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„Judenhass Underground“ #2: Linke Erbschuld

Im beliebten Berliner Szeneclub about.blank wurde am 1. September das Buch „Judenhass Underground gelaunched. Der Sammelband erschien beim Verlag Hentrich&Hentrich und wurde vom Journalisten Nicholas Potter von der Amadeu Antonio Stiftung und vom Belltower.News-Redakteur Stefan Lauer herausgegebenen. Das Buch, in dem Beiträge vieler namhafter Autor*innen zu finden sind, beschäftigt sich mit „Antisemitismus in emanzipatorischen Subkulturen und Bewegungen, so heißt es auf dem Cover. In einer mehrteiligen Reihe setzt sich unser Autor Dan Weissmann kritisch mit „Judenhass Underground auseinander und untersucht, inwiefern das Buch seinen eigenen Ansprüchen genügt (Freiheitsliebe-Redaktion). Teil 1 findet ihr hier. Teil 2:

Im zweiten Kapitel des Theorieteils von Judenhass Underground widmet sich Jan Riebe, Projektkoordinator der Amadeu Antonio Stiftung, dem „Linken Antisemitismus“. Bei diesem Thema wird den meisten wohl eine personalisierte, oberflächliche und verschwörungstheoretische Kapitalismuskritik, die man noch vereinzelt in Nischen der Linken findet, in den Sinn kommen. Vor allem, wenn es einem Kapitel folgt, welches Israel bereits thematisiert hat. Anstatt die Nischen der Kapitalismuskritik zu durchforsten, nimmt uns der Autor auf eine Zeitreise in das Westdeutschland der späten 1960er Jahre, denn dort verortet er den Ursprung der Politik und Gesinnung der modernen Klimabewegung, Clubkultur und queeren Community. Bereits wie im ersten Kapitel dreht es sich auch hier um Israel, genauer: um den Sechstagekrieg.

Exkurs: Riebe beschreibt den Sechstagekrieg, in dem Israel 1967 Ägypten, Jordanien und Syrien überfallen hat, als einen „Präventionskrieg”. Das ist ahistorisch. Schon seit den 1970er Jahren ist bekannt, dass der Sechstagekrieg kein Präventionskrieg, sondern ein Angriffskrieg Israels war. Mordechai Bentov, Unterzeichner der israelischen Unabhängigkeitserklärung, gab 1971 zu, dass „[d]iese ganze Geschichte über die drohende Vernichtung [Israels] völlig erfunden und dann im Nachhinein ausgearbeitet [wurde], um die Annexion neuer arabischer Gebiete zu rechtfertigen„. Der ehemalige Ministerpräsident Menachem Begin erklärte in einer Rede im Jahr 1982: „Im Juni 1967 hatten wir die Wahl. Die Stationierung der ägyptischen Armee im Vorfeld des Sinai bewies nicht, dass Nasser wirklich vorhatte, uns anzugreifen. Wir müssen ehrlich zu uns selbst sein. Wir beschlossen, ihn anzugreifen.” General Ezer Weizmann, der 1967 den Überraschungsangriff auf die ägyptischen Flughäfen koordinierte, lehnte kategorisch ab, dass der Sechstagekrieg ein Präventionskrieg war, und betonte offensiv, dass die Militäroperation tatsächlich dem Territorialgewinn Israels diente. Denn, so Weizmann: „[d]ie östlichen Regionen von ‚Eretz Israel‘, also das Westjordanland, gehören zum Wesen des Zionismus und ohne sie stellt der Jüdische Staat keine historische Ganzheit dar”. Es ist dieser Angriffskrieg Israels gegen Ägypten, Jordanien und Syrien am 5. Juni 1967, den Riebe als den Ausgangspunkt des „linken Antisemitismus„ in Deutschland sieht.

