Covid-19 bestimmt den Alltag in Deutschland. In dieser Situation kommt den Beschäftigten im Krankenhaussektor eine wichtige Rolle zu. Wir haben mit Katharina Schwabedissen, die 1997 ihr Krankenpflegeexamen gemacht hat und seit 2014 als Gewerkschaftssekretärin arbeitet, gesprochen.
Die Freiheitsliebe: Weltweit breitet sich das Coronavirus aus. Waren Deutschland und das deutsche Gesundheitssystem darauf vorbereitet?
Katharina Schwabedissen: Wäre das deutsche Gesundheitswesen auf diese Pandemie – oder auf Ausnahmezustände überhaut – vorbereitet gewesen, wären wir jetzt in einer anderen Situation. Dann gäbe es jetzt keine Mangel an einfachen Dingen wie Schutzkitteln, Schutzbrillen und FFP-Masken. Und da rede ich noch nicht einmal von Beatmungsplätzen oder Personal.
Die Freiheitsliebe: Politikerinnen und Politiker bedanken sich eifrig bei den Beschäftigten im Gesundheitssektor – ist dieser Dank ausreichend?
Katharina Schwabedissen: Das müssen letztlich die Kolleginnen und Kollegen beurteilen, denen gedankt wird. Ich erlebe beides: Menschen aus dem Gesundheitsbereich, denen der Dank sehr gut tut, aber auch viele, die zornig darauf reagieren. „Dank“ ist für sie auch nichts Neues: Warme Worte und Applaus gibt es für Beschäftigte in den Gesundheitsbetrieben häufig. Das Problem ist nur, dass danach nichts mehr kommt. Seit 15 Jahren verschärft sich die Situation in den Kliniken und Altenhilfeeinrichtungen stetig und es passiert wenig. Die Gehälter sind schlecht, die Einführung einer am Bedarf orientierten Personalbemessung wird seit Jahren verhindert. Pausen, freie Wochenenden und arbeiten ohne Hetze – das kennen viele gar nicht mehr. Die Kolleginnen und Kollegen haben mehr verdient als Applaus.
Die Freiheitsliebe: Wie ist die aktuelle Situation von Krankenschwestern und Krankenpflegern?
Katharina Schwabedissen: ver.di hat 2014 eine Umfrage in deutschen Krankenhäusern durchgeführt. Dabei kam heraus, dass in unseren Kliniken 162.000 Stellen fehlen – davon allein 70.000 in der Pflege. Aktuell sind darüber hinaus ca. 17.000 vorhandene Stellen nicht besetzt. Entsprechend geht es den Pflegekräften: Sie sind völlig überlastet und arbeiten für zwei. 62 Prozent von ihnen sagen, dass sie den Beruf nicht bis zur Rente schaffen. Viele Azubis brechen ihre Ausbildung nach dem ersten Ausbildungsjahr ab, weil sie erleben, was es heißt, wenn Pflege zum permanenten Marathonlauf ohne Ziellinie wird. Gerade die jungen Kolleginnen und Kollegen lernen, was Pflege in der Theorie könnte und wie wenig davon im Alltag umsetzbar ist.
Dazu kommt die unglaublich hohe Verantwortung. Vor zwei Jahren hat eine junge Gesundheits- und Krankenpflegerin Jens Spahn bei der Kundgebung zur Gesundheitsministerkonferenz gefragt, ob er sich vorstellen kann, wie das ist, wenn man einen Menschen alleine sterben lassen muss. Das war ein unglaublicher Moment. Vielen standen die Tränen in den Augen, der Druck, die Trauer, die Wut waren mit Händen zu greifen. Wenn man nachts immer wieder allein für 40 Patientinnen und Patienten verantwortlich ist, wenn man Menschen nicht so versorgen kann, wie es angemessen und auch möglich wäre, dann macht das auf Dauer kaputt.
