Foto: Pixabay.de

Afghanistan: Frauen die Hauptopfer der erneuten Talibanisierung

Das Taliban-Regime erließ seit seiner Machtübernahme im August 2021 insgesamt zwanzig Verordnungen, um das gesamte Leben der Frauen am Hindukusch nach islamistischen Vorstellungen zu reglementieren. Es steigerte die Entrechtung und Unterdrückung der afghanischen Frauen, indem es sie Stück für Stück aus dem öffentlichen Leben verbannte.

So ist das Land kaum noch von den Zuständen der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 zu unterscheiden. Während es damals „immerhin fünf Jahre“ dauerte, bis die Taliban ähnlich drastische Verordnungen erließen, haben sich jetzt „die Dinge sehr schnell in eine sehr besorgniserregende Richtung entwickelt.“ Es wurde ein regelrechter Kulturkampf gegen die Frauen entfacht, dessen Ende noch nicht absehbar ist. Auf diese Weise wollten die Hardliner innerhalb der Organisation endlich die Machtfrage klären, auf Kosten der afghanischen Frauen.

Schulen

Am 11. September 2021 waren die Grundschulen auch für Mädchen zunächst wieder geöffnet worden. Außerdem wurde angekündigt, dass nach den Winterferien, am 22. März 2022, die Mittel- und Oberschulen für insgesamt 10 Millionen Mädchen und Jungen öffnen würden. Unsicher blieb bis zuletzt, ob auch die Mädchen zugelassen werden würden. Tausende Schülerinnen waren dann an ihrem ersten Schultag seit August 2021 wieder nach Hause geschickt worden. In allen afghanischen TV-Kanälen, der BBC-Farsi-Sendung sowie auf Facebook waren weinende Mädchen zu sehen, die nicht zum Unterricht zugelassen wurden. Am 23. März 2022 wurde eine dreitägige außerordentliche Kabinettssitzung in der Provinz Qandahar abgehalten, wo sich der geistliche Führer der Taliban, Mawlawi Heibatullah
Achundsadah, aufhält. Schon nach 90 Minuten war beschlossen worden, die Mittel und Oberschulen für Mädchen vorläufig nicht wieder zu öffnen. „Ein Dach und zwei Wetter“ besagt ein afghanisches Sprichwort.

Während sehr viele führende Taliban den afghanischen Schülerinnen und Studentinnen eine Ausbildung am liebsten verbieten würden, studieren ihre eigenen Töchter an namhaften ausländischen Universitäten; so z. B. die Töchter von 22 hochrangigen Taliban-Funktionären an den Universitäten von Peshāwar, Karachi und Doha. Außerdem studieren die Töchter von Mitgliedern ihrer Militärorganisation an der Universität von Peshāwar.

Verhüllungspflicht

Entgegen dem ursprünglichen Versprechen nach ihrer Machtübernahme im August 2021 verpflichtete das Taliban-Regime Anfang Mai 2022 die afghanischen Frauen zur kompletten Verhüllung ihres Körpers. Damit schränkte es die Rechte von Frauen weiter drastisch ein: Künftig sollten Afghaninnen auf Befehl des Ministeriums für die Ordnung der Tugend und die Verhinderung des Lasters (MOTVL) in der Öffentlichkeit wieder eine Burqa tragen, „da dies traditionell und respektvoll“ sei, verkündete das Ministerium in einem Erlass am 7. Mai.2022 Es war eine der bis dahin striktesten Einschränkungen im Leben afghanischer Frauen seit der erneuten Machtübernahme der Islamisten.

Nachdem im Oktober 2022 ein Arbeitsverbot gegen Frauen verhängt worden war, protestierten zahlreiche Frauen im Stadtpark Schare Nau im Nordwesten von Kabul. Sie hoben ihre Bildungszertifikate hoch und forderten für sich das Recht, einer Arbeit nachgehen zu dürfen. Nach einer Verordnung des MOTVL vom 10. November 2022 wurden sogar die Badeanstalten für Frauen geschlossen und ihnen auch noch der Zutritt zu den Frauenparks untersagt. Die Sportstudios für Frauen mussten ebenfalls schließen.

Öffentliche Bestrafung

Auch die öffentliche Gewalt gegen sowie die Bestrafung von Frauen durch die Taliban wurde intensiviert. In der Provinz Helmand haben sie zwanzig und in der Provinz Sabul zwölf Personen, darunter sieben Frauen, öffentlich ausgepeitscht. Eine Frau, die ihren Ehemann verlassen haben sollte, aus welchen
Gründen auch immer, und, wie er behauptet hatte, eine außereheliche Beziehung gepflegt hätte, wurde zusätzlich noch zu drei Jahren Haft verurteilt.

