Teil 6 der Artikelreihe Ökosozialistische Strategien im Anthropozän
Nachdem ich in Teil 4 dieser Serie die Notwendigkeit einer revolutionären ökosozialistischen Perspektive aufgezeigt habe und in Teil 5 diese mit dem Vorschlag für eine programmatische Ausrichtung auf Übergangsforderungen und die praktische Orientierung auf Prozesse der gesellschaftlichen Aneignung konkretisiert habe, behandle ich in diesem Beitrag das Spannungsfeld von Macht, Gegenmacht und Doppelmacht.
Angesichts der Dringlichkeit der globalen ökologischen und sozialen Krise argumentiere ich dafür, die Erfahrungen und Konzepte von Doppelmacht aufzugreifen und auf die aktuellen Herausforderungen neu zu entwickeln. Ich plädiere dafür, eine Debatte über strategische Optionen des Aufbaus gesellschaftlicher Gegenmacht jenseits der Übernahme von Regierungsverantwortung in bürgerlichen Regierungen zu beginnen.
Strategische Armut und Unterordnung an die kapitalistischen Zwänge
Die Klimabewegung beschränkte sich bislang zumeist darauf, von den Regierungen wirksame Maßnahmen gegen die Erderhitzung zu verlangen. Der konkrete Widerstand gegen die Braunkohle und die entstehende Bewegung für eine Mobilitätswende gehen darüber hinaus und probieren Schritte der Selbstermächtigung aus. Linke Parteien präsentieren sich als Stellvertreterinnen, die dafür einstehen, dass in Parlamenten, oder allenfalls in Regierungen, die eine oder andere Reform zur Verbesserung der Situation beschlossen werden. Es ist offensichtlich, dass weder die politische Selbstbeschränkung von Bewegungen noch das politische Stellvertreter- und Anpassertum im professionellen Politbetrieb wirklich dazu beiträgt, die Kräfteverhältnisse substanziell so zu verschieben, dass sich Optionen auf eine Gesellschaftsveränderung eröffnen. Es gilt, eine Diskussion über die Erlangung gesellschaftlicher und politischer Macht zu beginnen. Bislang sind die Vorstellungen darüber von einer bemerkenswerten strategischen Armut geprägt.
Einerseits gibt es den beständig wiederholten Traum, über die Beteiligung an Regierungen ein sozial-ökologisches Reformprogramm realisieren zu können. Die Erfahrungen „linker Regierungen“ sind indes ernüchternd. Die SP-KP-Regierung Präsident Mitterrand 1981–84 in Frankreich, die Gauche Plurielle von SP, KP und Grünen mit Lionel Jospin als Premierminister unter Präsident Chirac 1997–2002, die Beteiligung von Rifondazione Comunista an einer links-bürgerlichen Regierung 2006–2008 in Italien, die Syriza-Regierung 2015–2019 und die gegenwärtige PSOE-Podemos-Regierung in Spanien mündeten allesamt in schreckliche Niederlagen, teilweise sogar der langanhaltenden Fragmentierung und Marginalisierung sozialistischer und antikapitalistischer Kräfte. Die Regierung aus SPD und Grünen unter Schröder und Fischer 1998–2005 setzte in Deutschland die umfassendsten Begünstigungen für das Finanzkapital sowie Einschnitte zur Liberalisierung der Arbeitsmärkte, zur Senkung des Lohnniveaus seit dem Zweiten Weltkrieg, durch. Die Führung der Partei DIE LINKE setzt diesen illusionären Traum unbeirrt fort.
