Linke Zeitenwende?

Will die Linke eine Zukunftschance haben, muss es gelingen, sie als handelndes Subjekt in den gesellschaftlichen Widersprüchen zu verorten, eine Analyse von Ulrike Eifler und Jan Richter.

DIE LINKE befindet sich in einer existenziellen Krise. Doch die Antworten, die die Partei derzeit entwickelt, werden der Tiefe dieses Krisenprozesses nicht gerecht. Ein neues Parteilogo, eine Mitgliederkampagne und eine Telefonaktion dienen eher der Simulation eines Aufbruchs, als dass sie ihn wirklich abbilden. Dabei spricht formal überhaupt nichts dagegen, sich dieser Instrumente zu bedienen, um politische Botschaften in die Partei oder die Öffentlichkeit auszusenden. Werden diese aber zu einer Vermeidungsstrategie, um keinen Blick auf die eigenen strategischen Defizite werfen zu müssen, dann wird sich die Krise der Partei eher verstetigen, als dass ein Ausweg aus ihr gelingt. Denn: Ein neues Parteilogo macht noch keine neue Partei. Neumitglieder, die in dezimierte, zerstrittene und handlungsunfähige Kreisverbände eintreten, können schnell enttäuscht wieder verloren gehen. Und Telefonaktionen sind nur dann ein hervorragendes Instrument, wenn man weiß, worüber man mit den Mitgliedern diskutieren und wofür man sie gewinnen möchte. Mit dem vorliegenden Text möchten wir einen Blick auf die Krise der Partei werfen und danach fragen, was DIE LINKE noch retten kann.

Gesellschaftliche Entwicklung

Parteien im Wandel sind das Resultat gesellschaftlicher Verhältnisse. Verhältnisse, die jene Parteien hervorbrachten und anschließend ihren Wandel erzwangen. Zu diesem Wandel gehört die schon länger zu beobachtende Erosion des klassischen Parteiensystems. In vielen Ländern zeigt sich, dass die traditionellen Volksparteien zunehmend durch Organisationsformen ersetzt werden, die eher einen Bewegungscharakter haben und ohne einen umfassenden Gestaltungsanspruch von Ökonomie und Gesellschaft auskommen. Auch die Krise der LINKEN ist das Ergebnis dieser Entwicklung. Sie tut sich zudem schwer, angesichts der systemischen Krise des Kapitalismus ein Bild von einem alternativen Gesellschaftsentwurf zu zeichnen, der soziale Gerechtigkeit, den Erhalt der Natur und einen dauerhaften Zustand des Friedens miteinander vereint. Der ehemalige parlamentarische Geschäftsführer der LINKEN im Bundestag, Ulrich Maurer, gab seiner bereits vor einigen Jahren kriselnden Partei mit auf den Weg, dass eine Partei ohne alternative Gesellschaftsvision Gefahr läuft, sich „durchzuwursteln“, sich in medial erzeugte (Schein-)Gegebenheiten zu flüchten und die eigene Wählerschaft orientierungslos zurückzulassen.[1]

Hinzu kommt: Die Krise der LINKEN ist vorrangig das Ergebnis einer gesellschaftlichen Entwicklung, in der der Gründungskonsens der Partei nicht mehr gilt. WASG und PDS hatten sich 2007 zusammengeschlossen, um dem rot-grünen Neoliberalismus und der neuen Kriegsrhetorik aus SPD und Grünen eine wirksame Alternative entgegenzustellen. 2005 hatte der Einzug der LINKEN in den Bundestag gezeigt, wie groß die Sorge der Bevölkerung vor dem Zerfall vertrauter Strukturen und der Demontage des Sozialstaates war. Das hatte große Teile der Wählerschaft veranlasst, ihre Stimme einer Partei wie der LINKEN zu geben, von der sie sich ein Eintreten für soziale Gerechtigkeit erwartete, wie es Hans Modrow einmal im Rückblick analysierte.[2]

Das Umfragetief vom 6. Februar 2024, das DIE LINKE bei 2 Prozent sieht,[3] sollte nun umgekehrt die Frage aufwerfen, warum ein relevanter Teil der Wählerschaft sich nicht mehr veranlasst sieht, sein bzw. ihr Kreuz bei der LINKEN zu machen, warum also – um es mit Hans Modrow zu fragen – das Eintreten für soziale Gerechtigkeit nicht mehr bei der LINKEN verortet wird. Dabei muss die Parteiführung sich nicht vorwerfen lassen, dass die keine Antwort auf diese Frage hat. Aber sie muss sich dem Vorwurf gefallen lassen, warum sie diese Frage nicht stellt und einen Prozess aufzeigt, wie die Partei gemeinsam zu einer Antwort kommt.

