Flüchtlinge und solidarische Aktivisten demonstrieren (Legal Centre Lesbos | Facebook)

Verzweiflung in Europas Lagern

Das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei war ein Desaster für die Flüchtlinge – doch überall in Europa fordern Tausende, dass man sie endlich hereinlässt. Ein Jahr nachdem die Europäische Union einen Vertrag mit der türkischen Regierung abgeschlossen hat, um die Menschenmassen aufzuhalten, die verzweifelt versuchen, Europas Strände zu erreichen, hat dieses Abkommen zu noch mehr Tod und Leid geführt.

Nach den aktuellen Zahlen des Missing Migrants Project der International Organization for Migration sind im Zeitraum vom 1. Januar bis zum 14. März fast 20 000 Migranten und Flüchtlinge über die gefährliche Mittelmeerroute in Europa angekommen. Das sind bedeutend weniger als die über 152 700 Menschen, die im selben Zeitraum des letzten Jahres angekommen waren. Und doch ist die Zahl der Todesfälle unter Asylsuchenden gestiegen – eine direkte Folge der Entscheidung der EU-Staaten, die Grenzen dicht zu machen, so dass die Flüchtlinge zu immer gefährlicheren Fluchtrouten gezwungen werden. Bis zum 14. März diesen Jahres sind ca. 525 getötet worden oder verschwunden, in den ersten 73 Tagen von 2016 waren es 482. Im Rahmen des Flüchtlingsdeals von 2016 wurden dem repressiven Regime von Recep Tayyip Erdogan Hilfsgelder in Milliardenhöhe gezahlt, angeblich als Hilfsmittel für die Flüchtlinge, zusätzlich wurde der Türkei die Beschleunigung ihres EU-Beitrittsverfahren in Aussicht gestellt. Im Gegenzug verpflichtete sich die Türkei, undokumentierte Flüchtlinge, die in Griechenland ankamen, aufzunehmen. Die Flüchtlinge sollten zunächst in Auffanglagern in der Türkei unterkommen, die EU versprach, sie zu einem späteren Zeitpunkt zu übernehmen. Das Resultat ist, dass nicht einmal tausend Flüchtlinge aus Griechenland in die Türkei deportiert worden sind. Doch viele Tausend sitzen in Griechenland fest, da sich niemand für sie zuständig fühlt und die EU-Staaten sich weigern, sie aufzunehmen – in Lagern, die nicht viel besser als Gefängnisse sind.

„Viele der Lager sind überfüllt, und es kommt oft zu Gewaltausbrüchen, da die Bewohner frustriert sind von der langen Bearbeitungszeit ihrer Asylanträge, und Angst vor einer Rückführung in die Türkei haben,“ so ein aktueller Bericht der Agence France-Presse. „Auf Lesbos sind 5000 Personen in Lagern untergebracht, die nach Regierungsangaben für 3500 vorgesehen waren.“ Aus den Lagern wird von häufiger Polizeibrutalität berichtet.

Das hielt Dimitris Avramopoulos, EU-Kommisar für Migration, nicht davon ab, den Flüchtlingsdeal als Erfolg zu feiern, weil dadurch die Zahl der Menschen, die über das ägäische Meer nach Europa fliehen, von ca 10000 pro Tag auf weniger als Hundert reduziert werdn konnte.

Bilder aus den Lagern in Griechenland zeigen Menschen, die bei schweren Schneefällen in Zelten leben müssen. Im Januar starben innerhalb von sechs Tagen drei Bewohner des Stark überfüllten Moria-Lagers auf Lesbos – möglicherweise an Kohlenmonoxidvergiftung, da einige der Zeltbewohner nur Holzöfen zum Heizen haben.

„In den vier Monaten, die ich hier bin, hatte ich nicht ein einziges Gespräch, die Behörden verschieben meinen Gesprächstermin immer wieder,“ sagte Arash, ein Asylsuchender aus dem Iran, im Gespräch mit Human Rights Watch, und beschrieb die Zustände im Lager: „Extreme Kälte, kaum Heizung, kein richtiges Essen, keine angemessene Kleidung, und erniedrigende Behandlung.“

Afghanische Geflüchtete bei der Demo – http://linkswende.org

Weil er die Situation im Lager nicht ertragen konnte, und wegen Albträumen, die, wie er sagt, aus seiner Zeit in einem iranischen Gefängnis herrühren, wo er gefoltert wurde, wollte Arash den Lagerpsychologen aufsuchen, doch wurde ihm gesagt, dass es eine lange Warteliste gibt. Arash versuchte später, sich umzubringen.

Nachdem im September ein Feuer im Moria-Lager die wenigen Besitztümer und die Zelte vieler Flüchtlingsfamilien vernichtet hatte, erklärte Fahim, der mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern aus Afghanistan geflohen war, Mitarbeitern der Hilfsorganisation Save the Children den Ernst der Lage:

Die Menschen hier können die Situation nicht mehr ertragen. Jeder Einzelne von uns erstickt. Weil wir schon so lange hier eingesperrt sind, leidet unser Verstand, wir verrotten innerlich. Und die Leute werden zu Dingen getrieben, die sie normalerweise nicht tun würden… Das gesamte Lager ist eine tickende Zeitbombe, und ich habe nicht das Gefühl, dass es irgendwen interessiert. Diese Verzweiflung ist allgegenwärtig, vor allem bei den Jüngsten.

