Screenshot, phoenix, YouTube, Olaf Scholz in Israel: Pressekonferenz mit Benjamin Netanjahu

Deutsche Lehren aus der Geschichte

Deutschlands Intervention in Den Haag zeigt, dass der Holocaust vor allem eines ist: eine politische Metapher, die der deutschen Politik zu dienen hat. Es war nur eine Frage der Zeit, bis diese Metapher zur Verteidigung eines Völkermords missbraucht wird.

Niemand ist wirklich überrascht, dass Deutschland seinen Hut in den Ring des Internationalen Gerichtshofs geworfen hat, natürlich auf der Seite Israels. Es darf hinterfragt werden, ob es wirklich um die Verteidigung Israels geht oder um die der eigenen Politik und nationalen Identität, die sich seit eineinhalb Jahrzehnten das Schicksal Israels zu eigen gemacht hat. Wohlgemerkt, das Schicksal der israelischen Regime, nicht das der israelischen Bevölkerung. Man muss kein Linker sein, um zu verstehen, dass man sich die Sicherheit eines anderen Staates nicht zur eigenen Staatsräson macht. Schon gar nicht, wenn dieser Staat ununterbrochen internationales Recht bricht und gegen jede Ermahnung, dieses einzuhalten, immun ist. Selbst der Lieblingssoze aller SPDler, Helmut Schmidt, war dieser Ansicht, als er 2010 die Deutsche Staatsräson für “töricht” erklärte und warnte, dass diese “sehr ernsthafte Konsequenzen” nach sich ziehen wird.

Es wäre gelogen zu behaupten, dass diese Konsequenzen erst jetzt vor dem Internationalen Gerichtshof allen klar geworden sind oder in den letzten drei Monaten während Israels genozidalem Rachefeldzug in Gaza. Die Konsequenzen deutscher Komplizenschaft in Israels Besatzung, Unterdrückung, Apartheid und jetzt Völkermord sind für alle seit langem sichtbar und niemand kann sagen, sie hätten es nicht gewusst.

Dass Israel von Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof des Völkermords bezichtigt wird, ist ebenso wenig überraschend, bedenkt man, dass die israelische Politik, Gesellschaft und Medien schon seit langem über Palästinenser*innen wie Ungeziefer sprechen. Die Anstachelungen zum Völkermord, die man in all den TikTok-Videos von IDF-Soldat*innen hören kann, oder die Aufrufe zur Auslöschung Gazas in den Texten von Kinderchören und Popsongs sind keine plötzliche Manifestation. Es bedarf keines Soziologielehrstuhls, um zu verstehen, was 70 Jahre ethnische Säuberungen, illegale Besatzung, Militarismus und Ethnonationalismus mit der Gesellschaft einer Besatzungsmacht anrichten. Was glaubt man, steht am Ende einer solchen Radikalisierung?

Der Westen war sich dieser Tatsache stets bewusst, selten aber so sehr wie am Tag nach der Hamas-Attacke. Allen war bewusst, dass Israels Rachefeldzug verheerende Folgen für die palästinensische Bevölkerung in Gaza nach sich ziehen wird. Kein Moment macht dies so deutlich wie die Reaktion von Deborah Lipstadt, Antisemitismubeauftragte der Biden Administration und selbst Genozidforscherin, die am 9. Oktober via Twitter erklärte, dass niemand das Recht habe, Israel vorzuschreiben, wie man sich gegen diese Attacke verteidigt. Wenn Israel die “most moral army” der Welt hat und sich stets an das Völkerrecht hält, wieso sollte sich jemand veranlasst fühlen, Israel vorzuschreiben, wie es sich zu verhalten hat? Es war die bedingungslose Unterstützung westlicher Staaten gepaart mit der sofortigen Verteidigung des israelischen Vorgehens in Gaza, das den Völkermord erst möglich gemacht hat, denn Israel hat diese Unterstützung so interpretiert, wie es allen Beteiligten hätte klar sein müssen: Alles geht, alles ist erlaubt. No questions asked!

