Teil 2 der Artikelreihe Ökosozialistische Strategien im Anthropozän
In Teil 1 der Artikelreihe Ökosozialistische Strategien im Anthropozän skizzierte ich die wesentlichen bereits laufenden Klimaveränderungen und die Szenarien des IPCC über die Entwicklung bis 2100. In diesem Teil 2 verdichte ich die Befunde des IPCC, um so die Konsequenzen der Erderhitzung in den kommenden Jahrzehnten darzustellen. Die Orientierung der Regierungen auf „Netto Null“ ist zurückzuweisen, weil sie die Herausforderungen nicht angeht, sondern die Probleme verschärft.
Die kommenden Jahrzehnte
Der 6. Sachstandsbericht des IPCC über die physischen Prozesse zeigt deutlich, dass sich die Veränderungen des Klimas in den letzten Jahrzehnten beschleunigt haben und sich in den kommenden Jahrzehnten weiter verschärfen werden. Anhand des mittleren Szenarios SSP2-4.5 und des Niedrigemissionszenarios SSP1-1.9 lässt sich die Entwicklung der unmittelbaren Zukunft abschätzen. Die gegenwärtige Politik der Regierungen und herrschenden Kapitalfraktionen, die nicht einmal ihre eigenen – ungenügenden – Versprechungen einhalten, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Szenarien mit höheren Treibhausgasemissionen die wirkliche Entwicklung besser erfassen.
Am 28. September publizierte die OPEC in ihrem Bericht World Oil Outlook 2045 Prognosen zum künftigen Verbrauch fossiler Energieträger, die sich dem Hochemissionsszenario SSP3-7.0 annähern. Der Primärölverbrauch werde von 2020 bis 2045 von 82,5 auf 99 Millionen Barrel Öläquivalente pro Tag ansteigen. Öl werde auch 2045 die wichtigste Energiequelle sein, wobei dessen Anteil nur geringfügig von 30 Prozent im Jahr 2020 auf 28 Prozent im Jahr 2045 sinken werde. Daher würden die durch die Erdölverbrennung verursachten jährlichen CO2-Emissionen von derzeit 11,2 Gigatonnen bis 2045 auf 13,3 Gigatonnen ansteigen. Auch jene von Gas würden weiter in die Höhe klettern, von 6,9 auf 9,2 Gigatonnen jährlich. Die CO2-Emissionen von Kohle würden dagegen von 14,2 auf 11,9 Gigatonnen leicht sinken. In Summe würden die energiebezogenen CO2-Emissionen bis 2032 weiter ansteigen und anschließend bis 2045 nur leicht sinken.[1] Das liefe darauf hinaus, dass der Zusammenbruch des Klimasystems und dessen Wirkungen noch schlimmer wären, als nachfolgend beschrieben.
- Die globale durchschnittliche Oberflächentemperatur wird, wenn die Regierungen ihre Emissionsreduktionspläne umsetzen, bereits gegen 2100 gemäß bester Schätzung um 2,7° Celsius (2,1 bis 3,5° Celsius) im Vergleich zu 1850–1900 ansteigen (das entspricht dem Szenario SSP2-4.5).[2] Beim Szenario mit den niedrigsten Emissionen (SSP1-1.9) wird dieser Wert um das Jahr 2050 zunächst um 1,6° Celsius ansteigen und dann um das Jahr 2090 wieder auf 1,4° Celsius absinken. Die Erwärmung steigt auf den Landflächen jedoch rund anderthalb Mal stärker; in vielen Regionen noch deutlicher stärker. Die Arktis würde sich wahrscheinlich mehr als doppelt so schnell erwärmen im Vergleich zu den gemittelten Werten.[3] Auch der Alpenraum erwärmt sich bereits jetzt deutlich schneller. Die Gebirgs- und Grönlandgletscher werden sogar bei einem unwahrscheinlichen Niedrigemissionsszenario jahrzehntelang weiter schmelzen. Auch in der Antarktis wird das Schmelzen sogar im besten Falle weitergehen. Die zusätzliche Erwärmung wird den Permafrost weiter auftauen und damit zusätzlich Methan freisetzen. Daraus ergibt sich eine positive Rückkopplung der Erwärmung, die in den Modellen nicht vollständig berücksichtigt wird. Selbst für das ebenfalls zu optimistische Szenario (SSP1-2.6) mit den zweitniedrigsten Emissionen zeigen die Modelle im Vergleich zu den heutigen Bedingungen eine durchschnittliche Erwärmung von 2° bis 3° Celsius bereits in der Zeit von 2081 bis 2100 in weiten Teilen Eurasiens und Nordamerikas sowie eine Erwärmung von mehr als 4° Celsius in der Arktis.[4]
- Wetterextreme wurden seit 1950 häufiger und intensiver. Sie werden sich weiter verstärken, sogar wenn die globale Erwärmung bei 1,5° Celsius stabilisiert werden könnte.[5] Hitzewellen treten wesentlich häufiger auf, werden länger und eine weitere auch bloß bescheidene Erwärmung wird extreme Niederschlagsereignisse wahrscheinlich verstärken und ihre Häufigkeit erhöhen. Auch tropische Wirbelstürme werden intensiver und häufiger auftreten. In den meisten Regionen Afrikas und Asiens, Nordamerikas und Europas werden sich die intensiven Niederschläge wie auch die damit verbundenen Überschwemmungen voraussichtlich häufen und verstärken. Dürren werden sich auf allen Kontinenten außer Asien im Vergleich zu 1850–1900 verstärken und vervielfachen.
