Viele erhoffen sich von der neuen Bundesregierung einen neuen Kurs in der Migrationspolitik. Manche träumen sogar von einem Ende der Festung Europa. Doch was steht eigentlich im Detail im Koalitionsvertrag? Eine Analyse.
Nun hat sich die neue Regierung formiert. Am Montag wurden die letzten Minister*innen bekannt gegeben und auch die letzte Partei hat dem Koalitionsvertrag zugestimmt. Gerade über die klimapolitischen Ziele und den scheinbaren Sieg der FDP wurde viel berichtet. Ein Thema, das gerade bei Grünen-Wähler*innen und auch durch einige Politiker*innen der Partei immer wieder hervorgebracht wird, ist leider in den letzten Wochen zu kurz gekommen.
Ziemlich weit hinten – auf Seite 137 – bekommt die Thematik „Integration, Migration, Flucht“ fünf Seiten. Im Verhandlungsteam war unter anderem Erik Marquardt, der vom Spiegel einmal als „Parlamentsaktivist“ bezeichnet wurde und die Initiative #LeaveNoOneBehind gegründet hat. Und auch im Koalitionsvertrag findet dies Anklang: Ein „Paradigmenwechsel“ soll eingeleitet werden und so ein „Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik“ gestaltet werden, „der einem modernen Einwanderungsland gerecht wird“. Das sind hehre Ziele und dieses Bekenntnis zum Einwanderungsland ist wichtig, doch dürfen wir uns von guten Ansätzen und wirkmächtiger Sprache nicht über die Widersprüche hinwegtäuschen lassen.
Manche Stellen des Kapitels im Koalitionsvertrag erinnern an Forderungen der zivilen Seenotrettung oder der Seebrücke. Unter anderem heißt es: „Es ist eine zivilisatorische und rechtliche Verpflichtung, Menschen nicht ertrinken zu lassen. Die zivile Seenotrettung darf nicht behindert werden“, oder auch „Wir wollen die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden“. Da kann man kann man sich schon mal an Forderungen der No-Border-Bewegung erinnert fühlen. Auch die Eingangspassage ist ein klares Bekenntnis zu dem Recht auf Asyl in Grundgesetz sowie der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention – eigentlich das, was seit Jahren gefordert wird.
Auch soll das Konzept der AnkER-Zentren nicht weiterverfolgt werden. Pro Asyl schreibt dazu „AnkER-Zentren und funktionsgleiche Einrichtungen führen zu Isolation, Entrechtung und Ausgrenzung der dort lebenden Frauen, Männer und Kinder. Sie sind Orte der Kontrolle, der Stigmatisierung und der Gewalt.“ Der Forderung nach Schließung dieser Zentren, die von über 60 zivilgesellschaftlichen Organisationen verlangt wurden, kommen die Regierungsparteien nach. Doch neben diesen Formulierungen findet sich sehr viel Kontinuität der bisherigen Politik unter Innenminister Horst Seehofer.
Kontinuität statt Paradigmenwechsel!
So soll beispielsweise eine Rückführungsoffensive gestartet werden, was daran neu sein soll wird allerdings nicht erklärt. Auch schon die alte Bundesregierung, namentlich Horst Seehofer, hat solche Programme durchgeführt. Auch die Praxis der Abkommen mit Drittstaaten, wie der sogenannte EU-Türkei-Deal, soll verstetigt werden. Hierfür soll es nun sogar einen Sonderbevollmächtigten geben. Zwar soll dies an menschenrechtlichen Standards gemessen werden, aber auch dies kennen wir schon aus den letzten Jahren nur zu gut. Wie genau sich „rechtsstaatliche Migrationsabkommen mit Drittstaaten im Rahmen des Europa- und Völkerrechts“ von bisherigen Abkommen unterscheiden soll, erklären die Koalitionär*innen nicht.
Gemeinplätze, aber nichts dahinter?
Vor allem Formulierungen wie „Wir streben eine faire Verantwortungsteilung zwischen den Anrainerstaaten des Mittelmeers bei der Seenotrettung an und wollen sicherstellen, dass Menschen nach der Rettung an sichere Orte gebracht werden“ hören sich sehr gut an, aber blenden die Realität leider aus. Unter anderem die libysche „Küstenwache“, die dies betrifft, ist nicht gerade bekannt, die Flüchtenden an sichere Orte zu bringen, sondern zurück Libyen. Wie die Zustände für Flüchtende dort aussehen, ist allgemein bekannt.
