Momentan gibt es wenige, die an eine Welt glauben, in der es keine Konkurrenz, keinen Krieg, keine Armut und auch keine Diskriminierung gibt. Wir müssen auch im hier und jetzt schon für all diese Ziele kämpfen, auch wenn jedes einzelne der Ziele erst dauerhaft realistisch wird in einer nicht kapitalistischen Welt. Nadine Lenz zeigt auf, welche Auswirkung eine Welt ohne Konkurrenz auf menschliche Beziehungen und Rollenbilder hätte.
Zur Zeit erleben wir eine umfangreiche Darstellung von Sexualität in der Öffentlichkeit. In Werbung, Medien und Zeitschriften wie FHM erscheinen Frauen als Sexobjekte ohne Willen und Verstand, die sich einzig und allein auf ihr Aussehen konzentrieren. Männern wird der Anspruch vermittelt, ein muskelprotzender Held sein zu müssen, der immer und überall Sex will und nur dort zeigen kann, dass er ein wirklicher Mann ist – „Männer sind so!“.
Der Widerspruch zwischen dem in der Öffentlichkeit gezeichneten Bild von Sexualität und dem eigenen Erleben könnte nicht größer sein. Forschungen des klinischen Psychologen Zilbergeld (1994) zeigen, dass 70 % der Menschen in ihrem Leben Störungen in der Sexualität erleben. Das Ausleben eigener lustvoller, sexueller Vorstellungen unterliegt weiterhin moralischen Tabus. Nach wie vor gilt die heterosexuelle Zweierbeziehung als „normales“ Lebenskonzept. Zwar wird Homosexualität mittlerweile als existenzberechtigt betrachtet, jedoch keineswegs als gleichberechtigt. Wer nicht in das System von Normen und Reglementierungen passt, hat das Gefühl versagt zu haben – mit katastrophalen Auswirkungen. So betrug die Rate der Selbstmordversuche bei homo- oder bisexuellen männlichen Teenagern in den USA 1998 28,1% im Vergleich zu 4,2% bei heterosexuellen Jungen derselben Altersgruppe (Naomi Klein, No Logo, S. 130). Leistungsprinzipien, Konkurrenz und Versagensängste bestimmen unsere Beziehungen. Bist du schön, klug, reich und beliebt genug? Der eigene Marktwert wird beispielsweise in Diskotheken ermittelt, die nach dem Prinzip von Fleischmärkten funktionieren.
Die Basis dafür, wie unsere Beziehung zueinander aussehen, liegt in der ökonomischen Grundlage der Gesellschaft. Wir leben in einer Welt des Kaufens und Verkaufens. Wir alle sind gezwungen uns bzw. unsere Fähigkeit zu arbeiten zu verkaufen, um überleben zu können. Die eigene Arbeitskraft wird für uns zum Besitz, den es zu verkaufen gilt. Menschen erleben sich selbst und gegenseitig als Ware, als Besitz und Eigentum. Wir erfahren jeden anderen über den Markt, als Konsumenten, Objekt oder möglichen Konkurrenten. Das führt zu einer extremen Individualisierung und Vereinzelung.
Gerade deshalb werden unsere Beziehungen und damit Liebe, Sexualität und Familie besonders wichtig. Menschen flüchten sich in Partnerschaften, weil sie sich hier ein Ende von Leistungsdruck und Konkurrenz erhoffen und sich vom Partner all die Zuwendung wünschen, die ihnen sonst verwehrt bleibt. Doch genau damit geraten beide Partner erneut unter Druck. Eifersucht entspringt der Angst, den geliebten Menschen zu verlieren. Durch das Bedürfnis nach garantierter Sicherheit schleichen sich also genau das Besitzdenken und die Konkurrenz-Mechanismen, denen man entfliehen wollte, wieder ein. Gewalt, sexueller Missbrauch usw. zeigen, dass die Familie keineswegs ein „sicherer Hafen“ ist, sondern die Unterdrückung und Ausbeutung der kapitalistischen Gesellschaft widerspiegelt.
Nur eine Gesellschaft, in der keine Konkurrenz, Ungleichheit und Entfremdung existiert, ermöglicht authentische Beziehungen und echte sexuelle Befreiung. Dafür ist eine sozialistische Gesellschaft notwendig, die nicht nach den Profitinteressen einer kleine Minderheit, sondern den Bedürfnisse aller Menschen funktioniert. Entscheidungen über den Produktionsprozess und die Art des Zusammenlebens würden von allen getroffen werden. Dies würde uns die Sicherheit, Stabilität und Selbstverwirklichung garantieren, die wir so verzweifelt in unseren Beziehungen suchen. Der „Besitz“ des Partners und Eifersucht wären damit überflüssig, weil wir uns nicht mehr über unsere Beziehungen definieren und uns nicht mehr gegenseitig als Waren betrachten würden.
Immer dann, wenn Widerstand die gesellschaftlichen Verhältnisse erschüttert, werden auch die herrschenden Vorstellungen von Moral und Sexualität hinterfragt und neue Ideale hervorgebracht. So entstanden beispielsweise in den Jahren nach der deutschen Revolution 1918 vierhundert Sexualberatungsstellen als Folge einer veränderten Sexualmoral. Die Proteste von 1968 brachten eine intensive Auseinandersetzung mit Sexualität und neue Ideale hervor. In der Streikwelle der indonesischen Revolution von 1998 waren Frauen häufig die Speerspitze der Bewegung. Ihr kollektiver Kampf gegen die bestehenden Verhältnisse gab ihnen das Selbstbewusstsein, auch gegen ihre sexistische Unterdrückung zu kämpfen. Außerdem bricht im Kampf gegen das Bestehende das alte Konkurrenzdenken auf und Solidarität wird zur wichtigsten Waffe. Deshalb sind die antikapitalistischen Proteste, die wir heute weltweit erleben, eine neue Hoffnung nicht nur im Kampf für eine gerechtere Gesellschaft. Ihr Slogan „Unsere Welt ist keine Ware!“ richtet sich gegen die Unterwerfung all unserer Lebensbereiche unter Marktmechanismen. Deshalb bedeutet die Durchsetzung dieses Slogans in letzter Konsequenz auch den Kampf für selbstbestimmte Beziehungen.
Erschienen im Linksruck von Nadine Lenz