Trotzki

Trotzki und das Individuum in der Geschichte

Die Rolle des Individuums in der Geschichte richtig darzustellen, ist eine ernsthafte Herausforderung für jede materialistische Geschichtstheorie. Heutzutage, da so vieles von dem, was als Gesellschaftstheorie gilt – einschließlich der Postmodernisten, der Feministen und der analytischen Marxisten -, auf den unreduzierbaren Charakter der individuellen Erfahrung pocht, ist es mehr denn je wichtig, daß Marxisten dieses Problem korrekt angehen. Der erste Teil dieses Beitrags erschien unter dem Titel „Trotzki und die Dialektik der Geschichte“ am vergangenen Sonntag.

Trotzki gibt eine wunderbare Interpretation von der Herausbildung der Individualität in seiner Literatur und Revolution wider:

„Die Wahrheit ist, daß, sogar wenn die Individualität einmalig ist, dies nicht bedeutet, daß sie nicht analysierbar wäre. Die Individualität ist ein Zusammenschweißen von Eigenschaften des Stammes, der Nation, der Klasse, von vergänglichen und von institutionalisierten Elementen, und in der Tat, die Individualität drückt sich gerade in der Einmaligkeit dieses Zusammenschweißens und der Verhältnisse dieser psychochemischen Mixtur aus“ [37]

In seiner Geschichte der Russischen Revolution drückte Trotzki einen ähnlichen Gedanken aus: „Die „unterscheidenden“ Merkmale einer Person sind lediglich individuelle Kratzer, hinterlassen durch ein höheres Entwicklungsgesetz.“

Trotzki argumentiert, daß nur deswegen, weil jeder von uns eine einmalige Verschmelzung von gemeinsamen Elementen darstellt, wir in der Lage sind, individuelle Kunstwerke zu verstehen. Das Kunstwerk bündelt Kräfte, die in jedem von uns wirken, es tut es aber in einer einmaligen Weise, die von jedem Künstler gesondert bestimmt wird:

„So kann man sehen, daß das, was eine Brücke von Seele zu Seele schlägt, nicht das Einmalige ist, sondern das Gemeinsame. Nur mittels des Gemeinsamen wird das Einmalige bekannt; das Gemeinsame wird im Menschen durch die hartnäckigsten Bedingungen bestimmt, die seine „Seele“ gestalten, durch die gesellschaftlichen Bedingungen der Erziehung, des Lebens, der Arbeit und der Verbindungen.“[38]

Deshalb ist ein „Klassenmaßstab so nützlich auf allen Gebieten der Ideologie“. Damit, wie mittlerweile offensichtlich sein sollte, meinte er nicht, daß jedes Individuum deshalb zu einem einfachen, stereotypischen Exemplar seiner Klasse reduziert werden könne. Er schrieb:

„Es ist keineswegs unser Anliegen, die Bedeutung des Persönlichen im Mechanismus des historischen Prozesses zu leugnen, auch nicht die Bedeutung des Zufälligen im Persönlichen. Wir verlangen nur, daß eine historische Persönlichkeit, mit all ihren Besonderheiten, nicht als nackte Liste von psychologischen Zügen betrachtet werden sollte, sondern als jene lebendige Wirklichkeit, die aus bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen hervorgegangen ist und auf sie zurückwirkt. Genauso wie eine Rose ihren Duft nicht verliert, bloß weil der Naturwissenschaftler uns auf die Nahrungsmittel im Boden und in der Luft aufmerksam macht, von denen sie gezerrt hat, genauso wenig wird auch eine Persönlichkeit durch die Aufdeckung ihrer sozialen Wurzeln ihres Aromas bzw. ihres faulen Geruchs beraubt.“[39]

Es ist natürlich eine Sache, eine allgemeine Formel zu entwickeln, mit der man das Problem der Individualität verstehen kann, und eine ganz andere und weitaus schwierigere Aufgabe, mit ihrer Hilfe die ganz spezifische Rolle von ganz bestimmten Individuen darstellen zu wollen. Trotzki ist der Autor eines solchen Studiums: Lenins Rolle in der russischen Revolution.

