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Frankreich wählt – die „Pulverisierung“ der Linken

Am 23. April wählen die BrügerInnen Frankreichs einen neuen Präsidenten. Dieser Urnengang ist eine Richtungswahl für Frankreich wie für Europa. Die Rechtspopulistin Marine Le Pen hat als Führerin des angeblich „entdiabolisierten“ Front National mit einer Generalattacke auf das politische Establishment und die wirtschaftlichen Eliten, die EU und den Kapitalismus eine starke Ausgangsposition.

Dagegen steckt das überlieferte Parteiensystem mit einer desolaten sozialistischen Partei und einer tief gespaltenen konservativen Bewegung in einer Krise. Von diesem Zustand der beiden überlieferten Pole profitiert Le Pen. Sie kämpft gegen die EU und die Globalisierung, und vor allem gegen die „Eliten“, die aus dem entgrenzten Kapitalismus ein Klientelsystem gebaut haben. Ihr deklariertes Ziel ist eine autoritäre, nicht eine liberale Ordnung, ein starker Staat mit ausgebauten repressiven Organen, eine staatlich gesteuerte Wirtschaft, eine homogene Gesellschaft mit „französischen Werten“ – Einwanderer soll es nur wenige geben, und die haben sich zu assimilieren.

Nach Lage der Umfragen wird die Stichwahl um das französische Präsidentenamt zwischen Marine Le Pen und Emmanuel Macron entschieden, also zwischen der rechtspopulistischen „Meuterei des Wahlvolkes“ und der Vollendung des progressiven Neoliberalismus, wie er sich aus der Sozialdemokratie herausschälte. Demgegenüber sind die Linke, die sich in der Kandidatur Benoît Hamons mit der Spaltung der Gesellschaft abgefunden zu haben scheint, und die Linke, die sich um Jean-Luc Mélenchon unter der Fahne des „aufsässigen Frankreichs“ („La France insoumise“) versammelt, in heillosem Streit verstrickt. Die rechtskonservativen Republikaner haben sich wegen der Affäre um die Bereicherung des erzkatholisch-rechtsbürgerlichen Kandidaten François Fillon um alle Siegchancen gebracht.

Der Rechtspopulismus ist die stärkste politische Kraft in Frankreich, auch wenn seine Kandidatin Marine Le Pen in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl noch einmal abgefangen werden sollte. Sowohl die sozialdemokratische Sozialistische Partei (PS) als auch die rechtsbürgerlichen Republikaner (LR) werden nicht nur Federn lassen, sondern müssen sich nach der Wahl neu erfinden. Ebenso suchen die durch Parteispaltung und Aufgabe ihres Präsidentschaftskandidaten nahezu ausradierten Grünen eine neue politische Heimat wie die Anhängerschaft des Linksnationalisten Jean-Luc Mélenchon. Die Bewegung „En Marche“ („Vorwärts“) von Emmanuel Macron hat die sozialistische Partei mit einem sozial und ökonomisch liberalen Erneuerungskurs in einen Abwärtsstrudel getrieben. Auch der Front National ist nicht frei von politischen Affären – dennoch: Die Frustration eines Großteils der WahlbürgerInnen über das Personal und das Agieren von Republikanern und Sozialisten wird zum entscheidenden Wahlfaktor in Frankreich.

An der Ökonomie gescheitert

Verursacht wurde das Zerbrechen der Parteienlandschaft vor allem durch das Scheitern des rechtsbürgerlichen wie des sozialistischen Lagers an der Bewältigung der Großen Krise 2008. Das Schlingern des Staatspräsidenten Hollande nach dem klaren Wahlsieg seines PS auf allen parlamentarischen Ebenen ist allerdings nicht nur der Unfähigkeit einer inkompetenten und zunehmend als korrupt entlarvten politischen Klasse geschuldet, sondern auch der Unnachgiebigkeit der deutschen Kanzlerin und ihres Finanzministers bei der Durchsetzung des europäischen Fiskalpaktes mit seinen Haushalts- und Verschuldungsrestriktionen.