Marxistische Intellektuelle wollen gar an der Tradition des sogenannten Euro-Kommunismus der 1970er Jahre mit seiner Orientierung auf Reformregierungen, die sich auf breite antimonopolitische Bündnisse hätten stützen sollen, anknüpfen. Sie begründen dies reichlich abgehoben und realitätsfern mit der Staatstheorie von Nicos Poulantzas, der für eine langfristig angelegte und kontinuierliche Transformation des Staates durch eine immer stärkere Beteiligung der Volksmassen argumentierte. Eine durch ein breites antimonopolistisches Bündnis getragene Regierung würde den Staat langsam transformieren und dabei mit Zugeständnissen an die kapitalistischen Klassen dafür sorgen, dass sich diese dem Prozess nicht frontal entgegenstellten. Diese Strategie überschätzte bereits in den 1970er Jahren die Möglichkeiten der Transformation des bürgerlichen Staates und die „Verhandlungsbereitschaft“ der kapitalistischen Klassen. Doch angesichts der gegenwärtigen Widersprüche und ökologischen Dringlichkeit, mutet dieser Ansatz reichlich weltfremd an.
Die gegenwärtige Situation unterscheidet sich komplett von jener Zeit. Wer sprach damals von der Erderhitzung, der Globalisierung des Finanzkapitals, globalen Wertschöpfungsketten und der langanhaltenden Abschwächung des Produktivitätswachstums? Poulantzas entwickelte seine Ideen am Ende der „glorreichen“ Phase des Kapitalismus. Die wirtschaftlichen und politischen Spielräume schienen ungleich größer als heute zu sein. Doch es war genau die Wachstumsphase und die große Beschleunigung nach dem Zweiten Weltkrieg, die die Weltgesellschaft an und über die planetaren ökologischen Grenzen hinaustrieb.
Angesichts der dringenden Notwendigkeit eines kompletten ökologischen Umbaus der Wirtschaft wirkt Poulantzas‘ damaliges Argument für die Unterordnung unter die Kapitalinteressen heute reichlich grotesk: „Auch wenn die Transformation des ökonomischen Apparats notwendig scheint, um dieser Sabotage wirksam zuvorzukommen und ihr entgegenzutreten, muss man wissen, dass sie ein Balanceakt ist. Zu keinem Zeitpunkt sollte diese Transformation zu einem effektiven Abbau des ökonomischen Apparats fuhren, der ihn paralysiert. Die Chancen für einen Boykott von Seiten der Bourgeoisie würden damit steigen.“[1]
Es geht mir hier weniger um eine Kritik an Poulantzas, sondern um eine Kritik derjenigen, die seine Ideen in der heutigen Zeit wieder auftischen, obwohl sich die ökologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen komplett von jenen der1970er Jahre unterscheiden. Die beispielsweise in der Linkspartei und unter kritischen Intellektuellen gegenwärtig weitverbreitete Vorstellung einer schrittweisen, linearen gesellschaftlichen Transformation entbehrt jeder materiellen Grundlage. Ein Zurück zum sozial abgefederten Kapitalismus ist unmöglich, und zwar sowohl in der „links-konservativen“ Vorstellung einer Sahra Wagenknecht als auch in der Variante eines sozial-ökologischen Politikwechsels der Parteiführung der LINKEN oder den intellektuellen Diskursen einer sozial-ökologischen Transformation. Eine sozial-ökologische Transformation beispielsweise in der Form eines linken Green New Deals ist ökonomisch inkonsistent und muss weiterhin den Profiterwartungen der Unternehmen entgegenkommen, beruht weiterhin auf einer imperialistischen internationalen Arbeitsteilung und ist weit entfernt von den ökologischen Erfordernissen, was ich anderswo ausführlicher erläutert habe.[2]
Neben diesen illusionären Träumereien verharren radikale Linke unterschiedlicher theoretischer und politischer Orientierung in abstrakten Vorstellungen einer sozialistischen Revolution, in der Erinnerung an die „Lehren der großen Oktoberrevolution“ oder in ebenso abstrakten Bekundungen für eine Gesellschaftsveränderung ohne Machteroberung. Diese theoretische Sklerose wird in der Alltagspolitik übertüncht, weil sich die Referenz an abstrakte Glaubensbekenntnisse problemlos mit kleinteiligem und minimalistischem Pragmatismus und Opportunismus kombinieren lässt.