Schon jetzt zeichnet sich ab, dass sich niedrige Umfragewerte zu verstetigen drohen. Sie sind das Ergebnis parteiinterner Wahlauswertungen, die die Frage unbeantwortet lassen, warum uns ausgerechnet diejenigen Wähler davonlaufen, deren Interessen zu vertreten wir für uns in Anspruch nehmen. Keine Partei ist so sehr darum bemüht, sich politisch auf die Seite der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften zu stellen und doch verlieren wir hier kontinuierlich an Unterstützung und sind bei Gewerkschaftsmitgliedern längst Schlusslicht.[4] Wenn eine Partei nicht danach fragt, warum sie in ihrer Kernwählerschaft an Rückhalt verliert, dann deutet das auf strategische Ratlosigkeit und fehlende politische Handlungsfähigkeit hin.

Soziale und ökologische Frage nicht nur verbinden, sondern vereinen

Seit der Verständigung auf einen gemeinsamen Gründungskonsens hat sich die Gesellschaft verändert. Dieser Wandel erzwingt, dass auch die Partei sich ändert. Der drohende Klimakollaps ist als reale Bedrohung der Lebensbedingungen hinzugekommen. Doch bei der Bearbeitung, ja Bekämpfung dieser neuen Bedrohungslage zeigte nicht zuletzt die UN-Klimakonferenz in Dubai im letzten Jahr deutlich: Ein erfolgreiches Gegensteuern gegen die globale Klimakrise hat einen Bruch mit dem kapitalistischen Profitsystem zur Voraussetzung. Doch eben dieser Umstand stellt sozialistische Parteien im 21. Jahrhundert vor die strategische Herausforderung, die große Idee von einer klassenlosen Gesellschaft, die die Arbeiterbewegung historisch immer stark gemacht hatte, trotz der Diskreditierung des Sozialismus zu skizzieren.

Das Grundproblem der politischen Linken ist daher die mangelnde Ausstrahlungskraft einer sozialistischen Alternative und die wachsende Gewissheit, dass das Ende des Kapitalismus nicht sein triumphaler Sieg ist, sondern mit der Zerstörung des Planeten zusammenfallen könnte. Dieses Grundproblem spitzt sich zu, je mehr sich die multiple Krisensituation zuspitzt. Und es führt zu einem Antikapitalismus ohne einen alternativen Gesellschaftsentwurf. Doch ein Antikapitalismus ohne eine Analyse der Kräfteverhältnisse und ohne gesellschaftliche Zielvorstellung kann sich nur leisten, wer der Illusion aufsitzt, dass der Kapitalismus durch einen inneren Verfall zugrunde gehen wird. Dabei zeigt der Blick in die Geschichte, der Kapitalismus hat einen ausgeprägten Überlebenswillen bei einer hohen Anpassungsfähigkeit – ein Prozess, von dem wir wissen, dass er stets mit großer Rücksichtslosigkeit zu Lasten der Lohnabhängigenklasse ging. Das Abwenden von Sozialabbau und Klimakollaps kommt daher ohne eine Überwindung des Kapitalismus nicht aus und braucht sowohl einen „Stoß von extremer Heftigkeit als auch eine überzeugende Alternative“.[5] Eine Alternative, die glaubhaft vermittelt, dass es einen Weg raus aus Chaos und Zerstörung gibt. All jenen, die also glauben, DIE LINKE müsse sich neu erfinden und komme dabei ohne einen Klassenkompass aus, sei gesagt: Der Klassenkompass der Partei gilt noch immer. Nicht nur weil er seine Wurzeln in der Geschichte unserer Partei hat, sondern auch, weil er den Weg raus aus dieser destruktiven Klassengesellschaft weist. Aber der Klassenkompass muss unter den zugespitzten Krisenszenarien neu geeicht werden, damit die Richtung wieder stimmt.[6]