Obwohl ab dem 6. Oktober 2022 in 33 Provinzen des Landes Aufnahmeprüfungen für eine Zulassung zum Studium durchgeführt worden waren, verbot der Hochschulminister Mawlawi Neda Mohammad Nadim unter Verweis auf den „Erlass 28“ des Kabinetts von 2021 dann am 20. Dezember 2022 den Studentinnen, weiter die Universitäten zu besuchen. Dies betraf sowohl die staatlichen als auch die privaten Hochschulen. Damit waren 20 Millionen Studentinnen vom Studium ausgeschlossen. Zwanzig Hochschullehrer von der Universität Kabul und zwölf von der Universität Nangrahar (im Osten des Landes) erklärten daraufhin aus Protest schriftlich ihren Rücktritt. Bis zum 28. Dezember 2022 traten 47 Hochschullehrer zurück, am 2. Januar 2023 waren es schon über 100.

Eine Gruppe von dreizehn Dozenten der Umweltfakultät der Universität Kabul verurteilte in einer gemeinsamen Erklärung das Studienverbot für Studentinnen sehr scharf und nannte es völlig unbegründet. Darin hieß es u.a.: „Solche Maßnahmen vergrößern die Kluft zwischen Regierung und Volk.“ Mohammad Ismail Maschal, der an verschiedenen Universitäten des Landes Journalistik lehrte, verbrannte öffentlich seine Zeugnisse. „Wenn meinen Studentinnen nicht erlaubt wird, Zeugnisse zu erwerben, brauche ich auch kein Zeugnis mehr“, sagte er vor laufender Kamera mit Tränen in den Augen.

Studierendenproteste

In den Städten Kabul, Herat, Jalalabad, Qandahar und Taluqan protestierten Studierende aus Solidarität mit ihren Kommilitoninnen gegen das Verbot, Frauen zum Studium zuzulassen. Sie wurden durch Sicherheitskräfte brutal misshandelt und einige sogar verhaftet. An einigen Universitäten weigerten sich die Studenten ihre Prüfungen abzulegen. Andere verbrannten öffentlich ihre Zeugnisse. Sie schlossen sich den protestierenden Kommilitoninnen an und riefen „Entweder ein Studium für alle oder für niemand“. Eine Studentin der medizinischen Fakultät der Universität in Jalalabad nahm sich aus Verzweiflung das Leben.

Der Hochschulminister Nadim begründete in einem Interview mit dem staatlichen Fernsehsender Radio Television of Afghanistan (RTA) das erlassene Verbot damit, dass die Studentinnen, die von ihm als islamisch bezeichnete Kleiderverordnung nicht beachtet hätten. Dieser Behauptung wurde durch Prof. Mohammad Habib Asimi von der juristischen Fakultät der Universität Kabul vehement widersprochen. Es seien alle Anordnungen des Hochschulministeriums umgesetzt, nämlich getrennte Klassen für Studentinnen und Studenten eingerichtet worden und das Tragen einer Gesichtsmaske, von schwarzen Kleidern sowie das Verbot, Hosen zu tragen, eingehalten worden. Außerdem sei das Tragen von Gürteln untersagt worden, um die Körperkonturen unsichtbar zu machen.

Asimi war der erste Hochschullehrer, der als Protest und aus Solidarität mit den Studentinnen seinen Rücktritt erklärt hatte. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nahm in einer Erklärung deutlich dazu Stellung: „Die Mitglieder des Sicherheitsrats sind zutiefst beunruhigt über Berichte, wonach die Taliban den Zugang zu Universitäten für Frauen und Mädchen ausgesetzt haben, und brachten erneut ihre tiefe Besorgnis über die Suspendierung von Schulen über die sechste Klasse hinaus und ihre Forderung nach einer vollen, gleichberechtigten und sinnvollen Teilhabe von Frauen und Mädchen in Afghanistan zum Ausdruck und forderten die Taliban auf, die Schulen wieder zu öffnen und diese Politik und Praxis rasch rückgängig zu machen, die eine zunehmende Aushöhlung der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten darstellen.“

Die erste Reaktion aus Kabul war, dass die zwei Schwergewichte in der Talibanhierarchie, der Innenminister Sarajuddin Haqqani und der Verteidigungsminister Mohammad Yaqub Mujahed, die auch als Stellvertreter des Talibanführers Heibatullah Achundsada fungierten, vorgeschlagen hatten, eine Delegation zu Achundsada nach Qandahar zu entsenden, um eine Rücknahme des Verbots zu erwirken, damit Frauen wieder zum Studium zugelassen werden. Ob Mujahed und Haqqani vom „Saulus zum Paulus“ geworden waren oder eher ihren Realitätssinn entdeckt hatten, sei dahingestellt. Ob es jedoch überhaupt eine Delegation nach Qandahar gegeben hat, blieb seitdem ungeklärt.