Und jetzt? Es gab zu der zugespitzten Lage in den Kliniken Proteste, Streiks, Aktionen, Briefe, Talkshows – und jetzt kommt Covid-19. Die Kolleginnen und Kollegen sehen die Bilder aus Frankreich, Italien, den USA. Und natürlich steht die Frage „Wann ist es bei uns soweit?“ mitten im Raum. Schon jetzt arbeiten die Kolleginnen und Kollegen mit zu wenig Schutzkleidung. Masken sind plötzlich zu wertvollen Gegenständen geworden. Es gibt bereits jetzt die Empfehlung des Robert Koch-Instituts, dass Beschäftige im medizinischen Bereich auch dann arbeiten sollen, wenn sie Corona Positiv getestet sind, aber keine Symptome haben. Die Verlängerung der Arbeitszeit für die gleichen Kolleginnen und Kollegen wurde letzte Woche im Bundestag verabschiedet. Kurz davor wurden die Pflegepersonaluntergrenzen ausgesetzt, die zumindest für einige Bereiche im Krankenhaus festlegen, wie viel Personal mindestens in einer Schicht arbeiten muss, damit keine „gefährliche Pflege“ stattfindet. Für Krisenzeiten sind 12-Stunden-Schichten geplant – in Schutzkleidung. Da ist schon nach sechs Stunden die maximale Belastung erreicht. Es bräuchte also gerade in solchen Phasen kürzere Schichten und mehr Pausen. Doch dafür fehlt das Personal.
Während für die Beschäftigten die Schutzrechte abgebaut werden und sogar Zwangsdienste wie zum Beispiel in NRW in Gesetzentwürfen stehen, werden Rettungsschirme in Milliardenhöhe für die Wirtschaft gespannt. Erst langsam kommen zaghafte Vorstöße, Produktionsbetriebe zur Herstellung von Schutzkleidung zu verpflichten und auch Preise dafür festzulegen.
Die Freiheitsliebe: Schon seit Jahren gibt es Berichte von Beschäftigten über die Notsituationen in Krankenhäusern. Wurden diese ernst genommen?
Katharina Schwabedissen: Ich glaube schon, dass die Berichte „ernst“ genommen wurden. Es gibt kaum ein Thema, dass politisch in diesem Land in den letzten drei Jahren so intensiv bewegt wurde, wie der Zustand des Gesundheitssystems. Als vor 15 Jahren die Unikliniken in NRW gestreikt haben, um einen Tarifvertrag zu bekommen, da wurde das in der Bevölkerung als Skandal angesehen. Inzwischen gibt es für solche Proteste viel Solidarität aus der Bevölkerung. In vielen Städten haben sich Bündnisse für mehr Personal im Gesundheitswesen gegründet. Die Menschen erleben ja, was in den Krankenhäusern los ist – viele als Patientinnen, Patienten oder Angehörige. Es gibt Filme, Dokumentationen, Radiofeatures – und laufend neue Gesetze. Was von den politisch Verantwortlichen bewusst vermieden wurde, war die Forderung, das ganze System grundlegend zu verändern und auf das Wohl der Patientinnen, Patienten und Beschäftigten auszurichten. Das hätte bedeutet, das Credo vom Markt, der nicht nur alles richtet, sondern auch optimiert, zu hinterfragen. Diese Frage wird lauter. Inzwischen gibt es eine Reihe von Petitionen, die fordern, das Fallpauschalensystem auszusetzen.
Die Freiheitsliebe: Jens Spahn rühmt sich, die Situation zu verbessern, dabei hat Deutschland immer noch den schlechtesten Schlüssel von Patientinnen zu Pflegenden unter vergleichbar hochentwickelten Ländern. Wie lässt sich das erklären?
Katharina Schwabedissen: Das Verhältnis von Pflegekräften zu Patientinnen und Patienten in deutschen Kliniken war noch nie besonders gut und die Situation von Pflegekräften niemals mit anderen Fachkräften im produzierenden Gewerbe vergleichbar. Pflege galt in diesem Land immer als Liebesdienst, geleistet von Frauen aus Freundlichkeit für die Welt und als Zuverdienst. Aber bis 2004 waren die Krankenhäuser in der BRD vollfinanziert. Gewinne gab es nicht und Verluste wurden von den Krankenkassen beziehungsweise den Landeshaushalten oder Kommunen ausgeglichen. Dann kam die Einführung der DRG – der „Fallpauschalen“. Seitdem stehen die Kliniken ständig unter wirtschaftlichem Stress. Die Betriebskosten müssen vor allem durch die Fallpauschalen erwirtschaftet werden. Wir reden über feste Pauschalen für jede Krankheit. Dabei ist es egal, wie lange der behandelte Mensch tatsächlich im Krankenhaus liegt und behandelt werden muss. Der Fall bringt immer das gleiche Budget. Für die Vorhaltung von Einrichtungen wie Kreißsälen oder Intensivstationen, die ja auch da sein müssen, wenn mal keine „Fälle“ da sind, gibt es keinen zusätzlichen Pfennig.