Politik der Ampel

Auch wenn sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen seit dem Zusammenschluss von WASG und PDS zur Partei DIE LINKE verändert haben und an die Stelle des rot-grünen Neoliberalismus ein Zustand getreten ist, der die aktuelle Krisensituation zum neuen Dauerzustand erklärt, bleibt das Eintreten für soziale Gerechtigkeit die zentrale Herausforderung. Sie muss auch das bestimmende Moment im Kampf für Klimagerechtigkeit und gegen den drohenden Aufstieg des Faschismus sein. Der bürgerliche Kampf gegen den Klimawandel zielt darauf ab, Nachhaltigkeit zum Investitions- und Renditeobjekt zu erheben, was mit großen Belastungen für die abhängig Beschäftigten einhergehen wird, wie der jüngste Haushaltsstreit der Ampel einmal mehr gezeigt hat. Nie war es daher notwendiger, die Demontage des Sozialstaates zu verhindern, denn der in der Ampel eingeschlossene Klassenkompromiss bricht mit Zuspitzung der Krise immer mehr auf und setzt die Arbeits- und Lebensbedingungen der Lohnabhängigen unter Druck. Dass ein Haushaltsstreit zu einer Einigung in der Ampel führt und keine 24 Stunden später von den Regierungsparteien wieder in Frage gestellt wird, zeigt, dass das Festhalten an der Schuldenbremse und der Verzicht auf Steuererhöhungen die Achillesferse der Bundesregierung sind. Je mehr die Politik der Krisenentlastung in den Widerspruch zu den ursprünglich verabredeten Schwerpunktsetzungen gerät, desto mehr bricht der im Koalitionsvertrag verabredete klassenübergreifende Konsens auf.

Möglicherweise wird das gemeinsame außenpolitische Verständnis der drei Regierungsparteien nun aber zum Kitt, der den im Kontext des Haushaltsstreits brüchig gewordenen Klassenkompromiss der Ampel zusammenhält. Das wird jedoch mit scharfen Klassenangriffen einhergehen. Denn mehr und mehr rückt der Streit um die Ausfinanzierung staatlicher Aufgaben unter ausdrücklicher Ausblendung eines unverhältnismäßig wachsenden Militäretats in den Mittelpunkt des Regierungshandelns. Je mehr der Krieg zum Treiber der Inflation wird, desto deutlicher zeigt sich: Die Verabredung über ein „klassenneutrales Regieren“ funktioniert nicht mehr. Es ist daher kein Zufall, dass 2022 der Anstieg der Löhne nahezu unverändert blieb, der Anstieg der Preise sich aber vervielfacht hat: Die Verbrauchspreise stiegen doppelt und die Nahrungsmittelpreise viermal so stark. In der Folge können inzwischen 5,5 Millionen Menschen aus finanziellen Gründen ihre Wohnung nicht richtig heizen, trotzdem geht die Bundesregierung zum Klassenangriff auf die Lohnabhängigen über. Eine dauerhafte Entlastung der Lohnabhängigen muss eine dauerhafte Verbesserung der Einnahmeseite nach sich ziehen. Diese gelingt jedoch nur, wenn sie mit einer Belastung der Vermögenden einhergeht.

Militarismus der Mitte

Der militaristische Kitt zwischen den drei Regierungsparteien führt – flankiert von CDU und CSU  –   zu einem neuen militaristischen Alarmismus. Dabei wird ein wachsendes Bedrohungsszenario vor allem durch Russland skizziert und daraus ableitend die Kriegstüchtigkeit der Gesellschaft in Angriff genommen. So hatte Bundeskanzler Scholz seinen symbolischen Spatenstich beim neuen Rheinmetall-Werk in der Lüneburger Heide mit einer eindringlichen Mahnung versehen: „Wir leben nicht mehr in Friedenszeiten“. Eine starke Verteidigung brauche eine solide industrielle Grundlage. Die Bestellung von Rüstungsgütern sei kein Autokauf, sondern müsse langfristig geplant und nun verstärkt auch in Deutschland produziert werden. „Panzer, Haubitzen, Hubschrauber und Flugabwehrsysteme stehen ja nicht irgendwo im Regal.“[7]