Trotzki untersucht Lenins Rolle im April 1917, als die Bolschewiki es versäumten, die provisorische Regierung herauszufordern. Würden sich die Bolschewiki neuorientieren und ohne Lenin den Kampf um eine zweite, sozialistische Revolution beginnen? Trotzkis Argument ist, daß sie es wahrscheinlich getan hätten, aber nicht rechtzeitig, da:

„der Krieg und die Revolution der Partei nicht die notwendige Zeit gelassen hätten, um ihre Mission zu erfüllen. Es ist daher keineswegs ausgeschlossen, daß eine desorientierte und gespaltene Partei die revolutionäre Gelegenheit auf Jahre verpaßt hätte.“[40]

Es war Lenins „persönlicher Einfluß“, der „die Krise verkürzte“. Hier, sagt Trotzki, „zeigt sich die Rolle der Persönlichkeit in seiner wahren, gigantischen Gestalt“. Aber wir sollten keine Probleme damit haben, dies zu akzeptieren, denn „der dialektische Materialismus … hat nichts gemein mit Fatalismus“.[41]

Trotzkis Darstellung wird in glühenden Worten von Isaac Deutscher in seinem „Der verstoßene Prophet“ widersprochen. Deutscher reagiert mit der Behauptung, daß diese Analyse Trotzkis eine seiner „erfolglosesten“ sei. Deutscher beschuldigt Trotzki eines „Subjektivismus“, der „der marxistischen geistigen Tradition stark zuwiderläuft“.[42] Gegen Trotzki führt er Plechanows gefeierten Essay „Die Rolle des Individuums in der Geschichte“ auf. Deutscher umschreibt Plechanows Worte, wonach „der Führer lediglich das Organ einer geschichtlichen Not oder Notwendigkeit ist und daß sich die Notwendigkeit ihr Werkzeug erschafft, wenn sie es benötigt. Kein großer Mann ist daher „unersetzlich“.“ Und er zitiert Plechanow wohlwollend, der behauptete, im Falle von Robespierres Tode im Januar 1793:

„wäre natürlich sein Platz von jemand anders eingenommen worden, und obgleich diese andere Person in jeder Hinsicht unter ihm hätte stehen können, würden die Ereignisse doch den gleichen Verlauf wie unter Robespierre genommen haben…“[43]

Diese Analyse liefert keine Erklärung für die Schlamperei der „Geschichte“, die Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im Jahre 1919 nicht ersetzte. Unbekümmert um solche Details weicht Deutscher von seinem Kurs nicht ab und gerät vom Lächerlichen ins Idiotische:

„Haben nicht sogar in unserer Zeit die chinesische und die jugoslawische Revolution triumphiert … unter Führern kleineren, gar viel kleineren Kalibers? In allen Fällen hat der revolutionäre Trend seine Organe gefunden oder geschaffen aus dem menschlichen Material, das vorhanden war.“[44]

Deutscher hat offensichtlich die Tatsache aus den Augen verloren, daß Mao und Tito keine Vertreter der Arbeiterklasse waren, keine revolutionären Parteien leiteten und keine Arbeiterrevolutionen anführten. Es ist daher kaum überraschend, wenn man anhand dieser Beispiele entdeckt, daß die Rolle der Arbeiterklasse durch einen »revolutionären Trend« gefüllt wurde, der das, was er brauchte, ohne menschliche Intervention „schuf“.

Um nochmals auf Trotzkis Analyse von Lenins Rolle in der russischen Revolution zurückzukommen: Wir sehen hier, daß er die Frage der Führung keineswegs aus ihrem historischen Kontext herausoperierte, wie Deutscher und Plechanow das taten, sondern sie vielmehr als in diesem Kontext fest verwurzelt betrachtete.