Doch viele Aktivist:innen sozialer Bewegungen und Mitglieder von Gewerkschaften schlagen schlicht einen weiten Bogen um die Machtfrage und delegieren somit die Verantwortung zur Veränderung an die bestehende Macht mitsamt ihrer Regierungen. Diese Flucht vor der Herausforderung ist verhängnisvoll und trägt zur gesellschaftlichen Schwäche antikapitalistischer Positionen bei.
Die Dringlichkeit eines sozialen und ökologischen Umbaus der Wirtschaft, die gesellschaftlichen Krisen und die anhaltende politische Orientierungslosigkeit gebieten es, dass sich Ökosozialist:innen mit der Machtfrage auseinandersetzen. Es gilt, eine Debatte über strategische Hypothesen zu eröffnen. Ich argumentiere, dass die strategische Hypothese, die auf die Entwicklung von Doppelmachtsituationen setzt, mit neuem Leben zu füllen ist. Die Orientierung kritischer Intellektueller an Poulantzas, der den Aufbau von Gegenmacht, die zur Doppelmacht reift, explizit ablehnte, hat nicht dazu beigetragen, die erforderliche strategische Debatte zu beleben.
Eine ähnliche Kritik gilt den Fürsprecher:innen des radikalen Reformismus wie André Brie und Mario Candeias.[3] Mit dem Begriff der „revolutionären Realpolitik“ von Rosa Luxemburg aus dem Jahre 1903 skizzieren sie eine Transformationsperspektive, die sich auf die Eroberung von Bastionen im Staat durch eine breite sogenannte Mosaiklinke ausrichtet. Brie kennzeichnet ausgesprochen unterschiedliche Erfahrungen der Linken in den letzten 100 Jahren mit „revolutionärer Realpolitik“. Schließlich fehlt aber die Brücke zur Perspektive des Bruchs. Rosa Luxemburg verwendete den Begriff der „revolutionären Realpolitik“ jedoch anders.[4] Sie verband die erforderlichen Strukturreformen mit der Notwendigkeit des revolutionären Bruchs mit dem Staat und setzte hierbei explizit auf den Aufbau von Gegenmachtstrukturen. Zugleich gab sie dem Begriff „Realpolitik“ auch die fragwürdige Bedeutung einer „realen“ Entwicklung im Sinne einer „geschichtlichen Entwicklungstendenz“. Mit der späteren Gegenüberstellung der Alternative Sozialismus oder Barbarei überwand sie dieses deterministische Geschichtsverständnis.[5]
Strategische Hypothese: von der Gegenmacht zur Doppelmacht
David McNally hat kürzlich in einem spannenden Artikel in der US-Zeitschrift Spectre für die Aktualität der revolutionären Strategie des Bruchs und der Doppelmacht argumentiert.[6] Die ökologischen Zwänge, die der Autor nicht anspricht, machen seine Überlegungen noch brisanter. Gareth Dale, Amanda Price Armstrong, Lucí Cavallero und Adam Hanieh haben den Impuls aufgegriffen und skizzierten ihre Sicht über die gegenwärtige Bedeutung von Revolution.[7]
Bereits zuvor haben Kai Heron und Jodi Dean sich für die Option einer ökokommunistischen Revolution ausgesprochen und dabei auch Lenins Verständnis von gezielter und organisierter Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse, beispielsweise in seinem kompromisslosen Widerstand gegen den Ersten Weltkrieg, aufgegriffen.[8] Gus Woody bietet einen guten Überblick über diese beginnende Diskussion, die im deutschen Sprachraum bislang keinen Widerhall gefunden hat.