Nach Angaben von Save the Children haben die unhaltbaren Zustände in den Lagern verheerende Auswirkungen auf die psychische Entwicklung der geschätzt 5000 Kinder, die dort leben. Die Organisation hat unter dem Titel „Eine Welle von Selbstverletzung und Depression“ die immer häufigeren Fälle von Selbstverletzung und anderen Anzeichen von psychologischer Traumatisierung dokumentiert: Schon neunjährige fügen sich Verletzungen zu, die Mütter entdecken beim Baden Narben auf den Händen ihrer Kinder. Zwölfjährige unternehmen Suizidversuche, weil sie Zeuge von Selbstmorden anderer waren. In einem Fall behauptete ein Kind, einen Selbstmord gefilmt zu haben. Unter den Jugendlichen, die der harten Realität in den Lagern entfliehen wollen, hat der Drogen- und Alkoholmissbrauch zugenommen. Kinder müssen Gewaltausbrüche miterleben, sie müssen in den Lagern den Anblick von Leichen ertragen, sie verbringen den Winter in Zelten oder Parkhäusern, ihnen wird Bildung vorenthalten, einige haben all ihren Besitz im Feuer verloren.

„Der EU-Türkei-Deal sollte den Ansturm ‚irregulärer‘ Migranten nach Griechenland beenden, aber zu welchem Preis?“ fragt Andreas Ring, ein Vertreter von Save the Children in Griechenland. „Viele dieser Kinder sind vor Krieg und Gewalt geflohen, nur um hier in diesen Lagern zu enden, die viele von ihnen als „Hölle“ bezeichnen, in denen sie nach eigenen Angaben eher wie Tiere als wie Menschen leben. Wenn sich die Dinge nicht ändern, haben wir am Ende eine Generation abgestumpfter Kinder, für die Gewalt die Normalität ist.“

Einige Kinder haben mit Hilfe von Schmugglern die Insel verlassen, in der Hoffnung, endlich nach Europa zu gelangen – und werden ein weiteres Mal zu Opfern. Nach einem aktuellen Bericht der Europol sind schätzungsweise zehntausend unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach ihrer Ankunft in Europa verschwunden, viele wurden wohl Opfer von Menschenhändlern. Die Flüchtlinge sind in einer ausweglosen Situation gefangen. Ihnen bleibt nur die Wahl zwischen zwei Übeln: Entweder Leib und Leben riskieren in der geringen Hoffnung, dass man es bis nach Europa schafft; oder zuhause bleiben, in Ländern wie Syrien, wo Krieg, Repression und andere Katastrophen eine noch grössere Bedrohung darstellen.

Warsan Shire schreibt in ihrem Gedicht „Home,“ das zur Hymne aller notleidenden Flüchtlinge geworden ist:

Niemand verlässt sein Heim ausser
das Heim ist der Rachen eines Hais.

Man rennt nur dann zur Grenze
wenn man sieht, die ganze Stadt rennt…

Ihr müsst verstehen
niemand setzt seine Kinder in ein Boot
ausser das Wasser ist sicherer als das Land.

Mazedonisch-Griechische Grenze, Foto:
flickr, Public Domain Mark 1.0

Traurigerweise ist der unmenschliche Umgang mit Flüchtlingen sogar beabsichtigt. „Es ist eine Botschaft an die Migranten: kommt nicht hierher,“ so Dimitris Christopoulos, Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte (FIDH), im Gespräch mit der New York Times. Gegenwärtig wird die Flüchtlingskrise einmal mehr von internationalen Politikern instrumentalisiert, allen voran Donald Trump, der vor allem muslimische Migranten und Flüchtlinge als potentielle Terroristen dämonisiert. Man sollte sich jedoch erinnern, dass der Nährboden dafür von Barack Obama bereitet wurde, dessen Regierung nur eine lächerlich geringe Zahl von Asylsuchenden aufgenommen hatte, obwohl die USA die gegenwärtige Flüchtlingskrise mit ihrer Aussenpolitik erheblich mitverschuldet hat. Als die Erdogan-Regierung letzte Woche in Deutschland und den Niederlanden Werbeveranstaltungen für eine Verfassungsänderung plante, die dem Präsidenten noch mehr restriktive Macht verleihen soll, stellten sich die Regierungen beider Länder dagegen. Daraufhin drohte die türkische Regierung, den Flüchtlingsdeal platzen zu lassen.

Der türkische Innenminister Suleyman Soylu sagte, seine Regierung werde auf den Deal verzichten und jeden Monat 15000 Menschen nach Europa einreisen lassen.