Trotzki betonte, daß „Lenin kein Schöpfer des revolutionären Prozesses war“, daß er „sich bloß in die Kette der historischen Ereignisse eingliederte“. Lenin „stellte sich der Partei nicht von außen entgegen, sondern war selbst ihr vollkommenster Ausdruck. Indem er sie ausbildete, bildete er sich selbst aus.“ Lenin konnte die Bolschewiki anleiten, nicht deswegen, weil er ein einsamer Held war, sondern weil er von der bolschewistischen Partei geschaffen worden war. Der unaufhörliche Kampf um den Parteiaufbau, die laufenden Briefe über Jahrzehnte hinweg von Lenin an die Arbeiter und an die Parteimitglieder und wiederum von ihnen an Lenin, die Artikel und Reden, die Lenin gehalten hatte und jene, die von anderen gehalten wurden und denen Lenin zugehört hatte, das alles hatte Lenin geformt. Wie Trotzki sagt:

„Lenin war kein Zufallsprodukt in der geschichtlichen Entwicklung, sondern ein Produkt der gesamten russischen Geschichte. Er war in ihr eingebettet, tief verwurzelt. Zusammen mit der Vorhut der Arbeiter hatte er ihren Kampf im Laufe des vorhergehenden Vierteljahrhunderts miterlebt.“[45]

Es war gerade das, was Lenin mit seiner Partei gemeinsam besaß, was ihn befähigte, mit ihr zu sprechen, von „Seele zu Seele“, während des ganzen Jahres 1917. Seine Einmaligkeit bestand darin, daß er diese gemeinsame Tradition genauer und vollkommener ausdrückte als seine Gegenspieler. Trotzki erläutert diesen Punkt am klarsten in seinen Notizbüchern über die Dialektik:

„Lenin irrte manchmal, nicht nur in Nebensachen sondern auch in großen Fragen… Eine ganze Reihe von Personen kann, mit voller Berechtigung, darauf hinweisen, daß sie recht und Lenin unrecht hatten in gegebenen, manchmal sehr bedeutenden Fragen. Die Gruppe Borba [Der Kampf] behielt recht mit ihrer Kritik an Lenins erstem Agrarprogramm … ; Plechanow hatte recht mit seiner Kritik an Lenins Theorie des Sozialismus „von außen“; – der Autor der vorliegenden Zeilen hatte recht mit seiner allgemeinen Prognose der russischen Revolution. Aber im Kampf der Tendenzen, der Gruppierungen und der Personen konnte keiner ein Konto vorweisen mit einem solchen Guthaben wie das Lenins. Darin lag das Geheimnis seines Einflusses, seiner Stärke und … nicht in der Art einer unrechtmäßigen Unfehlbarkeit, wie sie in der Historiografie seiner Epigonen porträtiert wird.“[46]

Diese Tatsache wäre offensichtlicher gewesen, und Lenins Einzigartigkeit weniger bemerkenswert, wenn es nicht den außerordentlichen Umstand seiner Rückkehr aus dem Exil als revolutionärer Führer gegeben hätte. Seine physische Trennung erleichterte die impressionistische Gegenüberstellung des „Helden“ und der „Masse“. Wäre Lenin nicht im Exil gewesen, wäre die „innere Kontinuität der Parteientwicklung“ leichter auszumachen gewesen.[47]

Diese Darstellung macht zweierlei klar. Erstens kann ein solcher Führer, der von einer Organisation durch Jahrzehnte der theoretischen Arbeit und des praktischen Kampfes geschmiedet wurde, nicht am Vorabend der Revolution durch die „Kräfte der Geschichte“« einfach „ersetzt“ werden. Zweitens besteht die Einzigartigkeit eines solchen Führers lediglich in seiner oder ihrer Fähigkeit, die gemeinsame Erfahrung all jener zusammenzufassen, mit denen er oder sie eine solche Organisation aufgebaut hat, und in der Mühelosigkeit, mit der er oder sie diese gemeinsame Tradition neuausrichten kann, um neuen Herausforderungen gerecht zu werden. Ohne eine revolutionäre Organisation hätten sie weder die Mittel, den Kampf zu verstehen, noch die Fähigkeit, ihn zu leiten.