Selbstverständlich spielt es eine Rolle, welche Parteien an den Regierungen sind. Wie Regierungen zusammengesetzt sind, ist Ausdruck der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Es ist wichtig, dass Organisationen mit einem ökosozialistischen Programm in den Parlamenten stark vertreten sind. Eine Beteiligung an sozial- und grünliberalen Modernisierungsregierungen wäre jedoch das Ende jeglichen Anspruchs auf eine Überwindung kapitalistischer Verhältnisse. Es geht darum, die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse so grundlegend zu verändern, dass sich Maßnahmen durchsetzen lassen, die die Treibhausgasemission in wenigen Jahren weitgehend auf null reduzieren.
Erforderlich ist eine Strategie, die auf den Aufbau gesellschaftlicher Gegenmacht abzielt. Dabei ist entscheidend, dass die Klimabewegung, soziale Bewegungen und ökologisch bewusste und betrieblich kämpferische Gewerkschaftler:innen sich gesellschaftlich verankern und Strukturen in Stadtteilen, an Bildungseinrichtungen und in den Betrieben aufbauen. Die Lohnabhängigen in den Betrieben, die Menschen am Wohnort, am Ausbildungsort und in Bewegungen müssen selbst aktiv werden, Erfahrungen machen und gemeinsam lernen.
Derartige Strukturen der gesellschaftlichen Gegenmacht knüpfen an den Erfahrungen von Arbeiter:innenkontrolle an, die kämpferische Arbeiter:innenbewegungen in besonderen Konstellationen einst machten. Verallgemeinern sich derartige Prozesse und gewinnen die Organe der Gegenmacht umfassende gesellschaftliche Legitimität, können Situationen der Doppelmacht entstehen. Ob es dann den Kräften einer ökosozialistischen Umgestaltung gelingt, sich durchzusetzen, hängt von ihrer Organisation und dem internationalen Kräfteverhältnis ab.[9] Eine Strategie der Gegenmacht macht nur in einer Perspektive auf Doppelmacht und letztlich ihrer Entscheidung Sinn.
Allerdings ist es unmöglich und unsinnig, das Szenario auf dem Weg zur Doppelmacht und schließlich zur Macht modellmäßig zu bestimmen. Zwar gibt es historische Erfahrungen revolutionärer Prozesse, von denen weiterhin zu lernen ist, jedoch gibt es keine historischen Vorbilder für die gegenwärtige Situation. Bereits die Erfahrungen der Pariser Kommune 1871, der russischen Revolution 1917, der abgewürgten deutschen Revolution 1918 und 1923, der spanischen Revolution besonders in Katalonien 1936, der Aufstände in Ungarn 1956 und in der Tschechoslowakei 1968, der Organisierung von Gegenmachtstrukturen in Frankreich 1968, der ansatzweise revolutionären Prozesse in Portugal 1974, der beginnenden Doppelmacht in Polen 1981 (um nur einige Beispiele in Europa zu nennen) zeigen, wie unterschiedlich die Konstellationen sein können.
Viele unterschiedliche Szenarien sind denkbar. Die historischen Bedingungen und die Dynamik der Kräfteverhältnisse unterscheiden sich von Land zu Land. Doch die Auseinandersetzung über den industriellen Umbau vollzieht sich auf internationaler Ebene und die politischen Kräfteverhältnisse in einzelnen Ländern verändern sich miteinander verwoben.
Nehmen wir beispielsweise an, in einem wichtigen Land in Europa würde, gestützt auf eine enorme Mobilisierung der Lohnabhängigen in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, eine Regierung mit einem radikalen sozial-ökologischen Reformprogramm gewählt. Das wäre eine komplett andere Regierung als eine SPD-Grüne-LINKE-Koalition, eine PSOE-Unidos-Podemos-Regierung oder ein Präsident Mélenchon. Eine solche Regierung entspräche eher den kurzzeitigen „Arbeiterregierungen“ in Sachsen und Thüringen 1923. Diese Regierung könnte auf der Basis eines vorteilhaften Kräfteverhältnisses radikale Strukturreformen einleiten. Sie stünde – im Gegensatz zu den bremsenden Empfehlungen von Poulantzas – vor der Herausforderung, entscheidend in die Produktionsabläufe der Schlüsselindustrien einzugreifen und die Konzerne der demokratischen Kontrolle der Gesellschaft zu übergeben. Das wäre bereits ein revolutionärer Akt.