Diese Drohung wird von Vielen für einen Bluff gehalten, allerdings heizen solche kämpferischen Aussagen die antimigrantische Stimmung weiter auf, aus der die rechtspopulistischen Parteien überall in Europa – zum Beispiel Geert Wilders‘ Freiheitspartei in den Niederlanden und Marine Le Pen’s Front National in Frankreich – in den letzten Monaten Kapital schlagen konnten. Als Antwort auf die Drohungen aus Ankara sagte Jane Collins, Sprecherin der rechtspopulistischen UK Independence Party: „Wir müssen eine eindeutige Botschaft senden, dass wir die Boote dahin zurückschicken werden, wo sie hergekommen sind.“ Die Parteien der bürgerlichen Mitte reagierten erwartungsgemäss zurückhaltend. Aus Furcht vor einem Wahlerfolg der extremen Rechten haben Politiker wie Angela Merkel nicht nur versäumt, die Rechte von Migranten zu verteidigen, sie sind auch selbst mit rassistischen Klischees auf Wählerfang gegangen.

In Italien, wo in den letzten drei Jahren mehr als 500 000 Flüchtlinge gelandet sind, hat Premierminister Paolo Gentiloni von der Demokratischen Partei (mitte-links) drastische Massnahmen angekündigt, es wird berichtet, dass er Polizisten im ganzen Land angewiesen hat, vermehrt abzuschieben. Die Regierung hat auch den Bau von sechzehn neuen Abschiebelagern angekündigt. Angela Merkel wurde letzte Woche als „Heldin“ gefeiert, weil sie ihre Contenance bewahrte, als Trump sich weigerte, ihre Hand zu schütteln. Die „neue Anführerin der freien Welt“ zeigt aber im Wahlkampf für ihre vierte Amtsperiode Migranten-Bashing und Islamophobie wie aus dem Lehrbuch. Bei der CDU-Jahreshauptversammlung versprach Merkel, dass nicht jeder einzelne der über 1 000 000 Flüchtlinge, die im letzten Jahr ins Land geströmt sind, im Land bleiben könnte und würde, und dass diejenigen, die bleiben, sich in die deutsche Gesellschaft integrieren müssten. Der britische „Telegraph“ berichtet weiter, dass Merkels Forderung nach einem Burkaverbot ihr den meisten Beifall einbrachte: „Gesicht zu zeigen ist Teil unserer Lebensart,“ sagte sie und fügte hinzu: „Unsere Gesetze haben Vorrang vor Ehrencodes, Stammesgebräuchen und Scharia.“

Während die politischen Führer Europas nur Rassismus und Dämonisierung im Angebot haben, gibt es auch Menschen, die sich für eine andere Vision einsetzen, die sich zusammenfassen lässt in der Forderung, die Festung Europa zu zerschlagen, die Grenzen zu öffnen und die Migranten und Flüchtlinge hereinzulassen. Dies konnte man am 18-19 März beobachten, als zeitgleich zum UN-Antirassismustag in verschiedenen europäischen Städten marschiert und demonstriert wurde. In London, Glasgow, Berlin, Vienna, Copenhagen, Athens, Paris und an vielen weiteren Orten, gingen Tausende für die Rechte der Migranten auf die Strasse, in Opposition zu dem Nationalismus von rechten Politikern wie Trump und dem bösartigen Rassismus der Rechtsextremisten. In Lesbos führten die Flüchtlinge selbst die Proteste an, in denen 2000 Menschen gegen rassistische Verfolgung marschierten und sich besonders gegen den Flüchtlingsdeal mit der Türkei stellten, der so vielen so viel Leid gebracht hat. „Shut down Moria“ war einer der meistgehörten Slogans. In Athen gingen um die 15,000 Menschen auf die Strasse, darunter Syrische und Afghanische Flüchtlinge. In London erschienen 30 000 bei einem Marsch gegen Rassismus, Krieg und Armut und für die Verteidigung von Flüchtlingsrechten.Antirassistische Aktivisten trugen Banner mit „Migranten retten unseren National Health Service“ und „Die Sparpolitik ist schuld, nicht die Migranten.“

Zakariya Cochrane von Stand Up to Racism, der Gruppe, die den Marsch organisiert hatte, sagte gegenüber Press TV, dass es bei der Aktion darum ging, dass sich die Antirassisten vereinigen und gemeinsam für all diese Angelegenheiten kämpfen: minderjährige Flüchtlinge, die Verteidigung der Rechte von Flüchtlingen und Migranten, die Hetzpolitik von Donald Trump und Theresa May. Im Februar hatten in Barcelona 160 000 Menschen an einer Demonstration teilgenommen, in der die Regierung aufgefordert wurde, Flüchtlinge aufzunehmen. Auf Schildern und Bannern forderten die Demonstranten: „Keine Ausreden mehr, lasst sie endlich rein!“ Diese Art von Solidarität muss unser Grundsatz sein. Verteidigt die Flüchtlinge und beendet ihr Leiden. Öffnet die Grenzen und lasst sie endlich rein!

Ein Artikel von Nicole Colson der im Socialist Worker erschien und von Hannes Busch übersetzt wurde.

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