Blinde Flecken der Vermögensanalyse

Alle Jahre wieder veröffentlichen Beraterfirmen, Finanzunternehmen, Zeitschriften und Forscher ihre Vermögensanalysen. Und seit Jahren gibt es die immer gleichen Befunde: Die Vermögen steigen und die Vermögensschere geht weiter auseinander. Erst jüngst hat die Boston Consulting Group ihren „Global Wealth Report 2019“ veröffentlicht. Bedauernd wird festgestellt, das globale Vermögen sei 2018 mit 1,6 Prozent deutlich langsamer als in den vorangegangenen Jahren gestiegen.

Es bedürfe deshalb des neuerlichen Entfachens seines radikalen Wachstums. „Reigniting Radical Growth“ titelt die Studie. Die Anzahl der Dollar-Millionäre sei auf weltweit 22 Millionen gestiegen; sie sollen über etwa die Hälfte des globalen Finanzvermögens verfügen und das Wachstumstempo ihrer Vermögen liege, obwohl langsamer als in den Jahren zuvor, trotzdem über dem Durchschnitt. Die Vermögensschere zwischen ihnen, dem Mittelstand und den Armen muss sich also weiter geöffnet haben.
Die Schlussfolgerungen dieses Berichts und der Reports von Allianz oder Credit Suisse und anderer richten sich auf Strategien, wie Kapitalanleger besser beraten werden können, welche Vermögensportfolios am renditeträchtigsten sind und welche neue Klientel gewonnen werden könnte. Es geht also darum, die Superreichen, die Ultra High Net Worth Individuals (UHNWI), noch reicher zu machen. Überlegungen bezüglich der zurückbleibenden Armen sind in diesen Studien nicht zu finden.
Auch die Deutsche Bundesbank veröffentlichte die Ergebnisse ihrer jüngsten Vermögensbefragung für Deutschland. Danach nahmen die durchschnittlichen Nettovermögen, also die Bruttovermögen abzüglich der Schulden, von 2014 bis 2017 „auf breiter Basis“ zu. Der Abstand zwischen den Vermögen der oberen und denen der ärmsten zehn Prozent hat sich freilich weiter erhöht. Lag er 2010 bei 442.000 Euro, so beträgt er heute 555.000 Euro. Das obere Zehntel der Haushalte besitzt 55 Prozent der Nettovermögen, etwas weniger als die Jahre zuvor, die ärmere Hälfte hat seit Jahren unverändert gerade einmal 3 Prozent. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die Vermögenden nicht nur generell kaum, sondern, wie die Bundesbank anmerkt, zuletzt sogar noch weniger als früher an der Befragung beteiligten, wodurch es wahrscheinlich zu einer Untererfassung von Betriebsvermögen am oberen Rand gekommen sei. Nur 10 Prozent der Haushalte verfügen über solches Betriebsvermögen; 11 Prozent besitzen Aktien und 16 Prozent besitzen Fondsanteile. Alle drei Vermögenskategorien konzentrieren sich vor allem bei den reichen Haushalten. Dies gilt zwar nicht so stark, aber doch nicht unerheblich auch für das Immobilienvermögen, das bei der ärmeren Hälfte der Haushalte überhaupt keine Rolle spielt.
Die Bundesbank beschränkt sich ausdrücklich auf eine deskriptive Darstellung der Vermögenslage. Das gilt für die Mehrzahl aller Vermögensstudien. Zu den Ursachen der Öffnung der Vermögensschere findet sich selten ein Hinweis. Ist das doch einmal der Fall, dringt er kaum in die Tiefen sozial- und polit-ökonomischer Zusammenhänge vor. Im wichtigsten Lexikon der Welt, bei Wikipedia, findet sich mit Verweis auf den renommierten Wirtschaftswissenschaftler Dietmar Brümmerhoff folgende, an Ignoranz kaum zu überbietende Erklärung: „Für die Ungleichheit der Vermögensverteilung spielen das ererbte Vermögen, der Lebenszyklus und die persönlichen Fähigkeiten die wesentliche Rolle.“ Und selbst ein kritischer Geist wie Thomas Piketty, dessen bahnbrechende Arbeit über „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ eine wahre Lawine einschlägiger Untersuchungen auslöste, blieb auf halbem Wege stehen. Er führt die seit etwa 40 Jahren wieder wachsende Ungleichheit auf eine die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (g) übersteigende Kapitalrendite (r) zurück. Über die sozialen Prozesse, Kräfteverhältnisse und Auseinandersetzungen, die sich in dieser Relation niederschlagen, erfährt man viel zu wenig. Überhaupt scheinen sich viele Ökonomen für eine solche Analyse nicht zuständig zu fühlen.
Für einen tieferen Blick ist es hilfreich, den Vermögensbegriff genauer unter die Lupe zu nehmen. Es werden Bestandsgrößen zusammengefasst, die wirtschaftlich völlig unterschiedliche Funktionen haben. Unter Sachvermögen zum Beispiel werden Schmuck- oder Kunstgegenstände genauso verstanden wie selbstgenutztes Wohneigentum oder Betriebsvermögen. Und das Geld auf einem Sparkonto oder in einer Versicherungspolice gilt genauso als Finanzvermögen wie ein Aktienbestand oder ein Fondsvermögen. Diese und weitere Vermögensgrößen haben nichts gemeinsam, außer dass sie Bestandsgrößen sind, die sich in einem monetären Wert darstellen lassen und zu einem bestimmten Zeitpunkt aggregiert werden können. Der Ursache der polarisierenden Vermögensentwicklung ist aber nur auf die Spur zu kommen, wenn eine funktionale Unterscheidung zwischen diesen Beständen vorgenommen wird. Obwohl ihre monetären Größen addiert werden können, ist die Eigentumswohnung, die eine Berliner Familie selbst bewohnt, wertfunktional etwas völlig anderes als die Wohnung gegenüber, die vielleicht der Aktiengesellschaft Deutsche Wohnen gehört. Im Unterschied zur selbstgenutzten Wohnung dient eine vermietete Wohnung der Kapitalverwertung; der Vermieter will eine Rendite erzielen. Sie bildet Kapital, ein sich verwertender, ständig in Bewegung befindlicher Wert. Und die immer weiter aufklaffende Vermögensungleichheit hat ihre Ursache nicht zuerst in Erbschaften, Leistungsunterschieden oder der Piketty-Relation r > g, sondern zuvörderst in dem Umstand, dass – so abgedroschen das manchem Leser auch scheinen mag – die Kapitaleigner, die Eigentümer von Betriebsvermögen, von Produktivvermögen also, sich Mehrwert oder dessen Abkömmlinge aneignen können, die vielleicht gar nicht so „armen“ Nicht-Eigentümer, die große Mehrheit der Bevölkerung also, jedoch nicht. Es scheint den meisten Analysten der Vermögensverteilung nicht aufzustoßen, dass es in die Reichen-Listen der Hochglanz-Magazine nie jemand anderes schafft als die Besitzer oder Hauptaktionäre großer Firmen und Firmenkonglomerate. Noch nicht einmal die wahrlich nicht armen Top-Manager der Konzerne tauchen in diesen Listen auf. Ja, zu den tausend reichsten Deutschen gehört auch ein bekannter Entertainer, ein Spitzensportler und vielleicht dieser oder jener Künstler. Aber bei 99 Prozent der Namen steht nicht irgendein Beruf wie Rennfahrer, Kunstmaler oder Basketballspieler, von anderen Berufen ganz zu schweigen, sondern Lidl, BMW, Pharma, Würth und so weiter. Obwohl manche Vermögensstudien, zum Beispiel die oben zitierte Bundesbankanalyse oder die durchaus tiefschürfenden Studien des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, auch soziale Differenzierungen darstellen, werden diese im Hinblick auf die Ursachen der Vermögensschere nicht thematisiert.
Nicht selten nutzen sozialkritische Kommentatoren solche Vermögensstudien als empirische Grundlage für eine Skandalisierung der Vermögensverteilung im Namen der Gerechtigkeit. Offen bleibt die Frage, wie eine gerechte Verteilung der Vermögen unter kapitalistischen Verhältnissen denn auszusehen hätte.

