Der nachfolgende Text knüpft an den Artikel „Krise der Autoindustrie: Zeit für Spurwechsel“ an. Thema des nachfolgenden Artikels ist, wie eine ökologische Alternative in der Verkehrspolitik aussehen könnte und dass daraus auch eine Wende in der Industriepolitik folgen muss: Es braucht einen Umbau im Produktionssektor: Deutlich weniger Pkws, dafür viel mehr Bahnen, Bahninfrastruktur, Busse und Fahrräder.
Notwendig ist ein Mobilitätskonzept, das nicht auf den Individualverkehr mit dem Auto setzt, sondern auf den Ausbau eines effizienten und gut vernetzten öffentlichen Verkehrssystems. Grundsätzlich gilt für alle Maßnahmen des ökosozialen Umbaus: Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit sind keine Gegensätze. Sie gehören untrennbar zusammen.
Mobilitäts- statt Antriebswende
Wir brauchen eine konsequente Verkehrswende, mit der wir Klimaschutz und saubere Luft, weniger Lärm, weniger Staus, mehr Verkehrssicherheit und Lebensqualität erreichen. Eine Mobilitätswende wird nicht nur den Ressourcenverbrauch drastisch senken, sondern auch das Verkehrsaufkommen in den Städten und damit die Umweltbelastungen dort deutlich reduzieren. Wir brauchen lebenswerte Städte und Dörfer, in denen die Straßen Lebensraum und nicht Verkehrs- und Parkfläche für Autos sind. Städte und Dörfer müssen besser vernetzt und lebenswerter werden. Die Anbindung der Städte an das Umland muss deutlich verbessert werden. Diese Verkehrswende wird nur möglich sein, wenn die Verkehrsplanung über Stadt- und Landkreisgrenzen hinweg entwickelt wird, um Ballungsräume und ihr Umland mit attraktiven Verbindungen und ausreichenden Kapazitäten mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu verbinden.
Das Streckennetz der Deutschen Bahn muss flächendeckend so ausgebaut werden, dass alle Ziele bequem mit der Bahn erreichbar sind. Stillgelegte Strecken müssen wieder in Betrieb genommen und der Elektrifizierungsgrad des Netzes schnellstmöglich von derzeit 52 auf 100 Prozent erhöht werden. Die marode Schieneninfrastruktur muss modernisiert werden. Stellwerke müssen modernisiert und Tausende neue Weichen eingebaut werden, damit der Verkehr fließen kann. Neben Schienen und Fahrzeugen brauchen wir mehr Arbeitsplätze, gute Löhne und gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten. Wir wollen keine teuren Rennstrecken und Prestigeprojekte, mit denen die Bahn zurzeit Milliarden verpulvert.
Der ÖPNV wird täglich von 24 Millionen Menschen genutzt und ist ein wichtiger Bestandteil der Daseinsvorsorge. Busse und Bahnen bieten die Chance, die seit 1990 nicht gesunkenen verkehrsbedingten CO2-Emissionen deutlich zu reduzieren und damit einen Beitrag zur Erreichung der Klimaziele im Verkehr zu leisten. Dazu sollte auch das Angebot in diesem Zeitraum verdoppelt werden, wobei der Fokus auf kurzen Wartezeiten, schnellen und verlässlichen Anschlüssen sowie der Abstimmung des regionalen und kommunalen ÖPNV auf den nun geplanten Deutschlandtakt im Schienenfernverkehr liegen muss. Für die konkrete Ausgestaltung gibt es inzwischen viele gute Ideen aus der Mobilitätsbewegung. Ihre Umsetzung scheitert in der Regel daran, dass Bund, Länder und Kommunen nicht die notwendigen Finanzmittel zur Verfügung stellen. Der Blick nach Frankreich zeigt, wie das gehen kann. Dort wurde durch die Einführung einer Nahverkehrssteuer,1 die ausschließlich Betriebe zahlen, der finanzielle Spielraum geschaffen, der in vielen großen Städten die Wiedereinführung von Straßenbahnen ermöglicht und eine deutliche Absenkung der Fahrpreise im ÖPNV ermöglichte.