Riebe verweist zu Beginn zurecht darauf, dass es zum Grundverständnis der Linken gehört, auf der Seite der Unterdrückten zu stehen und gegen etablierte Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu agitieren. Jedoch, so Riebe, sei das nur Selbstwahrnehmung. Deshalb wird bemängelt, dass die Linke diese Logik auch auf den „Nahostkonflikt projiziert”. Als Beweis wird der Historiker Dan Diner zitiert, der der Linken vorwirft, „nicht pragmatisch, sondern ideologisch” der Palästinafrage zugewandt zu sein. Was eine pragmatische Position zur Palästinafrage ist und wieso diese scheinbare Projektion falsch sein soll, wird nicht weiter erläutert. Eines steht aber fest: Israel ist der Staat der „jüdischen Opfer des Nationalsozialismus”, verdient dementsprechend Solidarität und kann daher selbst nicht zum „Täter“ werden. Doch schon im nächsten Satz wird der emanzipatorischen Linken vorgeworfen, die Welt in Opfer und Täter aufteilen zu wollen, in „ein manichäisches Weltbild, […] Imperialist*in oder Antiimperialist*in”. Wenn es um die Verteidigung Israels als den Staat der „jüdischen Opfer des Nationalsozialismus” geht, scheint dieses manichäische Weltbild jedoch hilfreich.

Wie schon die Autoren des vorherigen Kapitels benutzt auch Riebe Verweise auf rechte oder liberale Organisationen als Argument gegen die emanzipatorische Linke. Als Beweis für die Vergleiche Israels mit dem Nationalsozialismus, und somit einer Täter-Opfer-Umkehr der linken 68er, werden Schlagzeilen der „Zeitungen des Springer-Konzerns“ und des Spiegel genannt, so etwa „Israels Blitzkrieg“ oder das Feiern des „israelischen Verteidigungsministers Moshe Dayan als neuen ‘Wüstenfuchs Rommel’“. Inwiefern diese Schlagzeilen der außerparlamentarischen Linken anzuheften sind, bleibt unklar. Zudem ist nicht klar, wie eine mögliche Wende israelischer Politik hin zum Faschismus, wie es heute eindeutig der Fall ist, „die Taten der Deutschen im Nationalsozialismus massiv relativiert“, wie von Riebe kategorisch behauptet wird. In einer seriösen Erinnerungskultur kann weder eine Anerkennung des spanischen, noch des italienischen oder des portugiesischen Faschismus unter Salazar die Taten der Deutschen relativieren, wieso sollte das für Israel also anders sein? Zudem impliziert das Argument der Täter-Opfer-Umkehr zugleich auch ein manichäisches Weltbild, in dem Israel als Staat der „Opfer des Nationalsozialismus“ identifiziert – auf ewig Opfer bleibt.

Zur Mitte des Kapitels kristallisiert sich das eigentliche Argument und die Position Riebes heraus, die er jedoch nicht in eigene Worte fasst. Stattdessen lässt er andere für sich sprechen. Der Vorwurf des Siedlerkolonialismus ist der Bogen, der die Israel-feindlichen 68er und emanzipatorischen Gruppen heute verbinde, so Riebe. Was auf den ersten Blick eine korrekte Beobachtung ist, führt jedoch nicht zu einem Versuch, die Positionen der heutigen emanzipatorischen Linken mit denen der 68er vergleichend zu besprechen. Stattdessen werden die Positionen der 68er auf die Position der gegenwärtigen emanzipatorischen Linken projiziert. Denn wenn der Feind heute wie damals Imperialismus ist, muss die Motivation, Theorie und Praxis schließlich auch identisch sein.

Als Beweis zitiert Riebe den Soziologen Thomas Haury, der scheinbar zu der Erkenntnis gekommen ist, dass „das antiimperialistische Weltbild […] als strukturell antisemitisch zu bezeichnen [ist]. Denn es ist geprägt von Manichäismus, Personifizierung, Verschwörungstheorie und der Entgegensetzung von guten Völkern und bösen Finanzkapitalisten”. Folgt man dieser Logik, ist alles antiimperialistische eine antisemitische Verschwörung, und kolonisierte Völker wollen sich von ihren Kolonialherren nicht befreien, weil sie selbstbestimmt leben und die materiellen und politischen Umstände ihres Daseins abschütteln wollen, sondern weil sie aus einem internalisierten Verschwörungs-Antisemitismus heraus motiviert sind. Eine sehr europäische und letztlich auch rassistische Sichtweise. Deswegen trägt die Schuld daran, in erster Linie der palästinensische Philosoph Fayez Sayegh, der als „in Syrien geborener arabische[r] Intellektuelle[r]” beschrieben wird. Ihm sei es zu verdanken, dass Franz Fanons Die Verdammten dieser Erde auf Israel angewandt und mit der Broschüre „Zionist Colonialism in Palestine” Israel zur Siedlerkolonie verklärt wurde.

