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Hat der Asylkompromiss 1992 die Nazis gestoppt?

Die Bilder aus Chemnitz dieser Tage erinnern in vielem an das Pogrom, dass Nazis 1992 im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen inszeniert hatten. Damals zündete ein Mob vor laufenden Kameras einen Plattenbau an, in dem eine ZAST, eine „Zentrale Anlaufstelle“ für Asylbewerber untergebracht war. Nur dank einer Luke unter dem Dach konnten eine Gruppe von Migranten und ihre deutschen Helfer im letzten Moment ihr Leben retten.

Das Pogrom leitete eine Welle von vergleichbaren Angriffen in vielen Städten Deutschlands im Herbst 1992 ein. Das Erschreckende war neben dem Versuch der gezielten Ermordung von Menschen vor allem, dass es sich um Angriffe vor aller Augen handelte. Allein in Rostock sahen geschätzt 3000 Menschen bei dem Pogrom zu und feuerten die Angreifer an. Der Staat blieb untätig: Die Polizei zog ab, so dass die Feuerwehr den Brand nicht löschen konnte. Als eine Woche später eine große Antifademo in Rostock demonstrierte, da warnte der damalige christdemokratische Rostocker Bürgermeister die Bürgerinnen und Bürger davor, sich den Demonstranten anzuschließen. Um die Antifaschisten zu isolieren, wurde sogar der S-Bahnverkehr zwischen der Innenstadt und Lichtenhagen eingestellt. 

Der Staat und die CDU/CSU spielte dieselbe Rolle wie heute. Nicht nur ließ man die Nazis gewähren. Vor allem wurde durch die Einrichtung der ZASTen eine Situation geschaffen, dass in vielen Orten die Asylbewerber zusammengepfercht wurden. Den Angriffen in Rostock gingen unhaltbare Zustände in der betreffenden Unterkunft voraus, die völlig überfüllt war. Manche mussten im Freien campieren und dort ihre Notdurft verrichten. So wurde der Unmut über die enttäuschten Erwartungen im Osten nach der Wende gezielt gegen Asylbewerber gelenkt. Die Nazis haben geerntet, was die Konservativen gesät haben.

Die Übergriffe waren das Resultat einer aufheizten Debatte um den angeblichen Missbrauch des Grundrechtes auf Asyl. Die Politik der ZASTen sollte, ähnlich wie heute die „Anker“-Zentren, die Behauptung glaubwürdig machen, dass die Aufnahmekapazität erschöpft sei. Oskar Lafontaine erinnerte jüngst daran und behauptete in der „Welt am Sonntag“, dass die Lösung darin bestanden habe, dem Druck nachzugeben. Das Blatt zitiert Oskar Lafontaine mit den Worten: „Damals kamen über eine Million Asylbewerber und Aussiedler zu uns. In verschiedenen Orten brannten Flüchtlingsunterkünfte und Häuser. In dieser Situation haben wir den Asyl-Kompromiss verabschiedet, nach dem Personen, die aus einem europäischen Nachbarland kommen, kein Recht auf Asyl in Deutschland haben. Die Zustimmung zu den Republikanern ging danach deutlich zurück.“

Der Kausalzusammenhang, den Lafontaine herstellt, stellt die Wirklichkeit auf den Kopf. Die nachgiebige Haltung der SPD hat den Widerstand gegen den Rassismus geschwächt und es den Nazis leichter gemacht. Lafontaine selbst spielte damals die Frage hoch, lange bevor die ersten Pogrome stattgefunden haben. Nachdem seine Umfragewerte im Juli 1990 als SPD-Kanzlerkandidat gegen Helmut Kohl absackten, plädierte er als erster Spitzenpolitiker für eine Änderung des Grundrechts auf Asyl. Das Thema dominerte in den kommenden Jahren die Debatte und führten zu einem Wiederaufstieg der „Republikaner“ (REP), die sich unter der Führung des ehemaligen SS-Offiziers Schönhuber zu einer faschistischen Partei gewandelt hatten.