Ob sich eine derartige Regierung halten kann, hängt stark von der internationalen Konstellation ab. Denn ohne offene Konfrontation mit der EU ließe sich eine konsequente sozial-ökologische Reformpolitik nicht umsetzen. Bei Kapitalflucht und Erpressung durch die Banken blieben einer solchen Regierung kaum mehr Handlungsspielräume. Sie wäre gezwungen, den Konflikt mit dem Kapital und seinen Vertreter:innen auszutragen. Das könnte aber schon bald dazu führen, dass sie vor der Alternative stünde, entweder eine Dynamik des Bruchs einzuleiten oder sich dem Druck des internationalen Kapitals unterzuordnen.[10]
Doch es sind auch andere Szenarien entstehender Doppelmacht vorstellbar. Beispielsweise könnten Gegenmachtstrukturen in Rivalität und Gegnerschaft zu einer bürgerlichen, allenfalls autoritären Regierung stehen und stünden vor der Herausforderung, sich gegen Repression und Zerschlagung zur Wehr zu setzen. Auch eine geographische Doppelmacht ist denkbar. Beispielsweise wenn sich in einigen Regionen eines Landes Selbstverwaltungsstrukturen etabliert haben und vor der Herausforderung stehen, die sozial-ökologischen Umbaumaßnahmen in der Wirtschaft energisch im ganzen Land umzusetzen. Sektorale Formen der Doppelmacht könnten entstehen, wenn die Beschäftigten in einigen Wirtschaftssektoren begonnen haben, den industriellen Umbau selbstorganisiert in die Hand zu nehmen, sich in anderen Sektoren die fossile Pfadabhängigkeit aber noch nicht aufbrechen ließ. Zudem ist eine historisch völlig neue Situation in Betracht zu ziehen: In verschiedenen Ländern entstehen mehr oder weniger zeitgleich auf der Grundlage massiver Mobilisierungen und ausgedehnter Prozesse der Selbstermächtigung regional oder sektoral beschränkte Doppelmachtsituationen, die allerdings die Konzern- und Staatsmacht nur teilweise in Frage zu stellen vermögen. Daraus ergäbe sich die Herausforderung, die revolutionäre Entscheidung auf kontinentaler oder transnationaler Ebene zu suchen. Bei all diesen Konstellationen sind das internationale Kräfteverhältnis sowie die Mobilisierungen anderswo auf der Welt, nicht zuletzt in den postkolonialen Ländern zu beachten.
Aufbau gesellschaftlicher Gegenmacht ist entscheidend
Unabhängig von der konkreten Gegenmacht-Doppelmacht-Dynamik ist ein Bruch aber nur möglich, wenn die Lohnabhängigen und sozialen Bewegungen ihre eigenen Strukturen der gesellschaftlichen Kontrolle, also eigene Räteorgane, so stark entwickelt haben, dass diese bereits eine größere gesellschaftliche Legitimität genießen als der Staatsapparat. Eine Lehre der bisherigen Ansätze von Arbeiter:innenkontrolle und Rätebewegungen ist, dass die neuen Strukturen der gesellschaftlichen Kontrolle schon bald mit den alten Staatsorganen um Anerkennung und Durchsetzungsmacht ringen. Die Repräsentanten der alten Ordnung haben bislang ihre Positionen nie freiwillig geräumt. Erlangen die neuen Räte-, Selbstverwaltungs- und Koordinationsorgane eine gesamtgesellschaftliche Durchsetzungsmacht, entsteht eine Situation der Doppelmacht. In einer solch instabilen Situation besteht die Möglichkeit, dass die Räteorgane einen Schritt weitergehen und schließlich die dringend erforderlichen sozial-ökologischen Strukturreformen durchsetzen, die mit der gesellschaftlichen Aneignung wichtiger Schlüsselindustrien, des Energiesektors und des Finanzsektors einhergehen. Derartige Konstellationen können kaum langfristig bestehen Die neuen Organe stehen also vor der Herausforderung, ihre Macht zu behaupten, letztlich durchzusetzen und damit die alten staatlichen und nicht staatlichen Instanzen zu entmachten. Dazu zählt auch die Auflösung von Armeen, Repressionsorganen und Geheimdiensten.