Frankreich fällt seit Mitte der 1990er Jahre wirtschaftlich immer mehr zurück, weil in einer sich globalisierenden Ökonomie der Saldo des Außenbeitrags des verarbeitenden Gewerbes immer dramatischer sinkt, woran auch die Abwertungstendenz des Euro nur wenig ändern konnte. Auf den Weltmärkten verliert Frankreich an Boden. Im Resultat sinkt der Beitrag des produzierenden Gewerbes zur Bruttowertschöpfung (in laufenden Preisen) von 22,3% in 1970, über 15,7% in 2000 auf 11,2% in 2014. Der französische Anteil der vier wichtigsten Branchen des produzierenden Gewerbes in Europa fällt zwischen 2008 und 2013 von über 45% auf 37%. Das Land musste erhebliche Arbeitsplatzverluste verkraften.

Soziale Spaltung

Die Folge des wirtschaftlichen Niedergangs waren erhebliche gesellschaftliche Spannungen. Auf dem Arbeitsmarkt war dies noch relativ wenig zu spüren, da die Prekarisierung bei der Teilzeitarbeit nicht so einschneidend verlief wie in den Nachbarländern und in den anderen atypischen Beschäftigungsformen (Befristung, Leiharbeit) mit Deutschland, der stärksten Wirtschaftsnation auf dem europäischen Kontinent, Schritt hielt.

Etwa ein Drittel aller Erwerbstätigen zwischen 15 und 64 Jahren ist atypisch beschäftigt. 2006 lag der Anteil bei 31,8 und stieg bis 2014 auf 33,4%. Da der unmittelbare Konkurrent Deutschland erheblich schneller flexibilisierte (Agenda 2010) und höhere Anteile im Teilzeitsegment aufweist, entstand erheblicher politischer Druck zur Reformierung (Gallois-Reort, Macron- und El Khomri-Arbeitsgesetze).

Die Armutsrate war in den 1990er Jahren relativ hoch und konnte von der „pluralistischen Linken“ um die Jahrhundertwende durchaus erfolgreich gesenkt werden. Allerdings waren die Schwankungen in den unteren Einkommensschichten wesentlich stärker ausgeprägt als der in der Abbildung 2 wiedergegebene Durchschnitt. Das Lebensniveau der unteren vier Dezile sinkt 2009 bis 2014 um je fünf Index-Punkte, das der obersten zwei Dezile um drei Punkte (besonders die obersten 5% sind betroffen: minus fünf Punkte).

Unter der Präsidentschaft Sarkozys kam es dann zu einem starken Anstieg der Armutsquote, die François Hollande nicht wieder drücken konnte (siehe Abbildung 2).

Ähnliches zeigt auch der Gini-Index, der das Maß der Einkommensspreizung spiegelt. Die anfängliche Erhöhung der Steuern für Spitzenverdiener (75% oberhalb von einer Mio. Euro p.a.) führte zu einer Abnahme der Spreizung, wurde aber nach erheblicher Steuerflucht zurückgenommen (siehe Abbildung 3).

Der Eindruck der Verarmung verfestigte sich – und damit die Ängste der Mittelschichten. Eine qualitative Studie über das Gesellschaftsbewusstsein der französischen Links-WählerInneni zeigte nach Hollandes Amtsantritt, dass vor allem unter den Jungen Perspektivlosigkeit vorherrschte. Weitere Thesen: Das Land sei gespalten zwischen Alt und Jung, Paris und der Provinz, zwischen sehr Reichen und Working Poor/Prekarisierten, Beschäftigten im Öffentlichen Dienst und Privatsektor (vor allem bei der Rente). Hinzu kommen die Spaltungsversuche insbesondere zwischen Franzosen und Eingewanderten. Zu diesen Realitäten hätten die PolitikerInnen keine Verbindung mehr. Man wisse nicht, ob es sich bei dieser Krise um eine „systemische Krise ohne Vorläufer“ handele, oder um einen Vorwand für die Herrschenden, für die man den Buckel hinhalten müsse. Man zahle mehr Steuern, um für die Wirtschaftskrise Frankreichs aufzukommen.ii

Das Bild der Politiker als „hartnäckige Lügner“ oder „Wetterfähnchen“ in den Händen der Finanzwelt, ist auf der Linken weit verbreitet: „Einmal an der Macht, tun sie Dinge, die im Widerspruch stehen zu dem, was sie versprochen haben. Sie haben keine Achtung vor dem Gesetz. Ganz allgemein bestimmt die Wirtschaft die Politik und nicht umgekehrt.“ Zwar erkennt man die Handlungszwänge der PolitikerInnen, aber macht immer weniger einen Unterschied zwischen rechts und links. Die Stimmung schwanke, so sagen Meinungsforscher, zwischen Fatalismus und Wut.

