Das Parlament nutzen und dessen Grenzen zeigen

Immer weniger Menschen gehen wählen, weil sie den Sinn nicht sehen können ihre Stimme abzugeben, um am Ende dennoch eine Politik zu erleben, die ihre Lebensqualität eher verschlechtert als verbessert, während die Reichen immer reichen werden. Für einige scheint Wahlboykott daher die richtige Antwort zu sein, eine falsche Herangehensweise, wie Jaan in seinem Artikel über die Strategie Lenins zeigt.

Die russischen Sozialdemokraten betrachteten die parlamentarische Regierung, die den Zaren ablöste, als ausreichenden Fortschritt und arbeiteten darin mit. Der revolutionäre Sozialist Lenin dagegen meinte, dass diese Regierung nur eine Fortsetzung des Kapitalismus bedeutete. Um Krieg und Hunger wirklich zu beenden, müssten die Arbeiter und Bauern selbst die Macht übernehmen, indem sie aus ihren Räten eine Regierung bilden.

Lenin lehnte den Versuch ab, den Staatsapparat des Zarenreiches zu benutzen, auch wenn er mit mehr demokratischen Rechten versehen war als vorher. Jeder Staat, meinte er, sei fest mit dem jeweiligen Gesellschaftssystem verbunden: „Der Staat ist das Produkt und die Äußerung der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze. Der Staat entsteht dort, dann und insofern, wo, wann und inwiefern die Klassengegensätze objektiv nicht versöhnt werden können. Und umgekehrt: Das Bestehen des Staates beweist, dass die Klassengegensätze unversöhnlich sind.“

In seinem 1917 erschienenen Buch „Staat und Revolution“ zitierte er seine Vorgänger Marx und Engels, um die Sozialdemokraten zu widerlegen, die im Gegensatz zu ihm behaupteten, Land, Brot und Frieden in Russland auf parlamentarischem Wege herbeiführen zu können.

Die russischen Sozialisten hatten zwar jahrelang um das Wahlrecht als Mittel der Meinungsäußerung gekämpft, aber Lenin war sicher, dass kein Parlament die Herrschaft des Kapitals beenden könne. Er schrieb, dass die demokratische Republik die „denkbar beste Hülle des Kapitalismus“ sei.

Lenin meinte, dass sich in parlamentarischen Demokratien kritische Bewegungen immer zunächst gegen die Regierung richten, die dann bei Wahlen abgelöst werden kann. So ist zwar die Regierung an der Macht gefährdet, aber nicht die Herrschaft des Kapitals insgesamt. „Kein Wechsel, weder der Personen noch der Institutionen noch der Parteien der bürgerlich-demokratischen Republik“, könne diese Macht erschüttern. Lenin behielt Recht: Die parlamentarische Regierung unternahm nichts gegen Krieg und Hunger und bereitete so den Boden für ihren Sturz.

Grundsätzlich muss sich jede antikapitalistische Bewegung auch gegen die Institutionen des kapitalistischen Staates richten. Diese Haltung hat Lenin den Ruf eingebracht, gegen die Demokratie zu sein und über die Köpfe der Mehrheit hinweg zu entscheiden. Die russische Räterepublik war allerdings viel demokratischer als alle Staaten ihrer Zeit und auch fortschrittlicher als die meisten Staaten heute. Beispielsweise führte die Räteregierung das Recht auf kostenlose und frei zugängliche Abtreibung ein.

Der Aufstieg des Stalinismus in den 20er Jahren, der oft auf Lenin zurückgeführt wird, hat seine Wurzeln gerade in der Isolation und im Zerfall dieser Räterepublik nach dem Bürgerkrieg, in dem 14 kapitalistische Staaten die Gegner der Revolution unterstützten. Zwar gewannen die Revolutionäre den Bürgerkrieg, aber die Grundlage einer neuen Gesellschaft war zerstört. Die Anziehungskraft der russischen Revolution auf der ganzen Welt war dennoch enorm stark.