Arbeitsverbote

Nur wenige Tage später, am 24. Dezember 2022, forderte der Wirtschaftsminister Mohammad Hanif alle afghanischen und internationalen „NonGovernmental Organisations“ (NGOs) auf, ihre Mitarbeiterinnen – ausgenommen blieben nur medizinische Einrichtungen – zu entlassen. Ansonsten würden diese ihre Akkreditierung verlieren. Gerade die über fünfzig NGOs waren es, die schon nach dem Zusammenbruch der Wirtschaft und dann im kalten Winter das Leben von über 28 Millionen Menschen gesichert hatten. Da die Hilfsorganisationen u.a. auch Frauenprojekte betreuen, sind sie auf weibliche Kräfte vor Ort angewiesen. Deswegen setzten zahlreiche NGOs, darunter Save the Children, Care International, International Rescue Committee (IRC), Norwegian Refugee Council und Caritas International ihre Tätigkeit vorläufig aus. „Wir können Kinder, Frauen und Männer in dringender Not nicht ohne unsere weiblichen
Angestellten erreichen“, ließen die NGOs in einer gemeinsamen Erklärung am 25. Dezember 2022 verlautbaren. Vier NGOs mussten bis zum 28. Dezember 2022 insgesamt 4.313 Mitarbeiterinnen entlassen.

„Für uns Frauen ist es die schlimmste Zeit unseres Lebens“, sagte eine Juristin aus Herat, die aus Angst vor Repressalien namentlich nicht genannt werden wollte. Die Taliban „zögern nicht mehr damit, jedes erdenkliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen“. Die frauenfeindlichen Maßnahmen des Taliban Regimes lösten weltweite Kritik aus. Auch die islamischen Länder und die Vereinten Nationen forderten die unverzügliche Rücknahme dieser schändlichen Akte, jedoch ohne Erfolg. UN-Generalsekretär António Guterres brachte in einer Presseerklärung am 24. Dezember 2022 seine tiefste Beunruhigung zum Ausdruck: „Die Vereinten Nationen und ihre Partner, darunter nationale und internationale Nichtregierungsorganisationen, helfen mehr als 28 Millionen Afghanen, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, zu überleben. Die wirksame Bereitstellung humanitärer Hilfe erfordert uneingeschränkten, sicheren und ungehinderten Zugang für alle Helfer, einschließlich der Frauen. Das verkündete Verbot für Frauen, mit der internationalen Gemeinschaft zusammenzuarbeiten, um Leben und Lebensgrundlagen in Afghanistan zu retten, wird den Menschen in Afghanistan weiteres unsägliches Leid zufügen.“ Auch der UN-Sicherheitsrat verabschiedete am 27. Dezember 2022 eine Entschließung, in der er seine tiefe Besorgnis zum Ausdruck brachte.

Konflikte unter den Taliban

Die Frauenpolitik der Taliban weise auf eine zunehmende Aushöhlung der Menschen- und Freiheitsrechte hin, hieß es in der veröffentlichten Erklärung. Dies stehe auch im Widerspruch zu allen Verpflichtungen der Taliban im Rahmen des Abkommens zwischen USA und Taliban in Doha von 29. Februar 2020. In einem Gespräch am 27. Dezember 2022 mit Ramiz Alakbarov, dem stellvertretenden Sonderbeauftragten des Generalsekretärs für Afghanistan bei „The United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) in Kabul, äußerte sich der Wirtschaftsminister des Regimes, Mohammad Hanif, fast beschämt und
entschuldigend zu dem Arbeitsverbot. Der Gesundheitsminister Dr. Qalandar Ebad wandte sich aus Verzweiflung an die internationale Presse, in der Hoffnung, damit etwas bewirken zu können. Für die Hardliner um den Taliban Führer Achundsada schienen allerdings all diese internationalen Reaktionen und
die besorgte Öffentlichkeit kein Hindernis zu sein. Sie erklärten sogar öffentlich, ihre Vorstellungen von einem, man muss es Steinzeitislam nennen, auf jeden Fall umsetzen zu wollen; „ihr Ziel [sei] die totale Abkapselung des Landes von der modernen Welt.“