Auch der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, sagte kürzlich gegenüber der Öffentlichkeit, dass Deutschland in fünf Jahren kriegstüchtig sein müsse. Erstmals seit Ende des Kalten Krieges werde ein möglicher Krieg von außen vorgegeben. „Wenn ich den Analysten folge und sehe, welches militärische Bedrohungspotenzial von Russland ausgeht, dann heißt das für uns fünf bis acht Jahre Vorbereitungszeit“.[8] Der Diskurs ist mittlerweile derart entkoppelt von der entspannungspolitischen Zurückhaltung, wie wir sie aus der Zeit von Willy Brandt und Egon Bahr kannten, dass in der öffentlichen Debatte selbst ein Atomkrieg nicht mehr ausgeschlossen wird. So frohlockte der Chefredakteur der Neuen Züricher Zeitung, Eric Gujer, dass das Tabu des Atomkrieges gefallen sei: „Wer den Einsatz taktischer Atomwaffen kategorisch ausschließt, schwächt seine Abschreckungsfähigkeit. Ohne Atomwaffen und die wenigstens theoretische Bereitschaft zu ihrem Gebrauch gibt es keine Sicherheit, solange die Gegenseite sie besitzt. Neu ist diese Erkenntnis nicht, aber vielleicht ist das die größte Veränderung in der Betrachtung des Krieges. Das nukleare Tabu, das seit dem Untergang der Sowjetunion Bestand hatte, ist gefallen. (…) Ein Atomkrieg ist wieder mehr als eine gänzlich realitätsferne Hypothese“.[9] Und als die Spitzenkandidatin der SPD zur Europawahl kürzlich sagte, es brauche einen nuklearen Rettungsschirm in Europa und dafür von rechts kritisiert wurde,[10] wurde deutlich: Wenn derartige Debatten von ehemaligen Friedensparteien wie der SPD aufgemacht werden, dann dominiert die Kritik von rechts.

Dabei vermischen sich – konfrontiert mit den Grenzen bisheriger Haushaltspolitik – eine neue Mobilmachung und die an sich richtige Forderung nach Abschaffung der Schuldenbremse. So forderte Anton Hofreiter im ZDF-Morgenmagazin am 12. Februar, dass das Sondervermögen für die Bundeswehr verdoppelt oder verdreifacht werden müsse. Im gleichen Atemzug reklamierte er eine Aufweichung der Schuldenbremse, weil die fehlenden Investitionen in den Erhalt der öffentlichen Infrastruktur zu maroden Brücken geführt hätten, was sich nun bei Truppenverlegungen als Hindernis erweise. Auch der SPD-Haushaltspolitiker Andreas Schwarz sieht dringenden Nachholbedarf bei den Verteidigungsausgaben. Er schlug vor, die Mittel für Verteidigung und Zivilschutz wegen der Unsicherheiten in den USA und der Bedrohung durch Russland dauerhaft von der Schuldenbremse im Grundgesetz zu entkoppeln. Deutschland müsse dringend in den Zivil- und Katastrophenschutz investieren, so Schwarz, und brauche viel mehr Cyberabwehr, Bunker, mobile Operationssäle und Lazarettversorgung.[11]

Dieser neue „Militarismus aus der Mitte“ geht zudem mit dem Versuch einher, die Gewerkschaften einzubinden. Bereits im Herbst 2022 hatte Bundeskanzler Scholz höchst persönlich die Gewerkschaften zur „Konzertierten Aktion“ aufgefordert. Er stellte für die Tarifrunden einen Betrag von 3.000 Euro steuer- und abgabenfrei in Aussicht und erwartete im Gegenzug Zurückhaltung in den anstehenden Tarifrunden, sowie den Verzicht auf Streiks. Dieser Umgang mit den Gewerkschaften hat sich nun noch einmal zugespitzt. In einem gemeinsamen Positionspapier des SPD-Wirtschaftsforums, dem Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie e.V. sowie der IG Metall verständigte man sich auf ein gemeinsames industriepolitisches Konzept zur Stärkung der Rüstungsindustrie. 