Jede kollektive Arbeiterorganisation, ob revolutionäre Partei oder Gewerkschaft oder gar reformistische Partei, überträgt an ihre Mitglieder und Führer etwas von dieser Fähigkeit, den Gang der Geschichte zu verändern. Wieviel Macht sie aber besitzen, und ob sie sie effektiv einsetzen, hängt von manigfaltigen Faktoren ab – von der Größe der Organisation, von ihrer Politik, ihrer Geschichte, den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, der Stärke und dem Organisationsgrad der herrschenden Klasse und so weiter.

Sozialtheoretiker, die sich mit der Situation des Individuums befassen, berücksichtigen diesen kollektiven Kontext meistens nicht. Viele der schwierigen Fragen, mit denen sich manche Sozialisten und Feministinnen in den letzten Jahren am meisten beschäftigt haben – Vergewaltigung, Pornographie, Kindermißhandlung -, sind Situationen, in denen die Individuen selbst am grausamsten von jeglicher kollektiven Macht abgetrennt sind. Zu behaupten, daß solche Individuen, ob als Opfer oder als Täter, über ihr individuelles Schicksal in der gleichen Weise bestimmen wie einzelne Mitglieder und Führer von großen Bewegungen über ihr kollektives Schicksal, ist falsch.

Was Lenin oder Cromwell oder Robespierre die Fähigkeit gab, einen persönlichen Beitrag zur Geschichte zu leisten, war die große Macht der Bewegungen, aus denen sie entstanden. Was sogar das kleinste Element von realer Entscheidungsmöglichkeit aus dem Leben von isolierten Individuen tilgt, ist ihre vollkommene Trennung von einer solchen Bewegung und ihre totale Abhängigkeit, sowohl wirtschaftlich als auch ideologisch, von einem System, das ihre Bedürfnisse und Hoffnungen mit Füßen tritt. Je isolierter und machtloser das Individuum und je brutaler die Umstände, mit denen es konfrontiert wird, desto geringer seine Chance, sein Schicksal zu beeinflussen. Wie Trotzki sagte:

„Auf ein Kitzeln reagieren Menschen verschiedenartig, aber auf glühend heißes Eisen gleich. Wie eine Dampfmaschine eine Kugel und einen Würfel gleichermaßen zu Blech verarbeitet, so zerschmettert der Aufprall von allzu großen und unnachgiebigen Ereignissen Widerstände, und die Grenzen der „Individualität“ gehen verloren.“[48]

Die Dialektik der permanenten Revolution

Die Theorie der permanenten Revolution markierte einen wichtigen Bruch mit dem Determinismus der Zweiten Internationale. Später wurde sie zum Eckpfeiler in Trotzkis Kampf gegen Stalins fatalistische Theorie des „Sozialismus in einem Land“. In beiden Fällen argumentierte Trotzki, daß ein rückständiges Land, um reif zu sein für die sozialistische Revolution, nicht durch alle Stadien der kapitalistischen Entwicklung gehen mußte, die die fortgeschrittenen kapitalistischen Mächte gekennzeichnet hatten. Trotzkis Theorie, das Gesetz der kombinierten und ungleichen Entwicklung, hob hervor, daß jede Analyse von dem revolutionären Potential von rückständigen Ländern von der Gesamtheit der kapitalistischen Entwicklung im weltweiten Maßstab ausgehen mußte. Hier waren die materiellen Bedingungen für eine sozialistische Gesellschaft offensichtlich vorhanden, auch wenn sie nicht in jedem Teil des Weltsystems für sich betrachtet existierten. Damit eine Revolution in einem rückständigen Land Erfolg haben konnte, mußte sie andere Teile des Systems erfassen und so ihren materiellen Reichtum anzapfen. Diese Auffassung der Verbundenheit der unterschiedlichen Teile des Ganzen untereinander war auch ein wesentlicher Bestandteil von Trotzkis Analyse. Um dieses Potential zu realisieren, würde die Arbeiterklasse bewußt um die Führung in der Revolution kämpfen müssen.