Im Regionalverkehr muss das 49-Euro-Ticket deutlich günstiger angeboten werden (maximal 29 Euro). Im Fernverkehr müssen die Preise deutlich sinken. Es kann nicht sein, dass das Zugticket von Stuttgart nach Berlin teurer ist als das Flugticket. Mit ökologisch schädlichen Subventionen muss Schluss sein: Kerosin- und Mehrwertsteuer im (internationalen) Flugverkehr einführen; Luftverkehrssteuer deutlicher erhöhen und Fehlanreize durch gleiche Besteuerung aller Flüge beseitigen; ermäßigte Dieselsteuer abschaffen und Diesel und Benzin stetig und moderat erhöhen, um Effizienzsteigerungen auszugleichen, damit Autofahren nicht billiger wird.
Umbau des Mobilitätssektors: Gut für die Beschäftigten
Inzwischen gibt es eine Reihe von Studien, die belegen, dass für den ökologischen Umbau des Verkehrssystems sehr viele Arbeitsplätze benötigt werden – und zwar Industriearbeitsplätze. Wir brauchen dafür viel mehr Busse, Straßenbahnen, Züge im Regional- und Fernverkehr, neue Leitsysteme, E-Bus-Systeme mit Oberleitungen, Nutzfahrzeuge von der Feuerwehr bis zum Krankenwagen. All das muss produziert werden. Mario Candeias hat dazu in dem von ihm zusammen mit Stefan Krull herausgegebenen Buch „Spurwechsel“ einen sehr lesenswerten Text geschrieben.2 Candeias geht dabei von zwei Szenarien aus. Szenario 1: Verdopplung der Fahrgastzahlen im ÖPNV und im Bahnverkehr sowie im Fahrradverkehr. Das würde bis zu 214.000 zusätzliche Arbeitsplätze erbringen. Szenario 2: Steigerung der Fahrgastzahlen um den Faktor 2,5. Das würde bis zu 314.000 zusätzliche Arbeitsplätze bringen. Dieser hohe Mehrbedarf hängt damit zusammen. dass die Wertschöpfungstiefe in der Bahn- und Busindustrie deutlich höher ist als in der Automobilproduktion. Die Produktion von Bussen und Bahnen hat häufig „Manufakturcharakter“.
Eine Verkehrs- und Mobilitätswende bietet also auch konkrete Perspektiven für die Beschäftigten in der Bahnindustrie. Menschen, deren Arbeitsplätze in der Automobilindustrie im Zuge einer Mobilitätswende ersetzt würden, können daher auf hochqualifizierte Arbeitsplätze hoffen. Die teilweise noch aktiven Lokomotiv- und Waggonbaubetriebe in Bautzen, Dessau, Görlitz oder Halle könnten gesichert, die Kapazitäten in Berlin, Chemnitz, Henningsdorf, Mannheim, München, Salzgitter und Stendal ausgebaut werden. Die Beschäftigten der Bahnindustrie würden sich über eine Aufwertung und Anerkennung ihrer Arbeit freuen. Merkwürdigerweise ist das in der „offiziellen“ Gewerkschaftsdiskussion überhaupt kein Thema. Dabei hat der zu schaffende Mobilitätssektor das Zeug zum Leitsektor für Innovationen.
Industriepolitik statt Marktwahnsinn
Die Ampelpolitik wird den historischen Aufgaben nicht gerecht. Schlimmer noch: Der Markt regelt nichts. Er verschärft viele der bestehenden Probleme. Wenn überhaupt etwas gehen soll, dann nur durch massive staatliche Interventionen, die stark in den Markt eingreifen. Für den notwendigen umfassenden Umbau der industriellen Strukturen und der Infrastruktur in diesem Land brauchen wir ein Investitionsprogramm von historischen Dimensionen. Das haben in gewisser Weise selbst die bürgerlichen Wirtschaftsinstitute erkannt. Allerdings geht es ihnen in erster Linie um Wettbewerbsfähigkeit, allenfalls in zweiter Linie um ökologische Belange und an letzter Stelle um gut bezahlte Arbeitsplätze für die Beschäftigten.
Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung und das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW)3 fordern: Der deutsche Staat muss im kommenden Jahrzehnt jährlich rund 60 Milliarden Euro zusätzlich investieren, um das Land mit Blick auf Klimawandel, Energie- und Verkehrswende, demografischen Wandel und Digitalisierung zukunftsfähig zu machen. Mit insgesamt rund 600 Milliarden Euro könnten bis Mitte der 2030er Jahre dringend notwendige Fortschritte bei der Qualität der Bildungsinfrastruktur, der Energie- und Verkehrsnetze, des öffentlichen Verkehrs sowie bei der Dekarbonisierung des Landes erzielt werden.“ Laut IW und IMK sind allein rund 177 Milliarden Euro nötig, um den Sanierungsstau bei Städten und Gemeinden aufzulösen. 200 Milliarden Euro veranschlagen die Wissenschaftler*innen für öffentliche Investitionen in den Klimaschutz. Größter Einzelposten dabei sei die energetische Gebäudesanierung. Weitere wichtige Aufgaben seien der Netzausbau für Strom, Wasserstoff und Wärme, die Erzeugung und das Speichern von erneuerbaren Energien sowie die Förderung von Energieeffizienz. Weitere 127 Milliarden Euro sind laut den Instituten für die Modernisierung der Verkehrswege und des öffentlichen Nahverkehrs nötig. Allein auf das Schienennetz müssten mit knapp 60 Milliarden Euro der Großteil dieser 127 Milliarden Euro fallen. Für Bildungsinfrastruktur veranschlagen die Ökonomen 42 Milliarden Euro, etwa für den Ausbau von Ganztagsschulen oder die Sanierung der Hochschulen. Zusätzlich knapp 37 Milliarden Euro müssten demnach in den sozialen Wohnungsbau fließen.
Es ist davon auszugehen, dass die Studie von IMK und IW die notwendigen Investitionskosten eher unterschätzt. Allein für die Schieneninfrastruktur, den Schienenfahrzeugbau, den Bau intelligenter Busse, den Ausbau und Betrieb des ÖPNV in Stadt und Land dürften 200 Milliarden Euro erforderlich sein. Wichtige Bereiche wie die Sanierung des durch neoliberale Kürzungen schwer geschädigten Gesundheitssystems oder Investitionen in den klimaneutralen Umbau der Industrie sind in der Studie indes noch gar nicht berücksichtigt.
Wir gehen davon aus, dass wir für den zu schaffenden Infrastrukturfonds eher eine Billion Euro veranschlagen müssen. Das Geld darf nicht einfach in die Taschen der Konzerne fließen, sondern muss an Bedingungen geknüpft werden: betriebliche und gesellschaftliche Mitbestimmung, hohe ökologische Standards, Arbeitszeitverkürzung, Tarifbindung und Beschäftigungssicherung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir gehen selbstredend auch davon aus, dass sich Manager und Kapitaleigner mit Händen und Füßen gegen solche Regelungen wehren werden. Im Falle einer Weigerung sollte das Mittel der Enteignung dieser Konzerne und ihre Überführung in öffentliches Eigentum eingesetzt werden. Ohne starken Druck aus der Bevölkerung wird es kein nennenswertes Investitionsprogramm geben. Ohne Vergesellschaftung werden alle Lenkungsversuche wirkungslos bleiben.
Eigentlich wäre es Aufgabe der zuständigen Gewerkschaft, der IG Metall, ein solches Programm des sozial-ökologischen Umbaus im Rahmen einer aktiven Industriepolitik zu entwickeln. Bescheidene Ansätze dazu gibt es seitens der IG Metall. Zu Beginn des Jahres 2024 erschien ein gemeinsames Positionspapier von ADFC, Allianz pro Schiene, Eisenbahn, und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und IG Metall. Mit dem Titel „Die Verkehrswende starten – ökologisch, ökonomisch, sozial.“4 Darin werden Positionen vertreten, die, was die IG Metall betrifft, überraschend und erfreulich sind:
- Wir brauchen ein neues Zusammenspiel und einen anderen Verkehrsträgermix mit einer deutlich gestärkten Rolle von Schienen-, öffentlichem und Radverkehr sowie einer neuen, darauf abgestimmten und in Anzahl und Wegeumfang reduzierten Rolle des Automobils.
- Autobahnen und Bundesstraßen hat Deutschland genug, Schienenstrecken und Radschnellwege viel zu wenig.
- Für die Verkehrswende brauchen wir einen verkehrsträgerübergreifenden Infrastrukturfonds nach Schweizer Vorbild mit Finanzierungssäulen für die Bahn, den ÖPNV sowie den Fuß- und Radverkehr, der aus verschiedenen Quellen gespeist wird.
