Die schlechte Nachricht: Emmanuel Macron kann nach den Parlamentswahlen in Frankreich mit absoluter Mehrheit regieren. Die gute Nachricht: Es gibt keine gesellschaftliche Mehrheiten für seine neoliberale Politik. Daher steht die neue französische Regierung von Beginn an vor Problemen, meint John Mullen aus Paris.
Emmanuel Macrons Bewegung „La République en Marche“ hat bei den französischen Parlamentswahlen mit 355 von insgesamt 577 Sitzen eine breite Parlamentsmehrheit errungen.
Historisch niedrige Wahlbeteiligung
Die Parlamentswahlen finden in jedem Bezirk in zwei Runden statt. Nach der ersten Rund kann jeder Kandidat und jede Kandidatin, die mehr als 12,5 Prozent aller Wahlberechtigten hinter sich gebracht hat, sich zur zweiten Runde aufstellen. Das ergab fast überall zwei Kandidaten in der zweiten Runde. Doch der erste Schock war nicht der Sieg Macrons, sondern die einmalig niedrige Wahlbeteiligung in beiden Runden. In der zweiten lag sie bei gerade mal 43 Prozent. Millionen Menschen hatten das Gefühl, sie hätten davon nichts oder Macron würde ohnehin gewinnen.
Krise der Sozialdemokratie
Der zweite Schock betrifft die Sozialdemokraten: Die Sozialistische Partei, die bis vor einem Monat die Regierung stellte, sah ihren Stimmenanteil auf 7,5 Prozent in der ersten Runde zusammenschrumpfen (von 40 Prozent vor fünf Jahren auf). Die Partei hat jetzt nur noch 44 Sitze statt bisher 331 und die rechten Republikaner erlitten ebenfalls eine herbe Niederlage: 137 statt bisher 229 Sitze. Fast 300 ihrer Abgeordneten verloren ihre Sitze! Der Generalsekretär der Partei, Cambadélis, erreichte unter 10 Prozent der Stimmen und verlor seinen Sitz. Der ehemalige Kandidat zu den Präsidentschaftswahlen Hamon kam lediglich auf Platz vier in seinem Wahlbezirk und verlor ebenfalls seinen Sitz, wie auch der frühere Minister Filipetti und weitere Ex-Minister. Das ist zusammengenommen eine historische Niederlage für die Sozialistische Partei und die Organisation wird diesen Schock womöglich nicht überleben. Ihr Verschwinden hätte enorme Rückwirkungen auf den möglichen Wiederaufbau einer kämpfenden Linken.
Die faschistische Front National wurde zwar etwas im Zaum gehalten, errang aber immer noch acht Sitze, verglichen mit ihren früheren zwei. Das ist immer noch besorgniserregend, vor allem erreichten ihre Kandidaten in der ersten Runde in zwanzig verschiedenen Städten den ersten Platz. Die radikale Linke „La France Insoumise“ (Aufsässiges Frankreich) errang 17 Sitze und die Kommunistische Partei zehn Sitze statt bisher sieben. La France Insoumise (FI) könnte jetzt zum Fokus einer kämpfenden linken Alternative werden.
Polarisierung in Frankreich
Insgesamt bestätigt die zweite Runde der Parlamentswahlen am 18. Juni das Bild von Verunsicherung und Polarisierung als zentrale Merkmale der politischen Lage in Frankreich. Schon die Präsidentschaftswahlen im Mai zeigten die enorme Polarisierung der politischen Landschaft Frankreichs. Die in der ersten Runde abgegebenen sieben Millionen Stimmen für die faschistische Marine Le Pen rückten ihre Front National in den Mittelpunkt der politischen Debatte. Zugleich vereinte das linksradikale Programm von Jean-Luc Mélanchon und seiner „La France Insoumise“ ebenfalls beachtliche sieben Millionen Stimmen auf sich. Währenddessen fielen jene Parteien, die Frankreich seit Jahrzehnten regiert haben, die Sozialisten und die Republikaner, drastisch zurück, während revolutionäre Organisationen, die eigene Kandidaten aufgestellt hatten, zunehmend an den Rand gedrängt wurden.
