuellen Machtkämpfe verursachten Turbulenzen rund um die Gasvorräte machen den notwendigen Umbau des Energiesektors hin zu erneuerbaren Energien nur unnötig kompliziert. Könnten die erforderlichen Maßnahmen zur Reduzierung der fossilen Energien einigermaßen in Ruhe angegangen werden, wären die erforderlichen konkreten Schritte viel einfacher zu realisieren. Die aktuellen Machtkämpfe rund um die Gasimporte sind zudem für einen Teil der Preissteigerungen verantwortlich und führen zu unnötigen sozialen Härten für die Bevölkerungsmehrheit.

Es gibt in der Frage der Gaslieferungen keinen Widerspruch zwischen den Anliegen der Friedensbewegung, der Klimaschutzbewegung und dem Kampf um soziale Gerechtigkeit. Die aus humanitären Gründen zwingend erforderliche Einstellung der Kampfhandlungen in der Ukraine und der Kampf gegen Klimawandel und für soziale Gerechtigkeit gehören zusammen.

Wenn uns in den nächsten Wochen und Monaten selbsternannte „Energie-Experten“ erzählen wollen, dass wir alle uns einschränken sollen, sollten wir ihnen sagen: falsche Adresse! Geht zur Bundesregierung und sagt Scholz, Baerbock, Habeck und Lindner sie sollen die Sanktionen aufheben, das irrsinnige 100-Milliarden-Hochrüstungspaket in die Tonne treten und das Geld für die realen Probleme in dieser Gesellschaft verwenden: Für mehr Kindergärten und bessere Schulen, für mehr Personal und bessere Ausstattung der Krankenhäuser, für eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten und für mehr Tempo bei der Dekarbonisierung der Gesellschaft durch den Umstieg auf erneuerbare Energien und eine Mobilitätswende hin zu Fahrrädern, Straßenbahnen, Bussen und Zügen.

Es ist höchste Eisenbahn für eine breite Oppositionsbewegung gegen den von den Regierenden betriebenen Irrsinn. Das erfordert zweifellos Mut und Zivilcourage und die Bereitschaft, gegen den Strom zu schwimmen. Das erscheint zwar im Moment schwer vorstellbar. Unmöglich ist das aber nicht. Es soll ja manchmal in der Geschichte auch überraschende Wendungen geben.

Wir sollten uns da an Che Guevara halten:

„Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche!“

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