© Teodoro Manuel

Marsch des Schweigens: Uruguays Ruf nach Gerechtigkeit

Jedes Jahr am 20. Mai versammeln sich Tausende in Montevideo, um Aufklärung und Gerechtigkeit für alle ermordeten, gefolterten und entführten Menschen während der brutalen uruguayischen Militärdiktatur zu fordern, welche 1973 begann und zwölf Jahre andauerte.

Im Mai blühen in Uruguay die Gänseblümchen, manche aus Papier und Stöcken, andere aus Tinte und Stoff, die überall in der Hauptstadt Montevideo an Fenstern und Balkonen hängen. Sie sind mit Schablonen auf Wände gedruckt und schmücken die Mäntel von Fußgängern, die durch das Stadtzentrum gehen sowie das Umfeld der Universidad de la República, welche nur wenige Meter vom Beginn der heutigen Demonstration entfernt ist.

Der Marsch des Schweigens findet jedes Jahr am 20. Mai statt und jährt sich in diesem Jahr zum neunundzwanzigsten Mal, um an die Entführung und Ermordung von Hector Gutierrez und Zelmar Michelini im Jahr 1976 in Buenos Aires, Argentinien, zu erinnern. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass sie verschiedenen politischen Parteien angehörten. Gutierrez war einer der Gründer der Frente Amplio, einer linken Bewegung, wohingegen Michelini der Nationalen Partei angehörte, einer Partei der politisch rechten Mitte. Diese Unterscheidung zeigt, wie der Staatsterrorismus in Uruguay sowie dem gesamten Kontinent funktionierte. In weiten Teilen war dies das Ergebnis der Operation Condor, einer politischen Operation in den 70er und 80er Jahren, die darauf abzielte, demokratisch gewählte Regierungen zu stürzen und durch Militärdiktaturen zu ersetzen sowie anderer repressiver Geheimdienstoperationen, wie der systematischen Ermordung politischer Gegner, unterstützt durch die Regierung der Vereinigten Staaten.

Als die Demonstration vor neunundzwanzig Jahren ihren Anfang nahm, organisiert von den Müttern der Verhafteten, gab es nur sehr wenige Teilnehmer, hauptsächlich Freunde und Familienangehörige der Festgenommenen und Verschwundenen. Heute findet diese Demonstration in allen Regionen Uruguays und auch im Ausland, in Ländern ganz Lateinamerikas und Europas, statt. Erinnerung und Hoffnung sind die Hauptmotive der Menschen, die an dieser Demonstration teilnehmen, vor allem für die Mütter und Verwandten, welche noch immer nach ihren Angehörigen suchen. Deshalb lautete das diesjährige Motto „Sie wissen, wo sie sind“. In Uruguay gibt es noch viel zu tun, sowohl für Menschenrechte als auch um Gerechtigkeit für die Opfer der Diktatur zu finden.

Das Jahr 1986 markiert einen Wendepunkt für die Menschenrechte in Uruguay. In diesem Jahr wurde das sogenannte „Verjährungsgesetz“ verabschiedet. Dieses Gesetz besagt, dass Verbrechen, welche während und durch die Diktatur begangen wurden, nicht strafrechtlich verfolgt werden, es sei denn, ein Richter erhält eine Beschwerde und entscheidet, dass sie einer Untersuchung wert ist. Wird die Begründung anerkannt, wird die Anzeige an die Exekutive weitergeleitet, welche erneut über deren Verfolgung oder Abweisung entscheidet. Nicht nur der Oberste Gerichtshof Uruguays hat entschieden, dass dieses Gesetz verfassungswidrig ist, sondern auch die Interamerikanische Menschenrechtskommission hat festgestellt, dass dieses Gesetz mit den Menschenrechten und dem Völkerrecht unvereinbar ist. Das Gesetz wurde 2011 durch das „Auslegungsgesetz“ aufgehoben, welches die Straffreiheit abmildert, die das letzte Gesetz geschaffen hatte. Dennoch fordert die Bevölkerung im ganzen Land mehr Maßnahmen vom Staat, um endlich Gerechtigkeit, Versöhnung und den Verbleib der verschwundenen Opfer der Diktatur zu finden.