Weitere Studien belegen, dass die ökonomische Verunsicherung und politische Skepsis in Frankreich ein verbreitetes Gefühl der Bevölkerung sind. Dazu ist die Einschätzung der allgemeinen wie der persönlichen Situation zu schwarz gefärbt, und auch die Zukunft wird von einer Mehrheit pessimistisch gesehen. Doch glaubt ein Teil der Franzosen offensichtlich, noch einen Unterschied zwischen persönlichen Perspektiven und allgemeiner Entwicklung feststellen können.iii

Die französische Bevölkerung sieht in einem ziemlich schlechten volkswirtschaftlichen Umfeld mit Pessimismus in die Zukunft, glaubt aber mehrheitlich, sich persönlich aktuell und mit gewisser Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft der Krise noch entziehen zu können, was den finanziellen Lebensstandard und das Arbeitsplatzrisiko betrifft. Die Autoren der Studie sprechen von einer Dualisierung der Sozialstruktur zwischen denen, die auf den Zug der Globalisierung aufgesprungen sind und sich die Zuwächse des Nationaleinkommens aneignen, und denen, die auf dem Bahnsteig zurückgeblieben sind und immer mehr als Kosten angesehen werden – als Menschen, die angesichts der Konkurrenz billigerer Länder als zu teuer und als „übermäßig geschützt“ gelten. Diese Einschätzung wird gestützt durch die Selbsteinschätzung insbesondere von 64% bzw. 28% der Menschen mit einem Haushaltseinkommen von weniger als 1.200 bzw. 2.300 Euro, die 2012 sagten, dass sie „in den letzten drei Jahren eine Periode der Prekarität, d.h. großer materieller Schwierigkeiten wie z.B. Arbeitslosigkeit, Krankheit, Trennung, erfahren haben“.iv

Der Erfolg des entdiabolisierten Rechtspopulismus

Für den Rechtspopulismus war diese Grundstimmung schon vor den terroristischen Attentaten eine zweite Chance. Die erste Erfolgsphase ist als Reaktion des Kleineigentums in Handel, Handwerk und Industrie auf den angekündigten „Sozialismus in den Farben Frankreichs“ unter Regierungsbeteiligung der damals noch starken Kommunistischen Partei zu werten. Damals wurde u.a. für die höher Verdienenden die „Allgemeine Sozialabgabe“ auf alle Einkommensarten (CSG) eingeführt.

Heute steht Marine Le Pen vor einem ihrer größten Erfolge. Sie und hinter ihr das gesamte Spektrum des Front National haben aufbauend auf einer über vierzigjährigen Parteigeschichte dem Rechtspopulismus in Frankreich Gewicht gegeben (siehe Abbildung 3: Wahlergebnisse des Front National seit 1973).

Der Front National fühlt sich durch den „Brexit“ befeuert, durch den Wahlsieg Trumps bestätigt, und sieht in dem relativen Erfolg der niederländischen PVV das Vorspiel zum eigenen Durchbruch zur Macht. Der Rechtspopulismus steht vor seinem größten Erfolg in der zweitwichtigsten Nation der EU, deren zentrifugale Tendenzen durch eine Präsidentschaft Le Pens eine neue Qualität bekommen würden.

Der Rechtspopulismus von Marine Le Pen unterscheidet sich von den reaktionären, teilweise anti-semitischen und biologistisch begründeten Ideen einer französischen Überlegenheit in der FN-Gründergeneration. Seit sie den Parteivorsitz übernommen hat, modernisierte Le Pen ihre Partei mithilfe von Kadern aus den Elite-Universitäten wie ihrem Stellvertreter Florian Philippot erheblich.v Sie machte aus der Partei nicht nur eine Bewegung, sondern eine effiziente Wahlkampfmaschine mit runderneuertem Programm, das die „nationale Priorität“ durchbuchstabiert »im Namen des Volkes«, wie der Claim ihrer Präsidentschaftskampagne lautet.