- Der Meeresspiegel wird beim unwahrscheinlichen Niedrigemissionsszenario in diesem Jahrhundert nahezu sicher bereits um 0,28 bis 0,55 Meter im Vergleich zu 1995–2014 ansteigen und sich danach weiter erhöhen. Bei einem der emissionsreichen Szenarien kann der Meeresspiegel bis 2100 sogar rund einen Meter ansteigen. Würde das ganze Eis an den Polen schmelzen, stiege der Meeresspiegel um rund 60 Meter an.[6] Überschwemmungen werden damit verbunden stärker und nehmen zu. Viele Menschen in Küstengebiete werden sich gezwungen sehen, ihre Wohngebiete zu verlassen. Die großen Megacitys an den Küsten sind akut gefährdet. Wenn der Meeresspiegel gemäß den mittleren Projektionen des IPCC steigt, werden bereits um 2050 mehrere Millionen Menschen nicht mehr in Alexandria und im Nildelta leben können. Die Landwirtschaft in Ägypten wird wegen der Versalzung bereits bis 2060 47 Prozent ihrer Anbauflächen verlieren.[7] Es ist offensichtlich, dass bereits in wenigen Jahrzehnten Millionen von Menschen diese Region verlassen werden.
- Die Erwärmung der Ozeane ist hochgradig relevant für die Erhitzung des Klimasystems. Allerdings erfolgt sie langsamer als auf den Landoberflächen. Die Erwärmung der Ozeane hat sich in den letzten Jahrzehnten beschleunigt und wird für den Rest des 21. Jahrhunderts im Falle eines günstigeren Szenarios (SSP1-2.6) 2–4-mal oder bei einem emissionsreichen Szenario (SSP5-8.5) sogar 4–8-mal stärker sein als zwischen 1971 und 2018. Die Schichtung der Ozeane, die Versauerung und der Sauerstoffmangel werden, allerdings räumlich stark differenziert, weiter zunehmen – einschließlich der Herausbildung sogenannter Todeszonen. Alle drei Phänomene wirken sich irreversibel negativ für das Leben im Meer aus. Allerdings berücksichtigen die Modelle sprunghafte Prozesse wie beispielsweise eine Destabilisierung des Eisschildes in der Antarktis und in Grönland nicht. [8]
- Selbst beim 1,6-Grad-Szenario sind abrupte Reaktionen und das Überschreiten von Kipppunkten – wie das verstärkte Abschmelzen der Antarktis und das Absterben von Wäldern – nicht auszuschließen. Gemäß jüngsten Studien hat sich die atlantische meridionale Umwälzzirkulation (Atlantic Meridional Overturning Circulation, AMOC), die durch Dichteunterschiede im Ozean angetrieben wird, seit Mitte des 20. Jahrhunderts deutlich abgeschwächt. Deren Zusammenbruch und damit auch ein Zusammenbrechen des Golfstroms sind möglich. Das Golfstrom-System könnte sich bis Ende des Jahrhunderts so stark abschwächen, dass es instabil wird.[9] Auch der IPCC schließt einen derartigen abrupten Zusammenbruch der AMOC nicht aus, hält ihn in diesem Jahrhundert allerdings für unwahrscheinlich. Ein Zusammenbruch würde höchstwahrscheinlich zu abrupten Veränderungen des kontinentalen Klimas und des Wasserkreislaufs mit unermesslichen gesellschaftlichen Konsequenzen führen. Beispielsweise könnten eine Verschiebung des tropischen Regengürtels nach Süden, eine Abschwächung des afrikanischen und asiatischen Monsuns sowie eine Verstärkung der Monsune in der südlichen Hemisphäre eintreten. Ein Kollaps könne durch ein unerwartetes Einströmen von Schmelzwasser vom grönländischen Eisschild ausgelöst werden.[10]
- Für die gesellschaftliche Dynamik ist wichtig, dass diese Prozesse abrupte Veränderungen auslösen, also aus der Quantität eine neue Qualität entsteht.[11] Zudem sind die plötzlichen und überraschenden Ereignisse zu bedenken. Sehr seltene, aber extreme und kombinierte Ereignisse wie beispielsweise die Hitzewellen 2018 auf der nördlichen Hemisphäre, in Indien 2019, die Brände in Australien 2019–2020, in Sibirien, an der nordamerikanischen Westküste und in der Mittelmeerregion im Sommer 2021 hatten und haben jeweils enorme Auswirkungen. Die Erderhitzung erhöht die Wahrscheinlichkeit solcher Extremereignisse. Zudem werden sich Ereignisse häufen, die bislang noch unbekannt sind.[12]