Auch diese skizzenhafte Zusammenfassung macht klar, daß Trotzkis Theorie eine brillante Anwendung der dialektischen Methode auf neue historische Bedingungen ist. Er zwang nicht bloß ein abstraktes dialektisches Schema widerspenstigen Tatsachen auf. Aus der empirischen Forschung baute er ein Bild von der Gesamtheit der Klassenbeziehungen und formulierte das Gesetz der kombinierten und ungleichen Entwicklung, um die Beziehung zwischen den verschiedenen Teilen des Ganzen aufzuzeichnen. Dieses Bild wird genau getroffen durch einen Ausdruck, den er später in den Notizbüchern über die Dialektik verwendete: die differenzierte Einheit. In seiner Erwiderung gegen die Stalinisten, die ihn beschuldigten, „über historische Stufen hinwegzuspringen“, führte er dieses Konzept aus:

„Es ist Unsinn zu sagen, daß Stufen ganz allgemein nicht übersprungen werden können. Der lebendige historische Prozeß überspringt dauernd isolierte „Stadien“, die ja nur ein Ergebnis der theoretischen Zergliederung des Entwicklungsprozesses als ganzen, d.h. in seiner Vollständigkeit, in seine einzelne Bestandteile ist … Es kann gesagt werden, daß der erste Unterschied zwischen einem Revolutionisten und einem vulgären Evolutionisten in der Fähigkeit liegt, solche Momente zu erkennen und auszunutzen.“[49]

Trotzki machte mit den Argumenten seiner Gegner von der historischen Unvermeidlichkeit ebenso kurzen Prozeß:

„Die eine oder andere Stufe im historischen Prozeß kann sich unter bestimmten Bedingungen als unvermeidlich erweisen, obwohl sie theoretisch gesehen nicht unvermeidlich ist. Und umgekehrt, theoretisch „unvermeidliche“ Stufen können durch die Dynamik der Entwicklung auf Null komprimiert werden, besonders während Revolutionen.“[50]

Trotzkis Theorie der permanenten Revolution ist ein brillantes Beispiel von angewandter Dialektik. Sie beinhaltet eine konkrete Analyse aller Lehrsätze, die er später in seinen Schriften über die Dialektik als allgemeine Prinzipien formulierte. Wir finden die gleichen Prinzipien am Wirken, wenn wir einen Blick auf Trotzkis Schriften über die Kunst werfen. Hier stellt er eine Verbindung zwischen Kultur und ihren materiellen Wurzeln her und betont, daß das „Klassenkriterium“ unentbehrlich ist in der Kunst, wobei die Kunst gleichzeitig „nach ihren eigenen Gesetzen beurteilt“ werden muß. Dies klingt wie ein Widerspruch, bis wir verstehen, daß dies ein weiteres Beispiel ist für eine „differenzierte Einheit“.

In seiner „Literatur und Revolution“ zeigt Trotzki wieder einmal, daß weder der Idealismus noch der vulgäre Materialismus ausreichen, um die Rolle der Kunst zu analysieren. Die Kunst, so argumentiert er, ist weder ein Spiegel, der die Gesellschaft einfach reflektiert, noch ein Hammer, der die Gesellschaft nach seinen eigenen Wünschen gestalten kann.

Trotzki schiebt die „Voroktober-Kunst‘ beiseite, die sich bloß nostalgisch in die Zeiten unter dem Zaren zurücksehnt. Er ist aber alles andere als unkritisch gegenüber den Futuristen und den Praktikern des Proletkults. Der Aufruf der Futuristen, mit der Kunst der Vergangenheit zu brechen, „hat eine Bedeutung insofern, als die Futuristen eifrig dabei sind, die Schnur, die sie mit den Priestern der bürgerlichen literarischen Tradition verbindet, zu schneiden“. Aber für die Arbeiterklasse bedeutet dieser Aufruf nichts, da „für die Arbeiterklasse keine Notwendigkeit und auch keine Möglichkeit besteht, mit der literarischen Tradition zu brechen, weil sich die Arbeiterklasse in der Gewalt einer solchen Tradition gar nicht befindet“.[51]