„Sie wissen, wo sie sind! Wir verlangen Antworten. Nie wieder Staatsterrorismus.“ © Teodoro Manuel

Dies ist immer noch an jedem 20. Mai in jeder Ecke Uruguays spürbar, vor allem auf dem Platz der Märtyrer der Studenten, benannt zu Ehren der während der Diktatur getöteten Studenten, wo die Demonstration beginnt. Der Marsch wird von Bannern angeführt, auf denen der Verbleib der vermissten Gefangenen sowie eine Garantie der Nichtwiederholung des Staatsterrorismus gefordert wird. Dahinter halten die Demonstranten Plakate mit den Namen und Gesichtern der Verschwundenen in die Höhe. All dies geschieht in in kompletter und absoluter Stille, was überwältigend ist. Die Straßen sind voll, ebenso die Bürgersteige und es gibt keinen Platz mehr für weitere Menschen, aber alle sind still, selbst die Schritte sind unhörbar. Die Stille wird erst auf halber Strecke unterbrochen, vor dem Rathaus, wo Lautsprecher aufgestellt werden aus denen die Namen der Opfer laut zu hören sind, gefolgt vom gemeinsamen Ruf aller Demonstranten: „PRESENTE!“ („ANWESEND!“)

Nicht nur in Uruguay, auch in Chile, Argentinien und allen Ländern Lateinamerikas suchen Menschen noch immer nach den vermissten Opfern der, durch die USA finanziell unterstützt und beförderten, Diktaturen und des Staatsterrorismus. Wie Monica Cardoso und Carlos Liscano brillant in ihrem Buch „La Impunidad y su Relato“ („Straflosigkeit und ihre Geschichte“) zeigen, war der lateinamerikanische Kontinent der Grausamkeit seiner Unterdrücker unterworfen, innerhalb und außerhalb ihres Landes. Als der uruguayische Präsident Juan María Bordaberry das Militär in den Staatsapparat aufnahm waren die Tupamaros bereits stark dezimiert, ihre Mitglieder im Gefängnis, im Exil, tot oder ,verschwunden‘. Er erklärte, dass der Grund für die Beteiligung des Militärs an der Regierung zum Teil darin bestand, die Tupamaros zu bekämpfen, es endete jedoch mit dem Abschlachten von Menschen aller politischen Richtungen und Lebensweisen. Jedes lateinamerikanische Land durchlief seinen eigenen Prozess, und ihre autoritären Regime waren das Produkt ihrer jeweiligen Eigenheiten. Der Kampf der Menschen für ein demokratischeres und unabhängigeres Land wurde von diesen Regimen auf grausamste Weise beantwortet, ohne Rücksicht auf das Leben und das allgemeine Wohlergehen ihrer Bürger und Länder.

Die diesjährige Demonstration dient, wie jedes Jahr, nicht nur dazu, das Andenken an die Verstorbenen zu bewahren, sondern auch dazu, die Henker und Komplizen daran zu erinnern, dass die Menschen immer noch nach ihren Angehörigen suchen und Gerechtigkeit fordern und auch nicht damit aufhören werden, egal wie viel Zeit vergehen wird. Durch die massive jährliche Unterstützung der Demonstration ist es unmissverständlich, dass die uruguayische Gesellschaft den Schutz der Menschenrechte und die Nichtwiederholung des Staatsterrorismus fordert. Gänseblümchen sind im Mai überall im Land zu sehen, doch sie blühen in den Herzen und Seelen derer, welche Gerechtigkeit wollen und brauchen.

Dieser Beitrag des chilenischen Rechtsanwalt Teodoro Manuel, Montevideo, ist eine Übersetzung aus dem Englischen von Michael Täuber.

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