An dieser Stelle seien nur beispielhaft einige der sich selbstverstärkenden Prozesse genannt. Der Abbruch der gigantischen Thwaites- oder Tottengletscher in der Antarktis und der Gletscher Grönlands würde zu einem massiven Anstieg des Meeresspiegels führen. Mit der Freisetzung von Methan durch ein Auftauen der Permafrostböden verstärkt sich der Treibhausgaseffekt. Im Gegenzug könnte das verstärkte Pflanzenwachstum aufgrund höherer Temperaturen CO2 absorbieren. Die Erwärmung der Ozeane vermindert ihre Kapazität, CO2 zu binden. Ein Zusammenbruch der atlantischen meridionalen Umwälzzirkulation würde das Klima weltweit verändern. Das Amazonas-Gebiet emittiert aufgrund der ständig neue Rekordhöhen erreichenden Brandrodungen mehr CO2, als es absorbiert, und treibt damit nun die Erderhitzung zusätzlich an.[13]
Es ist offensichtlich, dass die Weltgesellschaft auf Brüche im Erdsystem zusteuert. Weite Teile der Erde und davon zahlreiche Megacitys werden wahrscheinlich bereits in wenigen Jahrzehnten nicht mehr bewohnbar sein. Dauert die gegenwärtige Klimapolitik an, wird sich in den kommenden 50 Jahren die Temperaturnische, innerhalb der sich die menschliche Gesellschaft entwickeln konnte, stärker verändern als jemals in den letzten 6.000 Jahren. Je nach Bevölkerungszunahme und Erderhitzung werden eine bis drei Milliarden Menschen nicht mehr unter klimatischen Bedingungen leben, wie sie in den letzten 6.000 Jahren bestanden. Ein Drittel der Weltbevölkerung wird ohne Berücksichtigung von Migrationsbewegungen voraussichtlich einer mittleren Jahrestemperatur von mehr als 29° Celsius ausgesetzt sein, die derzeit nur auf 0,8 Prozent der Landoberfläche der Erde zu finden ist und sich hauptsächlich auf die Sahara konzentriert. Die potenziell am stärksten betroffenen Regionen zählen zu den ärmsten der Welt.[14] Unermesslich schwerwiegender als in der weiterhin andauernden Coronapandemie wird dieser Prozess auf die Auslöschung eines Teils der armen Weltbevölkerung hinauslaufen.
Ablenkungsmanöver „Netto-Null-Emissionen“
Die Regierungen sprechen von „Netto-Null-Emissionen“, während sich ihr Diskurs zunehmend in Richtung Anpassungsstrategien anstelle von wirksamen Maßnahmen gegen die Erderhitzung verschiebt. Hinter dem „Netto Null“ verbirgt sich allerdings ein großes Ablenkungsmanöver, dem leider auch die Klimabewegung und linke Parteien teilweise erliegen, wenn sie den Begriff unhinterfragt übernehmen. „Netto-Null“ wird in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet. Unternehmen behaupten, sie könnten ihre Geschäfte bald mit Netto-Null-Emissionen verrichten. Regierungen präsentieren Netto-Null-Pläne. Das schließt immer ein, dass Unternehmen und Staaten durch Projekte in anderen Ländern, die angeblich oder tatsächlich Treibhausgasemissionen mindern oder CO2 binden, ihr eigenes Emissionskonto aufpolieren und weiterhin Treibhausgase emittieren. Der IPCC und andere Institutionen verwenden den Begriff Netto-Null-Emissionen ebenfalls. Sie sprechen damit die Bilanz der Emissionen im Weltmaßstab an. Fast alle Netto-Null-Szenarien gehen davon aus, dass Technologien eingesetzt werden, die CO2 abscheiden und speichern. Entscheidend ist, dass die „Netto-Null-Strategien“ damit verbunden sind, dass riesige Landflächen in den abhängigen und armen Ländern angeeignet und genutzt werden, um Kohlenstoffemissionen aufzufangen, so dass die größten Emittenten in den imperialistischen Ländern die nötige Senkung ihrer eigenen Emissionen teilweise vermeiden können.[15] Mit der Rede von „Netto Null“ wollen die Regierungen und Konzerne die erforderliche rasche Senkung der Emissionen verzögern. Dieses Manöver kommt vor allem jenen Konzernen und Ländern zugute, die ihre Emissionen radikal reduzieren müssen. Die „Netto Null“-Rhetorik trägt dazu bei, die Hoffnungen auf eine technische Rettung zu setzen und die Dringlichkeit eines radikalen Wirtschaftsumbaus zu verleugnen.[16]