DIE LINKE darf in ihrer Bewertung der Ampel also nicht dabei stehen bleiben, deren Haben- und die Sollliste gegeneinander aufzurechnen. Die Politik der Ampel ist nicht das Ergebnis von unbewussten Versäumnissen und objektiven Zwängen. Sie steht vielmehr im Zusammenhang mit der globalen Dauerkrise des Kapitalismus, die sich aus verschiedenen Einzelkrisen zu einer multiplen Krise verdichtet und zu der sich die drei Regierungsparteien in einer Weise verhalten, die hohe Vermögen schützt und Arbeiterhaushalte zur Kasse bittet.

Gesellschaftlicher Rechtsruck

Der Niedergang der LINKEN geht zudem mit einer Verschiebung der politischen Koordinaten des politischen Systems einher. Wir erleben nicht nur, dass mit der AfD eine Partei in den Umfragen stärker wird, die 2018 in Chemnitz den Schulterschluss mit der extremen Rechten vollzog. Wir erleben auch, dass eine politische Zusammenarbeit zwischen Konservativen und extremer Rechter aufs politische Gleis gestellt wird, etwa wenn die Union Anträge einreicht, die die AfD nahezu wortgleich übernimmt. Die überraschende Wahl von Thomas Kemmerich zum thüringischen Ministerpräsidenten 2020 und sein schneller Rücktritt nur wenige Tage später zeigen, dass wir mitten in einem Prozess stecken, in dem neue Mehrheiten rechts der Mitte ausgetestet werden. Nicht zuletzt deshalb, weil eine politische Formation von Relevanz fehlt, die sich mit einer klaren Orientierung in der sozialen Frage dieser Entwicklung und dem Erstarken reaktionärer Kräfte in den Weg stellt.[12]

Zur Analyse gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse gehört zudem der Hinweis, dass SPD und Grüne an dieser Rechtsverschiebung der politischen Koordinaten aktiv beteiligt sind. Spätestens mit der Umsetzung ihrer marktradikalen Agenda-Politik hatten sie ihre traditionelle Rolle als gesellschaftliche Kritikerinnen der Arbeitgeberverbände aufgegeben. „Eine Politik gegen die deutsche Wirtschaft ist mit mir nicht zu machen“, soll Gerhard Schröder seinem Kabinett gesagt haben. Das Einnehmen der Arbeitgeberperspektive führte nicht nur zu einer Politik, die sich gegen die Lohnabhängigen richtete. Die SPD gab in diesem für alle Seiten schmerzhaften politischen Häutungsprozess zudem ihre orientierende Rolle für die unteren Klassen auf. Die Spaltung unserer Gesellschaft und der Aufwind der Rechten wären so nicht möglich gewesen, hätten sich SPD und Grüne nicht Anfang des neuen Jahrtausends zur Speerspitze des Neoliberalismus gemacht.

Mit Beginn des Ukraine-Krieges beschleunigte sich die Abkehr von traditionellen linken Positionen auch auf dem Feld der Außenpolitik. In diesem Kontext gaben SPD und Grünen nun auch die Rolle, gesellschaftliche Kritiker einer gefährlichen Kriegstreiberei zu sein, auf. Ein sozialdemokratischer Verteidigungsminister treibt die Militarisierung der Bundesrepublik rigoros voran, und relevante Teile der Grünen gehen zu verbalen Attacken auf die Friedensbewegung über. Kurzum: SPD und Grüne, die über einen langen Zeitraum die Ausweitung des politischen Meinungskorridors nach links absicherten, tragen aktiv zur Marginalisierung traditioneller linker Positionen in der Sozial-, Friedens- und Migrationspolitik bei. Nicht zuletzt weil sie sich weigern, finanzielle Spielräume aus der Besteuerung hoher Vermögen zu gewinnen, um bei Sozialstaatsausbau, Migration oder Krisenbekämpfung handlungsfähig zu sein. Hohe Spendenbeiträge von der Arbeitgeberseite haben offensichtlich dazu beigetragen, dass beide Parteien das ernsthafte Interesse an gerechter Verteilung verloren haben.