Macron ist ein schwacher Sieger
In der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen fiel der Sieg auf Emmanuel Macron – radikaler Wirtschaftsliberaler auf ökonomischem Gebiet und Modernisierer in der Gesellschaftspolitik. Er ist weniger als andere dem postkolonialen und anti-muslimischen Rassismus verbunden – Macron erklärte sogar erst vor wenigen Wochen, der Kolonialismus sein ein „Verbrechen gegen die Menschheit“ gewesen. Um als neu gewählter Präsident sein Programm durchzusetzen, vor allem seine Priorität Nummer eins der Zerschlagung der Arbeiterschutzgesetze, brauchte er eine parlamentarische Mehrheit. Ihm fehlte allerdings eine wirkliche Parteimaschine, nachdem er sich von der Sozialistischen Partei abgespalten hatte, um seine opportunistische „weder links noch rechts“ „Republik in Bewegung“ zu gründen. Seine Wette hat sich ausgezahlt, vorerst.
Wer ist die Partei von Macron?
Macrons Partei, Die Republik in Bewegung, entfaltete nach ihrem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen eine mächtige Dynamik und konnte Wähler und Wählerinnen sowohl von der Sozialistischen Partei als auch von den konservativen Republikanern gewinnen. Unter ihren 525 Kandidaten waren 80, die die SP verlassen hatten, um mit Macron zu kandidieren, und 40 aus den Reihen der traditionellen Konservativen. Macron hebt gern hervor, dass mehr als die Hälfte seiner Kandidaten noch nie Abgeordnete waren, nicht mal auf kommunaler Ebene. Aber an seiner Erneuerung sind nur wenige Kandidaten aus der Arbeiterklasse beteiligt: Nur zwei der 525 sind Fabrikarbeiter, 11 sind Bauern, 87 Lehrer, 71 Unternehmensberater und 156 selbst Unternehmer! Er beansprucht das Image der Erneuerung, bestärkt durch sein eigenes junges Alter von 39 Jahren. Außerdem erhielt er viele Stimmen aus jenen Teilen der Bevölkerung, die sich nach politischer Stabilität sehnen und für Macrons Partei bei den Parlamentswahlen stimmten, um ihm als Präsidenten „eine Chance zu geben“.
Macron will harte neoliberale Angriffe
Währenddessen liefern uns seine ersten Wochen im Amt gut Gründe, ihn zu bekämpfen. Er hat eine Reform der Arbeitsgesetzgebung (bestehend im Wesentlichen aus Gesetzen zum Schutz der Arbeiter und Arbeiterinnen durch minimale Standards auf nationaler Ebene in Bezug auf Arbeitsbedingungen, Gesundheit und Sicherheit, Entlassungen, gewerkschaftliche Vertretung usw.) zu seiner obersten Priorität erklärt. Er will mehr Sonntagsarbeit und Nachtschichten erlauben. Er hat verkündet, diese „Reformen“ (sprich Angriffe) nach dem Sommer zu verabschieden – ohne Parlamentsdebatte. Er hat es natürlich vermieden, zu viele Details seiner neoliberalen Pläne bekannt zu geben, und hat vielfältige „Beratungsgespräche“ initiiert, um einige der Gewerkschaftsführer mit an Bord zu bekommen, aber die Bedrohung ist klar.
Von Arbeitslosengeldkürzungen bis Angriffe auf die Rente
Aber auch ohne Details sind die Andeutungen schauderhaft. Er spricht beispielsweise von Arbeitslosengeldkürzungen im Fall der Ablehnung von zwei Jobangeboten. Er hat verkündet, die Arbeiterbeiträge für die Sozialversicherung abzuschaffen, „um eure Kaufkraft zu erhöhen“, sagt aber nicht, aus welchen sonstigen Quellen er die Gesundheits- und Rentenkassen finanzieren will. Er plant weitere Rentenkürzungen im öffentlichen Dienst, die sich derzeigt an dem letzten Verdienst richten, indem er weiter zurückliegende Zeiten einbezieht. Er verspricht, Kommunalgebühren zu streichen, auch hier „um wieder Geld in eure Taschen zu stecken“, verrät aber nicht, woher er das Geld für öffentliche Dienstleistungen nehmen will.