Als die deutschen Kommunisten nach der Novemberrevolution 1918 Lenins harte Haltung gegenüber dem Parlament kopierten, ohne die Verhältnisse vor Ort zu berücksichtigen, kritisierte Lenin sie hart. Die deutschen Kommunisten vertraten die Ansicht, nicht zu Parlamentswahlen antreten zu müssen, weil sie als Kommunisten das Parlament ablehnten.

Lenin antwortete in seinem Buch „Der linke Radikalismus“ 1920: „Für die Kommunisten in Deutschland ist der Parlamentarismus natürlich ‚politisch erledigt’, aber es kommt gerade darauf an, dass wir das, was für uns erledigt ist, nicht als erledigt für die Klasse, nicht als erledigt für die Massen betrachten.“

In Russland hatte Lenin erst begonnen, für den Sturz des Parlaments zu kämpfen, als klar wurde, dass die Regierung weder den Krieg noch den Hunger beenden würde und zugleich in der Rätebewegung Massen aktiv waren, die eine bessere Demokratie darstellten.

In Deutschland dagegen gab es keine Rätebewegung mehr. Deshalb sollten die Kommunisten selbstverständlich auch im Parlament arbeiten: „Solange ihr nicht stark genug seid, das bürgerliche Parlament und alle sonstigen reaktionären Institutionen auseinanderzujagen, seid ihr verpflichtet, gerade innerhalb dieser Institutionen zu arbeiten, weil sich dort noch Arbeiter befinden, die von den Pfaffen und durch das Leben in den ländlichen Provinznestern verdummt worden sind.“

Den Unterschied zu den Sozialdemokraten sah Lenin darin, dass die Kommunisten bei ihrer Arbeit in den Parlamenten nie die Ansicht vertraten, dass diese Arbeit eine Revolution ersetzen könne. „Die Kritik – und zwar die schärfste, schonungsloseste, unversöhnlichste Kritik – ist nicht gegen den Parlamentarismus oder gegen die parlamentarische Tätigkeit zu richten, sondern gegen jene Führer, die es nicht verstehen, die Parlamentswahlen und die Parlamentstribüne auf revolutionäre, auf kommunistische Art auszunutzen, und noch mehr gegen diejenigen, die das nicht wollen.“

Das Parlament auf kommunistische Art auszunutzen, hieß für Lenin, aus dem Parlament heraus dessen Grenzen zu erklären und für eine Revolution zu argumentieren. Die Beteiligung an den Parlamentswahlen und am Kampf auf der Parlamentstribüne sei „für die Partei des revolutionären Proletariats unbedingte Pflicht, gerade um die rückständigen Schichten ihrer Klasse zu erziehen, gerade um die unentwickelte, geduckte, unwissende Masse auf dem Lande aufzurütteln und aufzuklären.“

Lenin erinnerte an den deutschen Revolutionär Liebknecht, der als Abgeordneter der SPD im Reichstag gegen den Krieg sprach und so den Kriegsgegnern auf der Straße und in den Betrieben den Rücken stärkte.

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Eine Antwort

  1. Wer das System füttert, erhält es am leben.

    Ich teile die Ansicht, dass wenn man die Wahl zwischen Pest, Maul und Klauenseuche oder Rinderwahn hat, es auch immer die Möglichkeit gibt zu sagen „weder noch“. Man muß sich keine Krankheit aussuchen, jeder hat das Recht zu sagen „ohne mich“ , bzw. weder Pest, noch Maul und Klauenseuche oder Rinderwahn, ich bleibe Gesund.
    Wer sich an einem Wahlsystem beteiligt, welches vom (ich glaube) Bundesverfassungsgericht als nicht zulässig gesehen wurde, aber immer noch seit Jahren so fortgeführt wird, brauch sich eigendlich nicht wundern wenn er verschaukelt wird. Wer Wählen geht, unterstützt ein System welches nicht mal Rechtkräftig ist. Lenin war seiner Zeit würdig, ist aber heute etwa 100 Jahre veraltet.

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