DIE LINKE muss sich aber auch im Klaren darüber sein, dass ihr ungeklärtes Verhältnis zum abgespaltenen Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) die Marginalisierung traditioneller linker Positionen sogar noch verstärken könnte. Politik und Medien sind vielfach darum bemüht, das BSW in die Nähe der AfD zu rücken. Damit wird nicht nur die Partei diskreditiert, sondern auch ihre Positionen in der Sozial- und Friedenspolitik, die sich vielfach nicht oder nur in Nuancen unterscheiden von den Positionen, wie sie DIE LINKE vertritt. Eine Marginalisierung dieser Positionen marginalisiert daher auch DIE LINKE. Anstatt also zu schweigen, wenn Sahra Wagenknecht und Alice Weidel in eine Ecke gestellt werden, oder sich schlimmstenfalls sogar aktiv daran zu beteiligen, muss DIE LINKE sich bei derartigen Angriffen auf die Seite von BSW stellen. Man kann sich inhaltlich scharf voneinander abgrenzen, aber bei Angriffen von rechts dennoch zusammenzustehen. Dass der Parteivorstand das Verhältnis zu BSW nicht klärt, sondern die Mitglieder orientierungslos und mit sich hadernd zurücklässt, ist an politischer Fahrlässigkeit daher kaum zu übertreffen. 

Zur Notwendigkeit von Sozialprotesten

Zugleich zeigt sich, dass es in der Gesellschaft eine Sehnsucht nach Protest gibt. Egal, ob die Mobilisierungen gegen die verbrecherische Bombardierung Gazas, Demonstrationen gegen rechts, protestierende Landwirte, streikende Lokführer oder die neuen Streikformate, die in der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes ausprobiert wurden – es bewegt sich etwas in der Gesellschaft. Doch die unterschiedlichen Protestbewegungen werden nicht gebündelt und zu großen gesamtgesellschaftlichen Mobilisierungen gegen die Politik der Ampel zusammengefasst. Nicht zuletzt, weil die Träger großer Sozialproteste, wie wir sie aus der Vergangenheit kannten, weggebrochen sind. Bis in die 1990er und 2000er Jahre hinein existierte ein Netz von regionalen Bündnissen gegen den Krieg, gegen die Auswirkungen der Krise oder gegen Sozialabbau. Sie wurden wesentlich getragen durch die regionalen Strukturen von SPD, Grünen, Sozialverbänden, Gewerkschaften und Kirchen. Die aktuelle Verschiebung des politischen Koordinatensystems nach rechts hat auch etwas damit zu tun, dass durch das Wegbrechen dieser Strukturen die Zivilgesellschaft keine Möglichkeit mehr hat, ihre Unzufriedenheit auszudrücken.

Die Proteste gegen rechts, die seit einigen Wochen in nahezu allen Städten stattfinden, sind die erste wirklich wahrnehmbare Mobilisierung gegen etwas, was viele Menschen besorgt. Sie kommen auch deshalb zustande, weil die etablierten Parteien offenbar keinen Widerspruch darin sehen, gegen rechts auf die Straße zu gehen und zugleich eine Wirtschafts- und Sozialpolitik zu betreiben, die mit großen sozialen Unwägbarkeiten verbunden ist und viele Menschen verunsichert. Es ist richtig, dass DIE LINKE sich an diesen Protesten beteiligt. Sie sollte sich darüber im Klaren sein, dass sie gegenwärtig die einzige Kraft ist, die aktiv in den Bündnissen dafür werben kann, die Energie gegen die AfD zu nutzen, um Sozialproteste für eine andere, sozial gerechte Politik zu organisieren. SPD und Grüne werden das nicht tun, wenn sie nicht gegen sich selbst protestieren wollen. Und vielen anderen wichtigen Protagonisten in diesem Protest fehlt es an den notwendigen Strukturen. „Faschismus ist ein Bienenkorb an Widersprüchen“, hat der italienische Philosoph Umberto Eco einmal gesagt. Er wächst an den widersprüchlichen Unzufriedenheiten in einer Gesellschaft realer Klassenwidersprüche. Und wenn die politische Linke schwach ist, dann entstehen gegen diese Politik widersprüchliche Protestbewegungen mit unklarer politischer Bestimmung. Gerade weil die Spitzen von SPD und Grünen ins politisch rechte Spektrum gewechselt sind, fällt der LINKEN die Rolle zu, die Unzufriedenen – auch in den Reihen von SPD und Grünen – einzusammeln, und ihnen einen politische Richtung zu geben. Denn wenn linke Antworten auf die Fragen der Zeit die Menschen immer weniger erreichen, dann schafft das ein Vakuum, das von rechts gefüllt werden kann. „In Situationen gesellschaftlicher Weichenstellungen“, schreibt IG Metall-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban, „herrscht zunächst allgemein Verunsicherung (…). Das ist auf der einen Seite nicht immer negativ, weil es die Bereitschaft hervorbringt, alte Denkmuster, die sowieso nicht mehr funktionieren, gegebenenfalls infrage zu stellen. Aber wenn Denkmuster und Denkstrukturen in Bewegung geraten, beginnt der Kampf, in welche Richtung sie sich strukturieren.“[13] Diesem Kampf muss sich die politische Linke stellen.