Die Abschätzigkeit westlicher Regierungen gegenüber der Klage Südafrikas rührt aus dem Wissen, dass Südafrika eine sehr gute Grundlage für seine Klage vorbereitet hat, gerade weil der Westen Israel eine Carte Blanche zum Völkermord erteilt hat und es seit Beginn materiell dabei unterstützt; ein Verbrechen in sich selbst. Deswegen ist es die Aufgabe Deutschlands, jetzt in Den Haag Israel zur Seite zu springen, um so zu versuchen, Schaden von Israel, aber noch wichtiger, vom Westen abzuhalten.

Christian Wagner, stellvertretender Pressesprecher des Auswärtigen Amtes, hat in der Bundespressekonferenz darauf verwiesen, dass die Klage Südafrikas eine historische Gleichsetzung zwischen Gaza und des Holocausts sei und Deutschland die Klage deshalb zurückweise; ein Vergleich, den weder Südafrika gemacht hat noch die Völkermordkonvention macht. Dass Deutschland für seine Intervention den Holocaust missbraucht, um eine Völkermordklage zu torpedieren, war zu erwarten, denn schließlich weiß man in Deutschland am besten, dass sich absolute Expertise von Täterschaft ableitet. Im deutschen Diskurs wird der Holocaust mehr und mehr zur politischen Metapher sinnentleert, die der Politik deutscher Regierungen, je nach Belangen, moralisches Gewicht verleihen soll. So auch in diesem Fall. Mit Aufarbeitung, Erinnerung und Respekt gegenüber den Millionen Opfern hat das nichts zu tun.

Leider scheint man in Deutschland vergessen zu haben, dass der Holocaust nicht der einzige deutsche Völkermord im 20. Jahrhundert war. Nicht nur das, sondern man hat auch vergessen, dass der Beginn des deutschen Völkermords an den Herero und Namaqua sich genau an dem Tag zum 120. Mal jährte, an dem sich Deutschland gegen die Völkermordklage Südafrikas gestellt hat und mit Wagners Formulierung insinuierte, dass nur der Holocaust ein echter Völkermord war. Natürlich gab es an diesem Tag kein Regierungsstatement zum deutschen Völkermord im heutigen Namibia. Wie hätte man auch am selben Tag auf den Holocaust verweisen können, um eine Völkermordklage zu torpedieren, und im gleichen Atemzug auf den ersten deutschen Völkermord im 20. Jahrhundert, ohne dass die Parallelen zwischen Deutsch-Südwestafrika damals und Israel heute jedem ins Gesicht gesprungen wären.

Die Intervention in Den Haag ist nur die neueste Episode in der Farce “deutsche Staatsräson”, mit der sich Deutschland jedes Mal aufs Neue einen Bärendienst erweist. Netanyahu hat es Deutschland umgehend gedankt, als er kurz darauf klarmachte, dass er mit der Vernichtung Gazas weitermachen werde, egal wie der Internationale Gerichtshof entscheidet. Was dann? Wird Deutschland weiterhin Netanyahu unterstützen, auch wenn der Gerichtshof gegen Israel entscheidet? Wird Deutschland sich für Israel und gegen die oberste richterliche Instanz der Vereinten Nationen stellen? Wie sehr ist Deutschland bereit, im Namen Israels und der eigenen Staatsräson internationale Institutionen zu demontieren?

Helmut Schmidts Warnung vor ernsthaften Konsequenzen war an die Eventualität eines Krieges zwischen Israel und Iran gerichtet, in dem Deutschland Truppen zusteuern müsste, wenn es seine Staatsräson ernst nehmen würde. Was Schmidt nicht erahnen konnte, oder wollte, war eine Zukunft, in der Deutschland 120 Jahre nach dem Beginn des Völkermords an den Herero und Namaqua, fast 80 Jahre nach dem Ende des Holocausts, wieder in einen Völkermord verstrickt sein würde. Dieses Mal jedoch als Unterstützer und Verteidiger, nicht als Täter. Vielleicht ist es das, was man in Berlin mit ‘Nie Wieder!’ und ‘aus der Geschichte lernen’ meint.

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