Auch die Passage über Frontex lässt einige Fragen offen. So soll sich die EU-Agentur bei der Seenotrettung „aktiv beteiligen“ und gleichzeitig „wirksam“ den „Außengrenzschutz“ betreiben. Wie wirksamer Außengrenzschutz funktioniert, haben wir nicht zuletzt an der polnisch-belarussischen Grenze gesehen. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass der Schutz der Grenzen kein menschliches und rechtsstaatliches Antlitz haben kann. Entweder man bekennt sich zu menschenrechtlichen Normen und kommt seiner Verantwortung für Menschen auf der Flucht nach oder man schützt seine Grenzen.
Auch an der sogenannten europäischen Lösung wird weiterhin festgehalten. Für Seehofer war dies die Ausrede fürs nichts tun. So heißt es: „Wir setzen uns für eine grundlegende Reform des europäischen Asylsystems ein“. Das Dublin-System – was das bisherige europäische Asylsystem ist und das unter anderem besagt, dass ein*e Asylbewerber*in in dem Land Asyl beantragen muss, in dem er*sie zuerst den Boden der Europäischen Union betritt – ist nicht nur reformbedürftig, sondern komplett impraktikabel. Es braucht allerdings die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten, um auf eine andere Einigung zu kommen. Bei der aktuellen Entwicklung in unzähligen Ländern der EU ist es allerdings höchst unwahrscheinlich, dass dies bald geschehen wird. Zudem gibt es keinerlei Passagen, die auf die Lagersysteme an den EU-Außengrenzen hinweisen oder Handlungsrichtlinien geben.
Kleine Lichtblicke
Kleine Lichtblicke gibt es für Menschen, die bereits in Deutschland sind. So sollen Jugendliche leichter die Möglichkeit für ein Bleiberecht bekommen, und auch die Praxis der Kettenduldungen soll durch ein Chancen-Aufenthaltsrecht ersetzt werden. Wie genau diese Chance aussehen soll, bleibt allerdings ebenfalls unklar. Auch das Bekenntnis zu Resettlement- Programmen des UN-Flüchtlingshilfswerk ist ein wichtiger Schritt, damit Menschen nicht die gefährliche Flucht auf sich nehmen müssen, sondern vor Ort die Chance auf Asyl und Umsiedlung nach Deutschland bekommen. Auch die Passage „Wir werden humanitäre Visa für gefährdete Personen ermöglichen und dazu digitale Vergabeverfahren einführen“ spricht für einen solchen Ansatz.
Die Widersprüche überwiegen
Letztlich muss konstatiert werden, dass der Titel „Mehr Fortschritt wagen“ des Koalitionsvertrags, wie bei anderen Themen, mehr verspricht, als er hält. Zwar gibt es einige Verbesserungen gegenüber der vorherigen Politik, doch auch bei diesen Punkten wird wichtig, die Bundesregierung an ihre Versprechungen immer wieder zu erinnern. Gerade die Grünen, die sich im Wahlkampf klar für Menschen auf der Flucht positioniert haben, muss sich an ihren eigenen Maßstäben messen lassen – und da ist es verständlich, dass viele Menschen enttäuscht sind.
Interessant wäre zusätzlich der Abgleich mit anderen Politikfeldern, wie der deutschen Wirtschaftspolitik, die globale Ungleichheit reproduziert. Auch die Passagen zu Waffenlieferungen sind hierfür interessant. Mindestens so lange mit deutschen Waffen in der ganzen Welt gemordet wird, muss man sich seiner Verantwortung für Menschen, die vor Kriegen fliehen, bewusst sein und nachkommen. Hinzukommt die sich verschärfende Klimakrise, die gerade im sogenannten globalen Süden schnell zu Kipppunkten führen kann und das Leben in einigen Regionen unmöglich machen könnte. Fluchtbewegungen sind hier vorprogrammiert.
Die Passagen zu den EU-Außengrenzen sind höchst widersprüchlich. Gerade dort, wo die Lage am schlimmsten ist, wird die Politik der Abschottung in nette Worte gekleidet und mehr oder weniger fortgeführt. Worin genau der Paradigmenwechsel liegen soll, bleibt unklar. Außerdem soll es weiterhin Abkommen mit Drittstaaten geben, die das Konstrukt der vermeintlich sicheren Herkunftsländer aufrechterhalten. Und es gibt kein Hinweis darauf, dass Kommunen und Bundesländer, die sich zum sicheren Hafen erklärt haben, mehr Menschen aufnehmen dürfen. De facto bleibt die Blockade des Bundes also bestehen und der Kampf um das „Recht, Rechte zu haben“[1] wird auch unter der neuen Bundesregierung weitergehen müssen, bis ein Bleibe- und Teilhaberecht für alle erkämpft ist.
[1] Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 614.