Trotzkis Kerngedanke ist, daß die Arbeiterklasse die alte Kultur meistern und gleichzeitig die neue schmieden muß. Im Verlauf dessen werden sie neue künstlerische Formen schaffen und auch alten Formen zu neuer Lebendigkeit verhelfen. Diese Einstellung basiert auf einer Einschätzung der Kulturentwicklung als ganzer, unter Berücksichtigung ihrer Kontinuität und Diskontinuität mit der vorrevolutionären Gesellschaft. Sie hebt hervor, daß eine Verwandlung der Kunst nur auf einem Verständnis von der Beziehung zwischen Revolution und Kunst beruhen kann, das weder die Kunst als unabhängiges Reich in passiver Weise akzeptiert noch sie zu einem unmittelbaren Ausdruck der gesellschaftlichen Bedürfnisse und somit auf das Niveau der Propaganda herabsetzt:

„Man kann nicht das Konzept Kultur in das Kleingeld des alltäglichen, individuellen Lebens verwandeln und den Erfolg der Klassenkultur anhand der proletarischen Ausweise einzelner Erfinder oder Dichter feststellen. Die Kultur ist die organische Summe an Wissen, die die Gesamtgesellschaft charakterisiert, zumindest aber ihre herrschende Klasse. Sie umfaßt und durchdringt alle Gebiete des menschlichen Schaffens und vereinigt sie in ein System. Individuelle Errungenschaften steigen über dieses Niveau hinaus und heben es allmählich.“[52]

Schlußwort

Trotzkis philosophische Schriften sind oft kurz und ihre Bedeutung komprimiert. Einige waren in der Tat Notizen, die nicht für die Herausgabe bestimmt waren. Ihre eigentliche Bedeutung wird nur klar auf dem Hintergrund der Tradition des dialektischen Denkens, die mit Hegel begann und von Marx und Engels, von Lenin, Lukács und Gramsci an uns weitergeleitet wurde. Das war offensichtlich auch Trotzkis Ansicht, da seine Schriften teilweise eine Kommentierung von Hegels Schriften und teilweise eine Vorbereitung zum Studium von Lenins „Philosophischen Notizbüchern“ sind. Das ist jedenfalls der Blickwinkel, unter dem ich Trotzkis Ansichten wiedergegeben habe. In diesem Schlußwort möchte ich lediglich auf die Positionen hinweisen, zu denen diese Tradition uns meiner Meinung nach verpflichtet.

Erstens verpflichtet sie uns zu einer Sicht der natürlichen und der gesellschaftlichen Welt als einziger Gesamtheit, die sich über die Zeit als Ergebnis interner Widersprüche fortentwickelt. Jede andere Sichtweise reduziert die natürliche Welt zu einem unbekannten, von der Gesellschaft getrennten Reich, das sich nach fremden Gesetzen entwickelt. Darüber hinaus, da sich die gesellschaftliche Welt aus der natürlichen entwickelt (und immer noch durch stetiges Zusammenspiel mit ihr geformt wird), haben wir allen Grund anzunehmen, daß, wenn die eine eine dialektische Struktur besitzt, die andere es ebenfalls tut. Der Grund, warum die Naturwissenschaften die dialektische Methode scheinbar weniger nötig haben als die Gesellschaftswissenschaften, liegt darin, daß die extreme Fächerung und Zweckgebundenheit eines Großteils der wissenschaftlichen Forschung für die Zielsetzungen der kapitalistischen Gesellschaft ausreichend ist. So real ihre Früchte auch sein mögen, diese wissenschaftliche Arbeit ist dennoch begrenzt in ihren Ergebnissen und in ihren Methoden. Die Ziele der Wissenschaft werden vorbestimmt durch den bürgerlichen Charakter der Gesellschaft, und dies schließt weitgehend jede Diskussion über die allgemeine Struktur der natürlichen Welt und über die Ziele der Wissenschaft aus. In dem Augenblick, wo die wissenschaftliche Forschung über diese Grenzen hinausstößt – ob auf dem Gebiet der Evolution, der Relativität, in der Chaos-Theorie, oder in Theorien, wie die von Stephen Hawking, die sich mit der Natur des Universums beschäftigen – tauchen Fragen der Dialektik oft auf. In vielen Fällen (Darwin ist ein Beispiel, das Trotzki zitiert) entwickeln Naturwissenschaftler quasi-dialektische Theorien. Dies ist ein Hinweis, sowohl daß die Wirklichkeit, die sie untersuchen, eine dialektische Entwicklungsform hat, als auch, daß sie den dialektischen Rahmen am nützlichsten für solche Studien finden. Dies ist natürlich ein Argument, das letztlich nur entschieden werden kann durch eine detaillierte Analyse der modernen Wissenschaft. Ich habe weder die Gelegenheit noch das Wissen, um eine solche Analyse an dieser Stelle zu unternehmen.