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Kasten:

Programm, Vorschläge und Ideen des FN

 

Nationale Priorität

  • Jedermann französischer Staatsangehörigkeit – unabhängig von seinem Ursprung – soll bei der Vergabe von Wohnungen, Sozialleistungen und Arbeitsplätzen (bei gleichen Kompetenzen) gegenüber Fremden bevorzugt werden.
  • Familienhilfen sollen beschränkt werden auf Familien, wo mindestens ein Elternteil französisch oder europäisch ist.
  • Wenn ein Franzose und ein Ausländer sich um denselben Arbeitsplatz bewerben und beide haben vergleichbare Abschlüsse und Fähigkeiten, muss das Unternehmen den Franzosen einstellen oder begründen, warum der Ausländer den Vorzug erhält.

 

Laizität

  • Verfassungsänderung: „Die Republik kennt keine Gemeinschaften an“;
  • Gründung eines Ministeriums des Inneren, der Einwanderung und der Laizität;
  • Verbot aller rassistischen, sexistischen und diskriminierenden Praktiken, insbesondere an öffentlichen Orten. Z.B. sollen alle Halal-Gerichte in Schulmensen und getrennte Badezeiten in städtischen Schwimmbädern verboten werden.
  • Streichung aller öffentlichen Zuwendungen an Vereine, die als kommunitaristisch eingeschätzt werden.

 

Immigration

  • Reduktion der legalen Einwanderung von 200.000 auf 10.000 pro Jahr innerhalb von fünf Jahren;
  • Abschaffung der Familienzusammenführung;
  • Neuverhandlung des Schengen-Abkommens über den freien Personenverkehr.

 

Wirtschaft

  • Ausstieg aus dem Euro und Rückkehr zum Franc;
  • Wirtschafts-Patriotismus durch Bevorzugung von in Frankreich ansässigen Unternehmen vor allem bei öffentlichen Ausschreibungen.

 

Innere Sicherheit

  • Wiedereinführung der Todesstrafe, mindestens aber die wirklich lebenslängliche Haft durch Volksabstimmung;
  • Wiederaufbau der Stellen bei der Polizei, die seit 2005 abgebaut wurden;
  • Erhalt der freiwilligen Feuerwehr, die durch die EU bedroht ist;
  • Härtere Bestrafung für Rückfalltäter; Streichung der Sozialhilfen (Wohngeld, Sozialhilfe usw.) für Rückfalltäter mit Haftstrafen von einem Jahr und höher.

 

Verfassungsreform

  • Der Front National beabsichtigt unmittelbar nach dem Machtantritt einen Volksentscheid zur Verfassungsreform:
    • Verlängerung der Amtszeit des Staatspräsidenten auf ein nicht verlängerbares Mandat von sieben Jahren;
    • Verfassungsänderungen nur noch per Volksentscheid (nicht durch den Kongress);
    • Bürgerbegehren zur Durchführung von Volksentscheiden.

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Bernhard Sander ist Redakteur von Sozialismus. Der zweite Teil erscheint Montag.

Dieser Beitrag erschien in der neuen April-Ausgabe der Zeitschrift »Sozialismus«. Die Zeitschrift ist ein monatlich erscheinendes Forum für die Debatte der gewerkschaftlichen und politischen Linken. Kostenlose Probehefte und (Probe-)Abonnements können auf www.sozialismus.de bestellt werden.

i www.pcf.fr/sites/default/files/sondage-ifop-pour-le-pcf-5-oct-2013.pdf

ii Im linken Milieu herrscht eher eine Tendenz zur Bagatellisierung, wie man dem Editorial der L’Humanité zum Jahreswechsel entnehmen kann. Hier wird Hollandes Neujahrsansprache »Die Krise ist tiefer und länger dauernd als wir alle gedacht haben« als »Spleen« im Sinne des Baudelaire-Gedichts abgetan: Die Börsenkurse explodieren doch gerade.

iii http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/eb/eb80/eb80_anx_en.pdf. Die EU-Publikation stellt keine Differenzierung nach sozialen Indikatoren zur Verfügung.

iv www.harrisinteractive.fr/news/2012/Results_HIFR_FNARS_13012012.pdf

v Zur Strategie der »Normalisierung« des FN vgl. eingehend Antoine de Cabanes: Die Metamorphose des Front National, in: Sozialismus 2/2017, S. 5-12.

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