Im Verlauf des Kapitels durchläuft Riebe weitere Stationen der außerparlamentarischen Linken und ihrer Kollaboration mit militanten Organisationen wie Tupamaros West-Berlin, deren versuchten Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in Berlin er die „Grundlage linker Politik in Bezug auf Israel” nennt. Das Attentat von 1972 in München und das antisemitische Geschwafel von Ulrike Meinhof wird in denselben Kontext gestellt wie die Entführung der Flugzeugpassagiere in Entebbe, als auch der geplante Mordanschlag der Revolutionären Zellen auf die Gemeindevorsteher der jüdischen Gemeinde Berlin und Frankfurt. Wie und wo sich diese radikalen, militanten und antisemitischen Positionen in der heutigen emanzipatorischen Linken finden lassen, bleibt Riebe allerdings schuldig. Stattdessen wird proklamiert, dass genau diese Narrative sich in den „queerfeministische[n] und postkoloniale[n] Diskursen und Praxis” von „Queers for Palestine bis Migrantifa” finden lassen. Diese Anschuldigung wiegt schwer, wird jedoch nicht belegt, und sie wird auch nicht durch das Caveat abgeschwächt, dass die Praxis und Diskurse „sprachlich und teils theoretisch aktualisiert” wurden.

Wenn dem denn so sei, wieso liefert dieses Kapitel keine Besprechung dieser aktualisierten Praxis und Theorie? Wieso wurde die militante Geschichte der deutschen 68er eins zu eins auf emanzipatorische Gruppen der Gegenwart projiziert, ohne auch nur einen Versuch zu unternehmen, sich mit deren Positionen auseinanderzusetzen? Sind Queers for Palestine oder Migrantifa heute etwa, was Tupamaros West-Berlin und die Revolutionäre Zellen damals waren? Diese Argumentation erinnert stark an rechte Narrative über „Klima-Kleber-Terroristen“ und „Klima-RAF”, die man von Autor*innen, die behaupten, selbst Teil der Linken zu sein, nicht erwarten würde.

Mit einem hat Riebe dennoch Recht, der Sechstagekrieg war ein Wendepunkt im Verhältnis der Linken zu Israel, nicht nur in Deutschland. Richard C. Schneiders Einschätzung, dass 1967 die Fantasie des „sozialistische[n], demokratische[n] Staat der Holocaust-Überlebenden” zu Ende ging, ist zutreffend. Spätestens mit dem Sechstagekrieg hat die israelische Führung bewiesen, dass das zionistische Projekt Siedlerkolonialismus ist, welcher exklusiven Anspruch auf das gesamte Gebiet Palästinas erhebt. Eine Position, die damalige Regierungen deshalb nicht offen propagierten, da Kolonialismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der westlichen Öffentlichkeit aus der Mode geraten war. Die heutige faschistische Regierung unter Netanjahu macht aus dieser Tatsache jedoch kein Geheimnis mehr. Dass emanzipatorische Gruppen wie Queers for Palestine bis Migrantifa sich dem entgegenstellen, ist selbstverständlich ideologisch, weil antifaschistisch, aber eben auch pragmatisch und vor allem menschlich!

Riebes oberflächliche Argumentation ist ein gescheiterter Versuch, die Sünden der linken Vergangenheit den emanzipatorischen Gruppen der Gegenwart anzulasten. Dieses Kapitel hat die Chance verpasst, emanzipatorische Positionen von heute mit militanten Positionen von gestern kritisch zu vergleichen und zu durchleuchten. Stattdessen wurde es eine Geschichtsstunde, die uns nichts über die Gegenwart verrät.

Von Dan Weissmann. Dies ist Teil #2 einer Rezensionsreihe zu „Judenhass Underground“ (2023, Hentrich&Hentrich). Teil 1 findet ihr hier. Die nächsten Teile dann in Kürze.

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