Im Jahr 1989 konnte die REP bei den Abgeordnetenhauswahlen in Berlin und bei den Europawahlen jeweils über 7 % erzielen. Doch infolge der euphorischen Monate der Revolution in Ostdeutschland von 1989/90 brachen ihre Zustimmungswerte ein. Erst 1992 gelang den Republikanern mit 10,9 % wieder Einzug in den Landtag von Baden-Württemberg. Sie profitierten von der Fremdenfurcht, die die CDU/CSU forciert hatte, und der die SPD nichts entgegensetzt hatte.

Mit der Einwilligung der SPD in den „Asylkompromiss“, das heißt die faktische Abschaffung des Grundrechtes auf Asyl und seine Ersetzung durch ein einfaches Gesetz im Herbst 1992, gingen die Umfragewerte der Republikaner nicht zurück. Im Gegenteil. Die REP sahen ihre Chance gekommen. Schönhubers Wort machte die Runde, die Union sei die Kopie, „das Original sind wir“. 1993 erreichte die Mitgliederzahl der REP mit 23.000 ihren Höchststand. Das war das Ergebnis des im Herbst 1992 beschlossenen „Asylkompromisses“. Im Sommer des Jahres 1993 rechneten fast alle Menschen in Deutschland damit, dass die REP im folgenden Superwahljahr in zahlreiche Landtage und den Bundestag einziehen würden.

Dass es anders kam, lag ausschließlich am Widerstand auf der Straße. Ausgelöst wurde die Gegenbewegung durch die Empörung, nachdem Nazis im Jahr 1993 erst in Mölln und dann in Solingen bei Brandanschlägen auf Familienhäuser zahlreiche türkischstämmige Migranten ermordeten, darunter viele Kinder. Nicht die SPD war es, die die Menschen mobilisierte. Es waren individuelle, engagierte Bürger, die in München den sogenannten Lichterketten ins Leben riefen. Daraus wurde eine Bewegung, die Millionen auf die Straße brachte: für Solidarität, gegen Rassismus. Wichtige Kämpfe gegen Nazi-Aufmärsche kamen hinzu. Das änderte sich das gesellschaftliche Klima. Die REP wurden zunehmend mit den Nazis identifiziert und verloren infolge des Widerstands im Laufe des Jahres 1994 erstaunlich rasch an Zustimmung. Ihre Veranstaltungen wurden gestört und stießen überall auf Gegenwehr. In Berlin wurden sie aus zwei Volksfesten mit Hunderttausenden Teilnehmern durch Blockadeaktionen von Aktivisten und Festteilnehmern aus dem Fest verdrängt.  Ihr Scheitern bei den Bundestagswahlen im Herbst 1994 gab ihnen den Rest.

Lafontaines historischer Irrtum basiert auf der falschen Annahme, Rassismus werde durch Zuwanderung ausgelöst. Er will deshalb die Zuwanderung begrenzen. Doch es gibt überhaupt keinen automatischen Zusammenhang zwischen Zuwanderung und Fremdenfeindlichkeit. Wenn dem so wäre, müsste der Rassismus gegen Muslime in einer Stadt wie Chemnitz weit weniger ausgeprägt sein als zum Beispiel in Frankfurt oder Hamburg. Meinungsumfragen und Erfahrungswerte sprechen aber eine andere Sprache.

Rassismus ist das Produkt einer systematischen Kampagne durch die Herrschenden, um die Ausgebeuteten und Unterdrückten gegeneinander auszuspielen. Seit über zweieinhalb Jahren wird durch Aussagen von Politikern, insbesondere aus er CDU/CSU, und durch Talkshows in den Medien der Eindruck vermittelt, Immigration sei eine Last, Muslime seine eine Gefahr. Die AfD erntet die Früchte der gesäten Stimmung und befeuert diese weiter. DIE LINKE hat die Aufgabe, sich dem entgegenzustellen und nicht vor den Argumenten der AfD zu kapitulieren. Die AfD ist keine „Arbeiterpartei“, wie Oskar Lafontaine meint, sondern eine von Besserverdienenden geführte demagogische Partei, die dabei ist, zu einer faschistischen Bedrohung zu mutieren. Der einzige Weg gegen den Rassismus besteht darin, ihm auf der Straße, in den Betrieben und im Parlament entgegenzutreten. Nur die größtmögliche und entschlossene Einheit aller Kräfte links von der Mitte kann das Klima in der Gesellschaft nach links verschieben.

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