Im Krankenhaus sind ca. 60 Prozent der Kosten Personalkosten. Hier wurde mit der Einführung der DRG vor allem im pflegerischen Bereich gespart. Parallel dazu wurden Betten abgebaut. Das führte aber nicht zu weniger Behandlungen – im Gegenteil. Die Fallzahlen stiegen von 14,6 Millionen im Jahr 1991 auf 19,2 Millionen 2015. Parallel dazu wurden insgesamt 165.000 Krankenhausbetten gestrichen und 450 Krankenhäuser geschlossen. Im gleichen Zeitraum wuchs das ärztliche Personal um 68 Prozent an. Im nichtärztlichen Bereich wurde es um 9 Prozent reduziert.
Mit der Kommerzialisierung kamen auch immer mehr private Träger mit der Hoffnung auf hohe Gewinne. Die Hoffnung erfüllte sich auf den Rücken von Beschäftigten, Patienten und Patientinnen.
Gewinne im Krankenhaus entstehen aus der Reduzierung von Löhnen, Personal und umfassender Versorgung. Ausreichend Pflegepersonal, aber auch Reinigungskräfte, Handwerker, Transportkräfte und viele andere standen im Widerspruch zur Profiten bei den Privaten und zur umfassenden Versorgung und Bereitstellung von bedarfsnotwendigen Einrichtungen der Daseinsvorsorge in öffentlichen Kliniken. Also wurde abgebaut – bis heute.
Im letzten Jahr wurde jede neu geschaffene Pflegestellen an deutschen Krankenhäusern zu 100 Prozent refinanziert. Das Problem ist, dass es schlicht kaum noch Pflegekräfte gibt, die eine offene Stelle besetzen wollen. In Deutschland leben rund 200.000 Examinierte, die aufgrund der Arbeitssituation ihrem Beruf den Rücken gekehrt haben.
Pflege ist ein hochprofessioneller Beruf, der in diesem Land immer noch belächelt wird. Es gibt hohen Respekt vor den Menschen, die ihn ausüben, aber wenig Respekt den Tätigkeiten gegenüber. Waschen, Lagern, Essenreichen – es gibt immer noch eine Mehrheit, die glaubt, dass könne eigentlich jede und jeder. Wenn sich dieses Denken nicht ändert und auch materiell manifestiert, dann wird sich auch an der Situation in der Pflege nichts ändern – und das gilt für viele weitere Berufe im Sozial- und Gesundheitswesen ebenfalls. Überall dort, wo plötzlich „systemrelevant“ draufsteht, lohnt es sich, auf den Lohn zu gucken – und auf die Geschlechterverteilung.
Die Freiheitsliebe: Was muss in der aktuellen Situation getan werden, um die Situation schnell zu verbessern und was ist längerfristig nötig?
Katharina Schwabedissen: „Schnell“ meint aktuell mitten in der Welle von schwer an Covid-19 erkrankten Menschen, die auf Intensivstationen unter äußerst komplizierten Bedingungen beatmet werden müssen und – so die Erfahrung aus Italien und Frankreich – eine relativ lange Beatmungszeit haben. Es braucht sofort ausreichend Schutzmaterial. Egal, wo noch Schutzmaterial gelagert wird: Es muss zentral verwaltet und wenn notwendig beschlagnahmt werden und in die Krankenhäuser und Altenhilfeeinrichtungen kommen. Textilunternehmen müssen Schutzkittel und Masken herstellen, die Preissteigerungen gedeckelt werden. Bayern hat das ähnlich bereits beschlossen. Ich finde es unerträglich, dass an der Not der Menschen jetzt schon wieder Profite extrapoliert werden. Der Preis für Masken ist in den letzten zwei Woche von 36 Cent auf 2,50 Euro gestiegen.