Trotzdem gibt es eine Reihe von allgemeinen Gründen für die Annahme, daß die Natur dialektisch ist. Wir können klar sagen, daß die Natur ein zusammengeschlossenes System ist, das sich über Millionen von Jahren entwickelte, bevor die Menschen auf der Erde liefen. Sie entwickelt sich auch weiter fort und würde es ganz unabhängig davon tun, ob Menschen sie bebauten oder nicht. Sie besitzt daher eine interne Dynamik. Wir können auch mit Sicherheit behaupten, daß sich die Natur nicht zufällig entwickelte, sondern nach bestimmten, rational begreiflichen Prinzipien. Sie entwickelte sich auch nicht sanft und gleichmäßig. Sie entfaltete sich durch große Verwandlungen, welche, einmal geschehen, – und obwohl durch kleine, molekulare Veränderungen vorbereitet – die Welt in einem qualitativ, grundsätzlich verschiedenen Zustand hinterließen von dem, was er vorher war. Trotzki weist auf die Entwicklung des menschlichen Bewußtseins als ein solches Moment der Verwandlung.

Zweitens, diese Sichtweise macht es möglich, auf einer Grundlage zu argumentieren, die nicht den Vorwurf auf sich zieht, daß jedes Konzept einer Dialektik, die sowohl die Natur als auch die Gesellschaft umfaßt, automatisch Gefahr läuft, die objektiven Gesetze der natürlichen Entwicklung auf die gesellschaftliche Sphäre zu übertragen und so den Marxismus zum Determinismus zu reduzieren. Früher schien es, zumindest mir, ein echtes Problem für den Marxismus zu sein. Trotzkis Notizbücher liefern eine Lösung für dieses Problem. Trotzkis Argument ist nicht nur, daß das „Bewußtsein aus dem Unbewußten hervorging“ und damit eine qualitativ neue Phase in der Geschichte eröffnete. Er argumentiert auch, daß die Struktur der Dialektik in der Gesellschaft eine andere ist als die in der Natur – erstere muß die Entwicklung des Bewußtseins in einer Art und Weise berücksichtigen, letztere braucht das nicht. Die Dialektik kann nicht irgendein unbewegliches Substrat bleiben, auf dem sich alles andere verändert, das aber selbst gegen jegliche Veränderung immun ist. Die Dialektik selbst wird verwandelt im Zuge der Entwicklung der natürlichen und der gesellschaftlichen Welt. Dies ist ein grundlegendes Merkmal der materialistischen Dialektik, das in Hegel vollkommen fehlt. Hegel behandelte nur die zeitlosen Muster des Denkens und brauchte deshalb keine artikulierte Dialektik, die in der Lage ist, ihre Form an die Konturen der materiellen Welt anzupassen, aus der sie entsteht.

