Wenn der deutsche Rechtsstaat etwas gerne tut, dann ist das schützen. Ausländische Regierungsoberhäupter und (Polizei-)Beamten vor Beleidigungen zum Beispiel, oder auch (rechte) Demonstrationen vor groben Störungen. Ganz besonders gerne jedoch schützt der deutsche Staat „seine“ Frauen – vornehmlich seit der vergangenen Silvesternacht.
Wovor der deutsche Staat „seine“ Frauen schon seit Langem schützt, ist beispielsweise ihre Entscheidungsfreiheit im Falle ungewollter oder problematisch verlaufender Schwangerschaften. Es mag überraschen, dass in einer vorgeblich so progressiven, westlichen Gesellschaft wie der deutschen, in der Sexismus bekannterweise keinen Platz hat, ein Paragraph wie § 218 nach wie vor im Gesetz verankert ist – auch wenn in der Praxis Straffreiheit herrscht. Doch Frauen müssen schließlich geschützt werden, notfalls auch davor, über ihren eigenen Körper entscheiden zu können. Bis 1997 hat Vater Staat deutsche Staatsbürgerinnen sogar noch davor geschützt, ihren Ehemann zu vergraulen oder anzeigen zu müssen, wenn dieser von seinem Hausrecht Gebrauch machte und sich nahm, was ihm „zustand“ – trotz Gegenstimmen frommer ChristdemokratInnen wie Erika Steinbach oder Horst Seehofer wurde damals beschlossen, Vergewaltigung in der Ehe tatsächlich strafbar zu machen. Wir halten fest: reproduktive Selbstbestimmung nach wie vor gesetzeswidrig, sexuelle Gewalt in der Ehe noch keine 20 Jahre. Und nach wie vor bleibt „Nein heißt Nein“ eine Forderung, die sich offenbar nicht für die Schutzabsichten des Staates eignet – und auch im Rahmen der letzten Sexualstrafrechtsreform wieder keinen Einzug ins deutsche Recht gefunden hat. Man kann argumentieren, dass ein „Nein“, auch im Gesetz verankert, wenig am Verlauf einer Vergewaltigung oder der Beweislage im Nachhinein ändern wird, da letzten Endes Aussage gegen Aussage steht, sofern es keine Zeugen gibt. Diese Sachlage allerdings galt bereits zuvor und wird solange gelten, wie das deutsche Strafrecht das deutsche Strafrecht bleibt. Was vergeben wurde, war eine Chance, den verbal geäußerten Willen eines Menschen als verbindlich herauszustellen und damit Betroffenen wie (potenziellen) Tätern zu signalisieren, dass es zumindest auf dem Papier Gewicht hat.
Das neueste Projekt in Sachen Schutz, das sich Justizminister Maas nun – nachdem es im Nachlauf der Silvesternacht einigermaßen schwierig geworden ist, Frauenverbände politisch zu überhören – überlegt hat, ist ein Verbot geschlechterdiskriminierender Werbung. Was heißt das? Werbung, die Frauen oder Männer (!) auf Sexualobjekte reduziert und sie herabwürdigt, soll künftig geahndet werden können. Damit soll ein „moderneres Geschlechterbild“ in Deutschland begünstigt werden. Diese Zielsetzung ist insofern bemerkenswert, als dadurch klar wird, dass Sexismus und problematische Geschlechterbilder eben keine „Importware“ sind, die mit Migrant*innen und Geflüchteten aus anderen Kulturkreisen bei uns angekommen ist, sondern ein deutsches Phänomen. Im Gegensatz zu Maßnahmen wie der erhöhten und relativ ziellos agierenden Polizeipräsenz, die sich seit Silvester bei Großveranstaltungen wie beispielsweise friedlichen, feministischen Demonstrationen beobachten lässt, scheint dieser Vorstoß ausnahmsweise einmal tiefer zu gehen und eine Grundsatzfrage zu stellen: Wann wird Mensch* zum Objekt erniedrigt?
Die gesellschaftliche Reaktion auf das Vorhaben des Justizministers ist durchaus gespalten. Die einen werfen ihm „Spießertum“ vor und sehen die abendländische Freiheit bedroht, die anderen sind ganz froh, dass wir uns im Jahr 2016 endlich die Frage stellen dürfen, ob wirklich jedes Produkt mit Brüsten, gespreizten Beinen oder lasziv geöffneten Frauenmündern beworben werden muss. Was jedoch den allermeisten Stimmen fehlt, ist die Feststellung, dass es sich um Werbung handelt, um die es geht – also um die Mittel, derer Industrien sich bedienen, um Produkte zu verkaufen. Es geht nicht um die Freiheit von Kunst oder Kultur, und ganz sicher nicht um die individuelle Freiheit, soviel Haut zu zeigen wie man/frau möchte. Vor diesem Hintergrund sind die Töne vieler – meist männlicher – Kritiker unfassbar laut und schrill und offenbaren sehr viel mehr über herrschende Geschlechterbilder, als die Kommentatoren es wohl beabsichtigen: Frauenkörper sollen nackt erscheinen dürfen, wenn sie es nicht selbstbestimmt sind. Frauenkörper sollen nackt erscheinen dürfen, wenn dazu keine eigene Stellungnahme erfolgen kann. Frauenkörper sollen nackt erscheinen dürfen, in einer Form, die Konsum fördert und einlädt. Dafür machen sich deutsche Stimmen gerne laut und stark – im selben Atemzug, wie sie ihren Ekel kundtun, wenn optisch nicht (mehr) begehrenswerte Frauen* sich erdreisten, Haut zu zeigen oder Mütter es wagen, in der Öffentlichkeit ihre Brüste verwenden, um ein Baby zu stillen.
Wovor uns also der Vorstoß von Heiko Maas tatsächlich schützt, ist die Illusion, dass die Geschlechterbilder im Deutschland des Jahres 2016 so aufgeklärt sind, wie viele es gerne postulieren. Die Diskussion um Sexismus, Schutz und Sexualmoral, die aktuell durch die Medienlandschaft tobt, ist so entlarvend wie notwendig, für ein Land, in dem die Aussage „sei froh, hier geht es euch ja noch gut – schau doch mal nach Afghanistan“ nach wie vor verwendet wird, um Feminist*innen mundtot zu machen. In einem Land, in dem „Mädchen“ nach wie vor eine Beleidigung ist. In dem Frauen auf Hygieneartikel wie Tampons mehr Steuer bezahlen müssen – bei gleichzeitig statistisch niedriger ausfallendem Verdienst – als Männer für den Strauß Blumen, den sie, so will es das Klischee, ihrer „hysterischen“ Gattin zur Besänftigung ihrer Launen mit nach Hause bringen können. Wie auch immer das Ergebnis des Prozesses ausfallen wird, vorerst hat das Verbot sexistischer Werbung dafür gesorgt, dass wir uns beim Anblick von Körperteilen in Werbeanzeigen einige Fragen stellen, die wir vorher vielleicht nicht bewusst artikuliert hätten. Das ist begrüßenswert, denn wenn eine Sache keinen Schutz verdient hat, dann ist es Ignoranz in Sachen Sexismus.