Aus meiner Sicht müssen Krankenhäuser von Pflegekräften und Ärztinnen und Ärzte durch die Krise gesteuert werden und nicht von Betriebswirtschaftlern. Das DRG-System sollte ausgesetzt und Verluste in diesem Jahr refinanziert werden. Bundesgesundheitsminister Spahn könnte umgehend ein Gesetz zur Einführung der PPR 2,0 – ein Übergangspersonalbemessungssystem – auf den Weg bringen. Für mich gehört dazu auch ein strenges Verbot für alle Träger, Profite und Renditen zu erwirtschaften – auch indirekt. Hilfebedürftigkeit darf keine Ware bleiben! Die Kolleginnen und Kollegen aus den ausgegliederten Betrieben müssen in die Kernbetriebe zurückgeholt und tariflich bezahlt werden. Wir werden mehr Reinigungskräfte, mehr Krankentransporter, mehr Handwerker, mehr Laborkräfte, mehr Röntgenassistentinnen brauchen – und die müssen jetzt endlich für ihre gute Arbeit anständige Löhne erhalten. Stattdessen melden einige Servicebetriebe in Krankenhäusern Kurzarbeit an.
Die Gewerkschaft ver.di fordert für die Beschäftigten im Gesundheitsbereich eine steuerfreie Prämie von 500 Euro. Es gibt bereits erste Kliniken, die bis zu 1.500 Euro „Coronaprämie“ für ihr Krankenhauspersonal zahlen.
Und langfristig? Noch stellt niemand die Frage, wer diese Krise zahlen wird: Die Reichen und Superreichen, die seit der letzten Krise 2008 zwölf Jahre lang Milliarden verdient haben oder die Beschäftigten, die jetzt in Kurzarbeit sind, ihre Läden geschlossen haben, ihre Auftritte als Künstlerinnen und Künstler absagen mussten – oder in den Kliniken und Altenhilfeeinrichtungen einmal mehr den Kopf hinhalten, um Leben zu retten? Wird es in wenigen Monaten wieder heißen, dass der Staat über seine Kosten gelebt hätte und es jetzt darum ginge, dass die 99% den Gürtel enger schnallen, damit der Bauch des 1% wieder ordentlich wachsen kann? Wird nach der Krise privatisiert, weil öffentliche Einrichtungen die Belastungen nicht tragen können? Corona stellt die Frage, wie wir leben wollen, was wichtig ist und wer in diesem Leben darüber entscheidet, ziemlich konkret. Ich hoffe, dass der Mehrheit in diesem Land deutlich geworden ist, was passiert, wenn man sich nicht selbst einmischt – und sich aktiv einmischt –, um die Verhältnisse zurück vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Langfristig müsste sich die Veränderung im Gesundheitswesen also am Leben orientieren und nicht am Profit. Wirtschaftlich gehört dazu im Gesundheitswesen die Vollfinanzierung der sozialen Einrichtungen, ihre Rückführung in die öffentliche Hand, das Verbot, mit Fürsorge Profit zu machen und eine deutliche materielle Aufwertung der Berufe im Sozial- und Gesundheitswesen. Strukturell braucht es eine am Bedarf orientierte Personalbemessung für alle Berufe in diesen Betrieben – von der Küche über die Pflege bis zu den Ärztinnen und Ärzten und die Finanzierung von Lagerbeständen für Krisenfälle, wie wir sie jetzt erleben. Und insgesamt brauchen wir eine demokratische Steuerung unserer Betriebe und damit eine Stärkung der Mitbestimmung der Kolleginnen und Kollegen.
Viele werden jetzt sagen, dass sei nicht bezahlbar. Doch was ist ein Menschenleben wert: Das von Beschäftigten und das von Menschen, die Hilfe brauchen?
Die Freiheitsliebe: Danke dir für das Gespräch
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