Krise der Partei

Die Krise der LINKEN ist das Ergebnis dieser objektiven gesellschaftlichen Entwicklungen. Sie ist aber auch das Ergebnis subjektiver Fehler. „Die künftige Stellung einer neuen linken Partei wird letztlich davon abhängen, ob sie eine Funktion für eine Schicht oder Klasse haben wird, die sich durch die konkurrierenden Parteien nicht in ausreichendem Maß vertreten sieht und deshalb bereit ist, diese Partei zu unterstützen“, gab der Marburger Hochschullehrer Georg Fülberth bereits 2008 der neu fusionierten LINKEN mit auf den Weg.[14] Der Streit, ob DIE LINKE  die soziale Frage aus dem Blick verloren hat, wurde in den vergangenen Jahren mit großer Härte geführt. Er führte nicht zuletzt deshalb zur Spaltung der Partei, weil alle bisherigen Parteiführungen strategische Klärungsprozesse unterließen.

Die seit Jahren unbearbeitete Frage, warum Arbeiter der LINKEN immer seltener ihre Stimme geben, warum sie eher bereit sind, die AfD, die CDU und sogar die FDP zu wählen, erweist sich als schwere Hypothek der Partei und markiert eine ihrer größten strategischen Leerstellen. Sie verhindert eine klare klassenpolitische Ausrichtung der Partei und führt zu einer falschen Klassenpolitik. „Niemand in der Partei fordert, dass DIE LINKE eine Politik für die urbanen Mittelschichten machen solle, aber man kann durch eine falsche Schwerpunktsetzung auch aus Versehen dort landen“, hatte der Soziologe Carsten Braband beim Strategischen Dialog der Rosa-Luxemburg-Stiftung am 24. Januar 2024 gesagt. Der Vorstoß der Parteispitze kurz vor Weihnachten, ein Grunderbe für junge Heranwachsende zu fordern, macht dieses Problem sichtbar. In einer Zeit, in der die Beschäftigten in den großen energieintensiven Industrien ungewiss auf die Zukunft ihres Arbeitsplatzes schauen, in der die Ampel durch die Verschärfung der Sanktionen von Bürgergeldempfängern die Belegschaften disziplinieren will, in der die Menschen nicht wissen, wie sie ihre Heizkosten zahlen sollen oder in der der neue außenpolitische Kurs der Bundesregierung neue, zugespitzte Umverteilungskämpfe in Gang setzt, macht die Forderung nach einem Grunderbe die Gerechtigkeitsdebatte an einer Nebenfrage auf.  Es ist daher falsch zu behaupten, DIE LINKE habe die soziale Frage aus den Augen verloren. Aber sie hat es verlernt, ihre Forderungen passgenau an den sozialen Nöten der Lohnabhängigenklasse auszurichten.

Hinzu kommt: Fehlende strategische Klärungsprozesse führen auch zu einem Verlust der politischen Bündnisfähigkeit, wie das inzwischen schwierige Verhältnis der Partei zur Friedensbewegung zeigt. Neben strategischer Klarheit muss sich DIE LINKE auch um strategische Anknüpfungspunkte bei Bündnispartnern bemühen, um politische Handlungsfähigkeit zu entwickeln. Die Spaltung der Partei ist daher kein „Befreiungsschlag“, wie so mancher kolportiert, sondern das Ergebnis einer innerparteilichen Diskussion, die über Selbstvergewisserungen nicht hinausgekommen ist. Selbstvergewisserungen aber verhelfen linken Positionen nicht zu gesellschaftlicher Breite. Und programmatische Positionsbestimmung wird zur Selbstbeschäftigung, wenn sie nicht der Analyse gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse folgt und eine konkrete Bündnispolitik zum Ziel hat. DIE LINKE muss endlich anfangen, im Bewusstsein der historischen Situation zu agieren und politische Akteure zusammenführen. Außer ihr wird es niemand anderes tun.