Von all dem ist im gegenwärtigen Konflikt um VW von Seiten der IG Metall bisher nicht die Rede –weder der IG-Metall-Chefin Christiane Benner in einem ausführlichen Interview mi dem Handelsblatt vom 19. August noch beim in einem Interview des Wolfsburger IG-Metall-Bezirksleiters Thorsten Gröger mit der ZEIT vom 6. September.
Es wäre zu wünschen, dass die an der Erklärung beteiligten Umweltorganisationen von der IG Metall einfordern, dass die Gewerkschaft, zu ihren Aussagen steht. Es wäre wichtig, dass jene IG-Metall-Kolleg*innen, die die Erklärung unterstützen, vom Vorstand fordern, dass er in einer Situation, in der es ernst wird, den schönen Worten auch Taten folgen zu lassen.
Ein Beitrag von Paul Michel – aktiv im Netzwerkökosozialismus
Anmerkungen
- Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Versement_mobilit%C3%A9 ↩︎
- Mario Candeias / Stephan Krull (Hrsg.), Spurwechsel- Studien zu Mobilitätsindustrien, Beschäftigungs potenzialen und alternativer Produktion siehe https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/Spurwechsel_VSA.pdf ↩︎
- Neue Studie von IMK und IW: 600 Milliarden Euro staatliche Extra-Investitionen über zehn Jahre können öffentliche Infrastruktur und Wirtschaft zukunftsfähig machen. Siehe: https://www.imk-boeckler.de/de/pressemitteilungen-15992-600-milliarden-euro-staatliche-extra-investitionen-60422.htm ↩︎
- Positionspapier: „Die Verkehrswende starten – ökologisch, ökonomisch, sozial“ siehe: https://www.allianz-pro-schiene.de/themen/aktuell/positionspapier-die-verkehrswende-starten-oekologisch-oekonomisch-sozial/ ↩︎
Eine Antwort
Klingt wahnsinnig ambitioniert. Aber was ist denn mit den vielen Millionen Autos und LKWs die täglich unterwegs sind? Fahren die denn alle nur zum Spaß mit ihren SUV auf der Strasse?
Oder sind das nicht die wichtigeren Bausteine der „Daseinsvorsorge“?
Auch wenn ich die Zunahme des Verkehrs – das betrifft ja auch und vor allem den Schiffverkehr, der seltsamerweise bei den ganzen Klimadiskussionseinschränkungsvorschlägen kaum vorkommt – kritisch sehe, so ist dieser fundamental für unser Leben. Nahezu alles von dem wir abhängig sind braucht Strassen, Autos und LKW. Ob ein besser ausgebauter ÖPNV das ersetzen kann halte ich für fragwürdig. Letztlich werden es aber die nächsten Jahre zeigen ob diese Ideen eine Wirkung haben. Zumindest in den grossen Städten ist der Abbau des Individualverkehrs in grossen Schritten in der Planung. Was dann dort passiert wird man sehen.
Das aber die Bahn mittlerweile eine AG ist macht den Gedanken einer staatlichen Investition komplex. Wer profitiert am Ende davon und was ist mit den privaten Anbietern?
Und ob die Bahn überhaupt in der Lage ist eine solche Aufgabe zu meistern, ist auch eine wichtige Frage die bei solchen Vorschlägen berücksichtigt werden müsste. Ingenieure und Bahnarbeitern wachsen nicht auf Bäumen und die letzten Großprojekte machen nicht unbedingt Hoffnung darauf, dass die Bahn wirklich in der Lage wäre so viele Milliarden sinnvoll zu verbauen.
Die Probleme die wir haben sind, das unter Merkel staatlichen Fähigkeiten des Aufbaus und der Pflege von Infrastruktur massiv abgebaut wurden. Vor Ort sind nur immer weniger Planer und (Bau-)Aufseher, die Projekte begleiten können. Ich erlebe das aktuell an einer grossen Uni, wo auch mehr Wert auf Drittmittel, Klima, veganes Essen, Diversitäts- und Frauenbeauftrage gelegt wrde, aber die Technik auf das notwendigste reduziert ist. Neubauprojekte sind immer mehr ein Fiasko weil hinterher die Planungs- und Organisationsfehler mit den Auflagen aus Bund und EU akkumulieren und am ende die Anwälte mehr davon haben als die Wissenschaftler, die mehrere Jahre auf ihren Neubau warten müssen.
Daher wäre ich Vorsichtig bei solchen Forderungen die am Ende auch nur die Steuerzahler finanzieren müssen.