So berechtigt Empörung auch ist, zumeist reicht sie nur bis zur Forderung nach einer stärkeren Besteuerung der Reichen, um die Verteilung etwas zu korrigieren. Sollen jedoch wirksamere Instrumente gegen das Auseinanderdriften der Vermögenspole gefunden werden, muss schon tiefer gebohrt werden. Die Suche nach Ursachen und Therapiemöglichkeiten der Spaltungen müssen beim Eigentum an den entscheidenden Vermögensgegenständen und der daraus erwachsenden Macht und ihrem politischen Einfluss ansetzen. Diese liegen bei denjenigen, die Verfügungs- und Aneignungsmacht über die großen Vermögen, letztlich vor allem die Produktivvermögen ausüben. Nichts wird sich grundsätzlich ändern, wenn diese Macht im Frankfurter Bankenviertel und bei den Großkonzernen nicht praktisch infrage gestellt wird. Umverteilung von Einkommen und Vermögen mittels Steuerpolitik ist unverzichtbar, aber drastischere Maßnahmen in dieser Richtung werden durch eben diese Macht verhindert oder konterkariert.

Dieser Beitragist eine Übernahme aus der soeben erschienenen neuesten Ausgabe von „Das Blättchen – Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft“. Die komplette Ausgabe kann auf der Website www.das-blaettchen.de kostenfrei eingesehen werden. Allerdings haben auch nicht-kommerzielle Projekte Kosten. Daher helfen Soli-Abos zum Bezug als PDF (hier klicken) oder in einem eBook-Format (hier klicken) dem Redaktionsteam bei der Lösung dieser Frage. Ein Beitrag  von Jürgen Leibiger

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