Welche Regierungskonstellationen sich auch immer ergeben, erforderlich und entscheidend ist immer eine Strategie, die auf den Aufbau gesellschaftlicher Gegenmacht zielt. Vordinglich ist, dass sich die Klimabewegung, soziale Bewegungen und ökologisch bewusste und betrieblich kämpferische Gewerkschaftler:innen gesellschaftlich verankern und Strukturen in Stadtteilen, an Bildungseinrichtungen und in den Betrieben aufbauen. Auf dieser Grundlage kann das Kräfteverhältnis so verändert werden, dass sich konkrete Umbaumaßnahmen durchsetzen lassen.
Die Erfahrungen vieler Bewegungen zeigen, dass die Herrschenden und der Staatsapparat versuchen, die Bewegungen und alternative Strukturen durch Einschüchterung und Repression zu schwächen oder mit offener Gewalt gar zu zerstören. Auf die Frage, wie sich Bewegungen dagegen schützen können, gibt es keine allgemein gültige Antwort und es hängt stark von den konkreten Bedingungen und Kräfteverhältnissen ab. Die Gewalt lässt sich vermeiden oder minimieren, wenn es den demokratischen Rätestrukturen gelingt, sich entschlossen aufzubauen und eine umfassende gesellschaftliche Legitimität zu erlangen.[11]
Eine zentrale Frage bei diesen Überlegungen ist, ob sich eine solche Machtprobe überhaupt auf nationaler Ebene einleiten lässt. Aufgrund der engen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verflechtungen in Europa mit räumlich und organisatorisch zergliederten Produktions- und Innovationssystemen und der ökologischen Dringlichkeit, den industriellen Umbau transnational voranzutreiben, ist dieses umfassende Kräftemessen vorwiegend auf transnationaler Ebene einzugehen. Die Konflikte haben eine internationale Dynamik und die Kräfteverhältnisse konstituieren sich ebenfalls auf internationaler Ebene. Aufgrund der Dringlichkeit, großräumig koordiniert, also transnational, kontinental und in globaler Koordination rasch die Treibhausgasemissionen zu senken, sind auch Konstellationen denkbar, in denen sich in mehreren Ländern die Kräfteverhältnisse gleichzeitig substanziell verändern. Überhaupt stehen ökosozialistische Kräfte vor der Aufgabe, ihre strategischen Projekte gemeinsam mindestens auf kontinentaler Ebene voranzutreiben.
Das hieße aber, dass die Strukturen der Arbeiter:innenkontrolle, der breiteren gesellschaftlichen Kontrolle und die alternativen Räteorgane sich zwar lokal und regional formieren und national zusammenschließen, aber zugleich auf transnationaler Ebene koordinieren. Es geht darum, auf allen Maßstabsebenen zu handeln, um das Kräfteverhältnis substanziell zu verschieben“ und Kraftproben zur Eroberung politischer Macht einzugehen. Offensichtlich ist, dass sich ein ökosozialistischer Umbruch in einem oder in mehreren Ländern bei einer Zuspitzung der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen umgehend internationalisieren muss, um Erfolg zu haben. Deshalb vermitteln die Vorstellungen einer Rückkehr zum traditionellen bürokratischen Sozialstaat oder eines New Green Deals unter der vermeintlich neutralen Vermittlung des bestehenden Staates keine Perspektive, die in der Lage wäre, eine gerechte und ökologische nachhaltige Transition einzuleiten.