In dieser Sichtweise sind Natur und Gesellschaft eine Einheit, sind aber nicht identisch. Sie sind eine „differenzierte Einheit“, in der jede gesonderte Sphäre immer noch mit jeder anderen verbunden ist, in der aber jede Sphäre auch ihre eigenen besonderen Prozesse, Gesetze usw. hervorbringt. Trotzki hatte schon lange eine ähnliche Unterscheidung in seinem theoretischen Werk getroffen. Sie war, wie ich versucht habe aufzuzeigen, ein leitendes Prinzip in seiner Theorie der permanenten Revolution, in seinen historischen Schriften und in seiner Analyse der Kunst. Trotzkis Konzept von der „differenzierten Einheit„, ein philosophisches Äquivalent der kombinierten und ungleichen Entwicklung, ist ein origineller Beitrag.

Dies ist eine marxistische Analyse, die keiner weiteren Verfeinerung durch solche Konzepte wie „relative Autonomie“ bedarf, die keinen Rückfall in den Dualismus erfordert, nur um die Behauptung aufrechterhalten zu können, daß die bewußte menschliche Tätigkeit eine Rolle bei der Veränderung der Gesellschaft spielt, und die schließlich nicht verlangt, daß wir in den Idealismus zurückfallen, um die Rolle des Individuums in der Geschichte zu erklären.

Sie ist jedoch eine Methode, die Verteidigung nötig hat. Viele Sozialisten in den fortgeschrittenen kapitalistischen Wirtschaften haben zehn oder mehr Jahre durchgemacht, in denen sich die echte marxistische Tradition auf dem Rückzug befand. Wie Trotzki bemerkte, „reaktionäre Perioden … werden ganz natürlich zu Epochen des billigen Evolutionismus“ und, hätte er hinzfügen können, auch seines dialektischen Gegenteils, nämlich des überhandnehmenden Idealismus. Von beiden hatten wir im Überfluß. Nun scheint es, zumindest in Großbritannien, als ob jene Periode dem Ende zu geht. Es könnte keinen besseren Zeitpunkt geben, um die wirkliche marxistische Tradition wieder geltend zu machen, und auch kein besseres Beispiel als Trotzkis Schriften.

Ein Beitrag von John Rees, erschienen in Sozialismus von unten.

[37]L. Trotzki, „Literature and Revolution“, New York, S.59-60.

[38]Ibid, S.60.

[39]L. Trotzki: „Geschichte der russischen Revolution“, zitiert in G. Novack: „Polemics in Marxist Philosophy“, New York 1978, S.281-82.

[40]L. Trotzki, History of the Russian Revolution, London 1977, S.343.

[41]Ibid.

[42]I. Deutscher, op cit, S.234 u. 244.

[43]Ibid, S.234.

[44]Ibid, S.236.

[45]„History of the Russian Revolution“, op cit, S.344.

[46]„Notebooks …“, op cit, S.84.

[47] „History of the Russian Revolution“, op cit, S.344.

[48]L. Trotzki: „Geschichte der russischen Revolution“ zitiert in G. Novack, op cit, S. 287. Trotzki spricht in erster Linie davon, wie große Revolutionen Individuen der gleichen Klasse dazu bewegt, sich in ähnlicher Art und Weise zu benehmen. Die Analogie gilt aber auch für den Zweck, für den ich sie hier einsetze, weil die „normalen“ unterdrückerischen Beziehungen der Gesellschaft das isolierte Individuum mit der ganzen Wucht einer Dampfmaschine trifft, mit der Revolutionen ganze Klassen trifft. In beiden Fällen wiegt die Macht der Umstände schwerer all individuelle Besonderheiten. Der Unterschied zwischen einer revolutionären Situation und dem normalen Funktionieren der Unterdrückung und Ausbeutung besteht darin, daß in der ersteren Arbeiter durch ihre kollektive Macht ihre individuellen Bedingungen verändern können, indem sie ihre kollektiven Bedingungen verändern.

[49]Trotzki: „The Permanent Revolution“, New York 1969, S. 240.

[50]Ibid, S.241.

[51]„Literature and Revolution“, op cit, S.130.

[52]Ibid., S.200

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