Innerhalb der Taliban-Führung entbrannte daraufhin eine offene Auseinandersetzung über zentrale politische und kulturelle Fragen, wie z.B. die Stellung der Frauen in der Gesellschaft. Aus dem inneren Kreis des Regimes wurde der Presse zugespielt, dass die „Mehrheit der Minister gegen die
Schließung der Universitäten für Frauen wie auch gegen die jüngste NGO-Anordnung war.“ Inzwischen wurde klar, dass ein erbitterter Machtkampf innerhalb der Führung des Regimes weiter in vollem Gange und auch nach fast zwei Jahren immer noch nicht entschieden ist. Am 5. Januar 2023 wurde dann
bekannt gegeben, dass die NGOs entweder ohne weibliche Ortskräfte arbeiten müssen, oder das Land zu verlassen hätten.Die erhoffte internationale Anerkennung des Taliban-Regimes rückte damit in immer weitere Ferne, ja es ist sogar auf dem besten Wege, international geächtet zu werden.

Bis vor kurzem traute sich nur der politische Staatssekretär im Außenministerium, Mohammad Abbas Stanikzai, öffentlich und kritisch zu den Maßnahmen der Talibanführung bezüglich des Arbeitsverbots für Frauen und des Bildungsverbots für Schülerinnen und Studentinnen Stellung zu nehmen. Das Kabinett des Regimes in Kabul fasste sogar im Februar 2023 einen Beschluss, aus dem hervorgeht, dass bis zum Frühjahr das Arbeits- und Bildungsverbot für Frauen wieder aufgehoben werden müsse. Wenn der Talibanführer Achundsada, dies nicht akzeptieren könne, dann müsse er zurücktreten. Dieser Beschluss wurde ihm auch schriftlich mitgeteilt, was aber ohne Konsequenzen blieb!

Bei einem Empfang zum 44. Jahrestag der iranischen Revolution in Kabul kündigte auch der mutige Stanikzai nochmals an, dass die Arbeits- und Bildungsverbote für Frauen bald aufgehoben werden sollten. Hingegen hatte der Ministerpräsident Mullah Mohammad Hassan Achund öffentlich klargestellt: „Solange ich am Leben bin, werden die Mädchenschulen nicht geöffnet werden dürfen“. Nur in zehn von 34 Provinzen des Landes waren auf Druck der örtlichen Bevölkerung die Oberschulen für Mädchen zeitweise geöffnet worden.

Die Frauen-Frage ist das Hauptelement des längst öffentlich ausgetragenen Machtkampfes zwischen den Ultrakonservativen um den Talibanführer Achundsada und den Pragmatikern in der Regierung. Sollte dieser Machtkampf nicht einvernehmlich gelöst werden können, besteht die Gefahr einer „afghanischen Lösung“ des Konfliktes. Denn seit 1978 sind vier Präsidenten, nämlich Mohammad Daud, Nur Mohamad Taraki, Hafizullah Amin und Najibullah wegen „Meinungsverschiedenheiten“ bzw. Machtansprüchen ermordet worden.

Dieser Beitrag von Matin Baraki erschien in gedruckter Form in der neuen Ausgaben der „Zeitschrift Z- für marxistische Erneuerung“.

Dir gefällt der Artikel? Dann unterstütze doch unsere Arbeit, indem Du unseren unabhängigen Journalismus mit einer kleinen Spende per Überweisung oder Paypal stärkst. Oder indem Du Freunden, Familie, Feinden von diesem Artikel erzählst und der Freiheitsliebe auf Facebook oder Twitter folgst.

Unterstütze die Freiheitsliebe

Zahlungsmethode auswählen
Persönliche Informationen

Spendensumme: 3,00€

Teilen:

Facebook
Twitter
Pinterest
LinkedIn
Freiheitsliebe Newsletter

Artikel und News direkt ins Postfach

Kein Spam, aktuell und informativ. Hinterlasse uns deine E-Mail, um regelmäßig Post von Freiheitsliebe zu erhalten.

Neuste Artikel

Abstimmung

Sollte Deutschland die Waffenlieferungen an Israel stoppen?

Ergebnis

Wird geladen ... Wird geladen ...

Dossiers

Weiterelesen

Ähnliche Artikel

Legitimitätsverlust an zwei Fronten

Nicht erst seit dem Rachefeldzug in Folge des 7. Oktober verliert Israel zunehmend an Legitimität. Palästinensischer Widerstand, gepaart mit jüdischem Legitimitätsentzug, werden für den israelischen