Es bleibt herauszufinden, wie die gewählten Räte- und Selbstverwaltungsstrukturen durch bewusste und zentralisierte Aktion die Macht übernehmen können und inwiefern damit die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, die Macht des Kapitals zu brechen sowie den bürgerlichen Staat zurückzudrängen und durch neue Formen der Staatlichkeit und der in Räten organisierten gesellschaftlichen Selbstverwaltung zu ersetzen. Ökosozialistische Organisationen, die in der Lage sind, historische Erfahrungen zu verarbeiten sowie von den unterschiedlichen Bewegungen der Welt zu lernen, und demokratisch funktionieren, können bei diesen Klärungsprozessen eine entscheidende Rolle einnehmen. Die demokratisch legitimierten und verallgemeinerten Selbstverwaltungsstrukturen organisieren schließlich den Umbau der ökologischen Produktion und treiben gleichzeitig die praktische Umwälzung der sozialen Verhältnisse, der Wertvorstellungen, der Produktionsweisen und Konsumstile sowie der Geschlechter- und Naturverhältnisse im Sinne eines umfassenden gesellschaftlichen Emanzipationsprozesses voran. Der dringend erforderliche ökologische Umbau der Produktion und Reproduktion sowie die Durchsetzung der ebenso dringend gebotenen Umverteilung des erarbeiteten Reichtums verlangen die Einleitung eines revolutionären Prozesses.
Der notwendige Rückbau und die Konversion von Industrien erfordern Planung. Nur mit gesellschaftlicher Planung lässt sich dieser umfangreiche Prozess so gestalten, dass er nicht mit großer Arbeitslosigkeit, einer Marginalisierung großer Teile der Bevölkerung und umfassender Armut einhergeht. Auch die gesellschaftliche Aneignung der strategischen Wirtschaftssektoren macht nur in Verbindung mit demokratischer Planung wirklich Sinn. Denn wenn die sozialisierten Betriebe nicht wie private Unternehmen in Konkurrenz zueinander gestellt werden, muss es einen Allokationsmechanismus geben, der über den Markt hinausweist.
Unter gesellschaftlicher Planung verstehe ich einen offenen Prozess und eine öffentliche Auseinandersetzung über mögliche erwünschte Zustände und die Maßnahmen, die zu treffen sind, um diese Ziele zu erreichen. Dieser Prozess erfordert, dass die Beschäftigten und Bürger:innen in demokratisch legitimierten Strukturen alternative Szenarios und Optionen ausarbeiten und in gesellschaftlichen Debatten einander gegenüberstellen. Sie müssen die Prozesse selbst aktiv gestalten und beschließen. Diese alternativen Optionen sind in demokratischen Entscheidungsprozessen zu bestimmen. Hierfür braucht es allerdings die geeigneten Räteinstitutionen.[12]
Parallel zur hier vorgeschlagenen Debatte über Übergangsstrategien benötigt es auch eine Neubewertung der Erfahrungen mit Wirtschaftsplanung. Ich verweise hier auf die von Philip Broistedt und Christian Hofmann in der Zeitschrift ak – analyse&kritik eröffnete und vorläufig bilanzierte Debatte, zu der ich auch einen Beitrag über die kapitalistische Planung beisteuerte.[13]
In Teil 7 der Reihe Ökosozialistische Strategien im Anthropozän wird der Autor einige praktische Konsequenzen in Bezug auf die Organisierung von Ökosozialist:innen in Bewegungen und Parteien erörtern.
Quellen und Anmerkungen
[1] Poulantzas 2002: 30; 1978: 198
[2] Zeller 2021a, 2021b
[3] Brie 2019; Candeias 2019
[4] Luxemburg 1903: 373
[5] Luxemburg 1916, vergleiche hierzu auch die erhellenden Ausführungen von Löwy (2020: 10-21) und die Kritik von Bierl (2020: 83-96) an der irreführenden Verwendung des Begriffs „revolutionäre Realpolitik“.