Gleichzeitig mahnen uns das Allzeithoch der AfD und die von der Bundesregierung angekündigten Kürzungen bei Klimaschutz und Sozialstaat, dass es auf eine starke linke Partei ankommt, damit die Interessen der Lohnabhängigenklasse nicht unter die Räder geraten. Doch bloße Beschwörungen, dass es DIE LINKE brauche oder Selbstvergewisserungen, dass DIE LINKE die einzige Partei sei, die für soziale Gerechtigkeit und Frieden stehe, bringen uns dem gemeinsamen Ziel einer starken linken Partei keinen Schritt näher. Auch eine strategisch unbestimmte Mitgliederkampagne unter dem fast schon beliebigen Titel „Eine Linke für alle“ wird die Partei nicht stabilisieren, solange die Frage unbeantwortet bleibt, wo sich die Partei in der aktuellen Strukturkrise des Kapitalismus verortet. Es braucht eine gründliche Analyse, was genau den derzeitigen Niedergang der LINKEN kennzeichnet und woraus sie in der aktuellen gesellschaftlichen Krisensituation ihre Existenzberechtigung begründet. Und es braucht einen Raum, wo die unterschiedlichen Einschätzungen in der Partei auf die komplexe Krisensituation solidarisch miteinander diskutiert werden und das aus der Balance geratene Verhältnis von Einheit und Klarheit neu ausverhandelt wird.

Ulrike Eifler und Jan Richter sind Bundessprecher der BAG Betrieb & Gewerkschaft in der Partei DIE LINKE.


[1] Maurer, Ulrich (2018): Wars das? Ein Nachruf auf die SPD, VSA, Hamburg, 28.

[2] Modrow, Hans (2006): „Die Bundesrepublik und die Notwendigkeit einer neuen sozialistischen Linken“, in: Maurer, Ulrich/ Modrow, Hans (Hrsg): Links oder lahm? Die neue Partei zwischen Auftrag und Anpassung, edition ost, Berlin, 8.

[3] Sonntagsfrage Bundestagswahl, GMS, 06.02.2024.

4 Böhlke, Nils/ Eifler, Ulrike/ Richter, Jan, Seppelt, Jana (2021): 4,9 Prozent – war’s das für DIE LINKE?, BAG Betrieb & Gewerkschaft.

[5] Brie, Michael (2022): Sozialismus neu denken. Ein hellblaues Bändchen zu den Widersprüchen einer solidarischen Gesellschaft, VSA, Hamburg.

[6] Eifler, Ulrike/ Ferschl, Susanne/ Richter, Jan (2022): „DIE LINKE braucht einen Klassenkompass„, Sozialismus, Heft 12-2022.

[7] „Waffen ‚in Großserie statt in Manufaktur‘“, ARD, 12.02.2024.

[8] „‚Das wird jetzt nochmal ein bisschen rumpeln‘“, ARD, 10.02.2024.

[9] Gujer, Eric (2023): „Den Krieg neu denken“, in: NZZ, 10.02.2024.

[10] Agnes Strack-Zimmermann sagte, man führe solche Diskussionen nicht in der Öffentlichkeit; und in den Augen von Roderich Kiesewetter ist ein nuklearer Rettungsschirm nicht finanzierbar.

[11] „Viel mehr Geld – und Aus für die Schuldenbremse“, ARD, 13.02.2024.

[12] Eifler, Ulrike (2023): Die gefährlichste Partei Deutschlands, BAG Betrieb & Gewerkschaft.

[13] Urban, Hans-Jürgen (2023): Krise. Macht. Arbeit. Über Krisen des Kapitalismus und Pfade in eine nachhaltige Gesellschaft, Campus, Frankfurt/ New York.

[14] Fülberth, Georg (2008): DIE LINKE, PapyRossa, 131.

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