Im Süden des Jemen gingen in den letzten Monaten über Wochen hinweg Tausende Lehrer*innen auf die Straßen, um für die Auszahlung ihrer Löhne zu protestieren. Seit 2016 werden die Gehälter eines Großteils der Hunderttausenden öffentlich Beschäftigten drastisch gekürzt oder in Gänze einbehalten, wovon indirekt Millionen Menschen betroffen sind. Im seit siebeneinhalb Jahren wütenden Krieg kann dies buchstäblich das Todesurteil bedeuten, da durch die ausbleibenden Löhne die historische Hungersnot im Land – unter der über 17 Millionen Jemenit*innen, weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung, leiden – weiter verschärft wird. Auch wenn die jüngsten Proteste der Lehrer*innen zunächst abgeebbt sind, wird der Kampf um ihre Würde auch im nächsten Jahr weitergehen.
Seit Beginn des Jemenkriegs wurden neben Infrastrukturen wie die Wasserversorgung oder das Krankenhaussystem von der Saudi-Emirate-Koalition auch Bildungseinrichtungen systematisch unter Beschuss genommen. Der Kriegsmonitor Yemen Data Project zählte seit Kriegsbeginn im März 2015 Luftangriffe auf insgesamt 247 Schulen, mit 148 weiteren zerstörten oder beschädigten Bildungseinrichtungen wie Universitäten oder Instituten. Nach Angaben von UNICEF bereits vom März 2018 musste kriegsbedingt mehr als jede vierte Schule im Land schließen und gegenwärtig erhalten mehr als zwei Millionen Kinder überhaupt keine staatliche Bildung. Die noch intakten Schulen sind teils hoffnungslos überfüllt; die Kinderrechts-NGO Save the Children zählte in einigen Gebieten bis zu 80 Schulkinder pro Klassenraum.
Neben dieser für die Kinder – denen systematisch ihr völkerrechtlich verbrieftes Menschenrecht auf Bildung vorenthalten wird – untragbaren Situation und der permanenten Gefahr von Bombenangriffen auf Schulen plagen insbesondere Lehrkräfte auch die sozioökonomischen Auswirkungen des Krieges: Teils seit Jahren erhalten Lehrer*innen stark reduzierte oder überhaupt keine Gehälter mehr. «Wie soll ich als Lehrerin in den Unterricht gehen und Schüler unterrichten, während ich gleichzeitig darüber nachgrüble, wie ich meine eigenen Kinder ernähren kann? Viele von uns haben nicht einmal das Geld für die Fahrt zur Schule», so die Lehrerin Hana gegenüber Save the Children. «Die anhaltenden Unterbrechungen in der Bezahlung [der Lehrkräfte] würden sich entscheidend auf den Bildungsprozess auswirken und seinen Zusammenbruch beschleunigen», prognostiziert Chiara Moroni, Bildungsreferentin der Kinderrechts-NGO, «dadurch werden nicht nur Millionen von Kindern heute, sondern auch die Zukunft des gesamten Landes Schaden nehmen».
Vor Kriegsbeginn waren die Gehälter zwar nicht üppig, doch konnten Lehrkräfte sich und ihre Familien ernähren. 2016 begann dann der Einbehalt beziehungsweise die drastischen Kürzungen der Gehälter. «Das ist so wenig, das reicht nicht für Essen, gerade einmal für den Bus in die Schule und für Wasser», erklärt Eyad Alsrori, ein Lehrer aus der südjemenitischen Hafenstadt Aden, gegenüber dem Autor. Nach eigener Aussage erhält Eyad ein Monatsgehalt von umgerechnet drei US-Dollar. «In Aden verhungern die Lehrer», so sein vernichtendes Urteil. Als Begründung für diesen unhaltbaren Zustand, von dem auch ein Großteil der anderen öffentlich Angestellten betroffen ist, wurde sowohl von den Rebellen der Ansar Allah (hierzulande bekannt als «Houthis»), die den Norden des Landes kontrollieren, als auch vom Kabinett des seit 2015 konstitutionell illegitimen, mit dem Westen verbündeten «Präsidenten» Hadi im Süden die katastrophale ökonomische Lage angeführt. In bald acht Jahren Krieg wurde die wirtschaftliche Infrastruktur des Landes durch saudische Bomben pulverisiert, Preise explodierten, Menschen brauchten ihre Ersparnisse auf, um zu überleben. Die Fortführung des Krieges fresse die ohnehin knappen Staatsausgaben auf, heißt es immer wieder vonseiten der Regierung. Im März 2019 richtete das Kinderhilfswerk UNICEF ein temporäres Programm ein, über das 97.000 Lehrer*innen, rund ein Viertel der Lehrkräfte im Land, ein monatliches Gehalt von 50 US-Dollar ausgezahlt wurde. Mehr als die Hälfte aller Lehrkräfte sah sich hingegen gezwungen, neben ihrer Lehrtätigkeit einen Zweitjob aufzunehmen, zumeist als Tagelöhner, schreibt Save the Children im November 2021.
Wiederholt kam es im Jemen bereits zu Streiks und Protesten der Lehrkräfte. 2017 streikten landesweit Hunderttausende Lehrer*innen, um für ihre Rechte zu kämpfen, nachdem rund Dreiviertel von ihnen über ein Jahr überhaupt keinen Lohn erhalten hatten. Zuletzt organisierten im letzten Sommer und Herbst Lehrkräfte in allen großen Städten im Südjemen breit aufgestellte Proteste. Dem voraus gingen zähe Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und den Verantwortlichen im Bildungsministerium und den Schulämtern. Wieder wurden die Lehrkräfte mit halbgaren Versprechungen abgespeist: «Sie lügen immer», kritisiert Eyad, der Lehrer aus Aden, diese Verhandlungen. Daraufhin riefen Lehrer*innen und Gewerkschaften zu Massenprotesten auf. In Aden wurde vor mehreren zentralen Regierungseinrichtungen protestiert. Vor dem Mashiq Präsidentenpalast wurden die Proteste von Polizei, Militär und Hadi-Anhängern gewaltsam niedergeschlagen, berichtet Eyad. Schüsse fielen. Viele wurden verletzt und inhaftiert.
International wurde im Grunde überhaupt nicht über diese Arbeitskämpfe berichtet. Öffentliche Solidarität linker oder gewerkschaftlicher Gruppen in Europa gab es nicht. Lediglich auf jemenitischen Twitter-Accounts wurde informiert und sich organisiert. Videos machten die Runde, auf denen Frauen und Männer kämpferische Reden hielten. Nach mehreren Wochen ebbten die Proteste wieder ab, auch weil führende Personen der Gewerkschaften und Lehrer*innenschaft von Behörden persönlich bedroht wurden. Doch die Streiks und Proteste werden im nächsten Jahr weitergehen, versichert Lehrer Eyad. Neben dem Einfordern ihrer Rechte und der Auszahlung der ihnen zustehenden Löhne kämpfen die Lehrer*innen um ihre bare Menschenwürde: «Wir wollen nichts als ein freies Leben, für uns und unsere Kinder.»
Dieser Text von Freiheitsliebe-Autor Jakob erschien zuerst hier im Westasien-Dossier der Rosa Luxemburg Stiftung. Wir bedanken uns vielmals für das Recht zur Übernahme.