[6] McNally 2021, auf Deutsch hier: Was bedeutet Revolution heute https://sozialismus.ch/theorie/2021/was-bedeutet-revolution-heute/
[7] Dale, et al. 2021
[8] Heron und Dean 2020
[9] Siehe hierzu auch meine Ausführungen in Revolution für das Klima. Warum wir eine ökosozialistische Alternative brauchen (Zeller 2020a: 201-202).
[10] Dieser und einige der nachfolgenden Absätze übernehme ich wörtlich oder sinngemäß, teilweise ergänzt und erneuert, aus „Revolution für das Klima. Warum wir eine ökosozialistische Alternative brauchen“ (Zeller 2020a: 201-202).
[11] vgl. Wallis 2018: 31
[12] Zeller 2020a: 210ff
[13] Broistedt und Hofmann 2020, 2021; Zeller 2020b
Literatur
Bierl, Peter (2020): Die Revolution ist großartig. Was Luxemburg uns heute noch zu sagen hat. Münster: Unrast Verlag.
Brie, Michael (2019): Revolutionäre Realpolitik I. Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis. (Januar 2019). https://www.zeitschrift-luxemburg.de/abc-revolutionaere-realpolitik/ Zugriff 2. November 2019
Broistedt, Philip und Hofmann, Christian (2020): Mit Plan gegen die Klimakrise. analyse&kritik (658) 17. März 2020. https://www.akweb.de/bewegung/mit-plan-gegen-die-klimakrise/
Broistedt, Philip und Hofmann, Christian (2021): Ökosozialismus oder Barbarei. analyse&kritik (674) 21. September 2021, S. 22-23. https://www.akweb.de/bewegung/oekosozialismus-oder-barbarei/
Candeias, Mario (2019): Revolutionäre Realpolitik II. Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis. (Januar 2019). https://www.zeitschrift-luxemburg.de/abc-revolutionaere-realpolitik/. Zugriff 2. November 2019
Dale, Gareth; Armstrong Price, Amanda; Cavallero, Lucí und Hanieh, Adam (2021): What is the Meaning of Revolution Today? Spectre July 30, 2021. https://spectrejournal.com/what-is-the-meaning-of-revolution-today-2/
Heron, Kai und Dean, Jodi (2020): Revolution or Ruin. e-flux (110). https://www.e-flux.com/journal/110/335242/revolution-or-ruin/
Löwy, Michael (2020): Rosa Luxemburg: Der zündende Funke der Revolution. Hamburg: VSA Verlag, 144 S.
Luxemburg, Rosa (1903): Karl Marx. Gesammelte Werke 1,2. Berlin: Dietz Verlag. S. 369-377.
Luxemburg, Rosa (1916): Die Krise der Sozialdemokratie. Gesammelte Werke (Band 4). Berlin: Dietz Verlag (1979). Originalpublikation: verfasst 1915 im Gefängnis, ursprünglich publiziert durch Verlagsdruckerei Union, Zürich.
McNally, David (2021): What Is the Meaning of Revolution Today? Beyond the New Reformism. Spectre, June 16, 2021. https://spectrejournal.com/what-is-the-meaning-of-revolution-today Zugriff: July 19, 2021.
Poulantzas, Nicos (1978): State, Power, Socialism. 2014. London: Verso.
Poulantzas, Nicos (2002): Staatstheorie – Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus. Hamburg: VSA Verlag, 296 S. Originalpublikation: Erstausgabe VSA-Verlag 1978.
Wallis, Victor (2018): Red-Green Revolution. The Politics and Technology of Ecosocialism. Toronto, Chicago: Political Animal Press, 212 S.
Zeller, Christian (2020a): Revolution für das Klima. Warum wir eine ökosozialistische Alternative brauchen. München: Oekom Verlag, 248 S.
Zeller, Christian (2020b): Den industriellen Um- und Rückbau planen. Wie lässt sich von kapitalistischer Planung lernen? Analyse & Kritik (664), 20. Oktober, S. 31.