Macron ist ein Amateur
Macrons Durchbruch hat zum Austausch von Hunderten von etablierten Politikerinnen und Politikern geführt, die seit zwanzig Jahren schon den Neoliberalismus managen und dafür oft verhasst sind. Aber der Personalwechsel hat uns keine Regierung mit neuen Ideen beschert: Macron ist ein Bewunderer Thatchers und folgt ihrem Beispiel mit einer noch eifrigeren Anbetung des Marktes und der Zerstörung, der in seinen Augen falschen Ideen der Öffentliche Daseinsvorsorge und Verstaatlichung. Die französische herrschende Klasse hätte es dennoch bevorzugt, wenn die etablierten Parteien ihren Platz behalten hätten, denn der neue Fahnenträger ist ein Amateur.
Die radikale Linke unter Macron
Die radikale Linke von „La France Insoumise“ erreichte 11 Prozent in der ersten Runde (nach ihren 20 Prozent bei den Präsidentschaftswahlen) – eine Folge der extrem niedrigen Wahlbeteiligung, aber auch davon, dass kein Wahlbündnis mit der Kommunistischen Partei zustande kam. Die KP, stolz auf ihre realen aber begrenzten Leistungen auf kommunaler und regionaler Ebene, betrachtete „La France Insoumise“ als bloßen Spätankömmling, während viele Unterstützer von „La France Insoumise“ wiederum die traditionellen Allianzen der KP mit den Sozialisten auf verschiedenen Ebenen nicht akzeptieren wollten. Sektiererischer Streit zwischen beiden sind traurigerweise alltäglich. Dennoch ist La France Insoumise mittlerweile die bei weitem wichtigste Kraft in der gegen die Auseritätspolitik organisierten Linken. Die große Beliebtheit ihres Programms (das sich weiter links positioniert als Corbyns) zeigt ganz klar den Spielraum für eine neue linke Bewegung. Die FI-Kampagnenengruppen im ganzen Land zogen viele neue Aktivisten an sich, 75 Kandidaten stellten sich bei der zweiten Runde auf. Die Bewegung, die es vor fünf Jahren nicht mal gab, stellt nun 17 Abgeordnete. Die Kommunisten erhielten 2,7 Prozent in der ersten Runde und stellen nun zehn Abgeordnete.
Das Potenzial für Widerstand
Natürlich ist Macrons Sieg eine sehr unwillkommene Nachricht. Aber die Zeichen stehen gut, dass der Widerstand von unten ihm sein Leben sehr schwer machen wird. Wegen des Wahlsystems und der hohen Wahlenthaltung basiert Macrons große Parlamentsmehrheit auf lediglich 16 Prozent der Wahlberechtigten! Der Anteil der Wähler, die für die Partei eines neu gewählten Präsidenten gestimmt haben, war seit Jahrzehnten nicht so niedrig. Und seine Angriffe auf den Sozialstaat werden nach Meinungsumfragen von 50 Prozent der Bevölkerung abgelehnt. Das Potenzial für Widerstand liegt auf der Hand. Schon am Tag nach seinem Wahlsieg als Präsident gab es große Gegendemonstrationen. Die Polarisierung wird weiter gehen – trotz des momentanen Siegs des „Zentrums“. Was La France Insoumise als radikale linke Organisation aufbauen kann, nachdem die Sozialistische Partei darniederliegt, wird ein entscheidendes Projekt sein, an dem sich alle Antikapitalistinnen und Antikapitalisten beteiligen sollten. Das erfordert sowohl unabhängige revolutionäre Analyse und Organisierung, als auch den Aufbau einer breiteren politischen Bewegung, deren Zukunft noch nicht geschrieben wurde.
Zum Text: Der Text wurde zuerst auf Englisch auf dem Blog www.johnmullenagen.blogspot.fr/ veröffentlicht. Übersetzung aus dem Englischen von David Paenson, erschien erstmals auf marx21.
Zum Autor: John Mullen ist Aktivist in der Pariser Region und Mitglied der antikapitalistischen Gruppe »Ensemble« (Zusammen).