Derartige Kompensationsstrategien würden zu einer explosionsartigen Zunahme der Landnachfrage führen. Weil die Emissionen nur ungenügend reduziert würden, müssten gemäß dem „Net‐Zero Emissions by 2050“-Szenario der IEA jährlich 7,6 Gigatonnen CO2 industriell gebunden und unter der Erde gespeichert werden. Zusätzlich müsste die Produktion von Biomasse bis 2050 versechsfacht werden. Ein bedeutender Anteil elektrischer Energie müsste über BECCS, also die Verbrennung von Biomasse mit Abscheidung und Speicherung des CO2, gewonnen werden.[17]
Die industriellen Wälder und Anpflanzungen zur CO2-Bindung würden in Konkurrenz zur Nahrungsmittelherstellung geraten und somit den Hunger in jenen dafür genutzten Regionen verschlimmern. Diese Entwicklung beruht auf einer massiven Zunahme der ungleichen Verteilung von Land und damit der Verarmung und Vertreibung von Menschen in den betroffenen Ländern. Auch dieser Sachverhalt zeigt brutal: Ein „grüner“ Kapitalismus verstärkt die imperialistische Ausplünderung und Rivalität. Die grün-kapitalistische Modernisierung wird Prozesse der Barbarei und neokolonialer Ausplünderung befördern. Die meisten Vorschläge des Green New Deal sprechen diese Sachverhalte nicht an. Auch linke Green New Deals bleiben eine Illusion, weil sie ökonomisch widersinnig und ökologisch ungenügend sind. Das habe ich in einem Artikel in der Zeitschrift Prokla detailliert ausgeführt.[18]
Nicht-lineare Entwicklungen in Natur und Gesellschaft
Der Entwurf des 6. Sachstandsberichts des IPCC zu den physischen Grundlagen der sich rasch beschleunigenden Erderhitzung macht deutlich, dass die Erderhitzung bereits eine Verkettung unzähliger kleiner und großer gesellschaftlicher Katastrophen auslöst. Die Emissionsreduktionspläne der Regierungen sind komplett ungenügend. Und es bleibt hochgradig unsicher, ob diese ihre ungenügenden Pläne überhaupt umsetzen. Die OPEC beispielsweise prognostiziert für 2045 eine höhere weltweite Ölnachfrage als 2020. Eine Stabilisierung der Erderhitzung auf 1,5° Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit ist daher unter den gegebenen Bedingungen komplett unrealistisch. Weit wahrscheinlicher ist ein Pfad hin zu einer Erwärmung von mindestens 3 bis 4° Celsius.
Die Erderwärmung sowie die Dynamiken des Erdsystems sind nichtlineare Prozesse. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kipppunkte überschritten werden und damit unkontrollierbare Eigendynamiken entstehen, nimmt nach einer Erwärmung von mehr als 1,5° Celsius deutlich zu. Die erdsystemaren Prozesse werden instabil und mit dem Überschreiten von Kipppunkten ergeben sich selbstverstärkende Wirkungsketten, die sich nicht mehr unter Kontrolle bringen lassen. Das Erdsystem verändert sich buchstäblich sprunghaft. Aus der Quantität von Veränderungen entsteht eine neue Qualität. In der Erdsystemforschung sind mehrere solcher Kipppunkte in der Diskussion. Sie sind auch für den IPCC eine wichtige Herausforderung, obwohl sie sich kaum bis gar nicht modellieren lassen.[19]
Das Budget der Treibhausgasemissionen ist in den imperialistischen Ländern, die historisch die Hauptverantwortung für die Erderhitzung tragen, aufgebraucht. Wenn sich die Temperatur noch etwas mehr erhöht, drohen genannte Kipppunkte, erreicht zu werden, die eine verhängnisvolle Eigendynamik auslösen und die Erderhitzung zusätzlich antreiben. Eine derartige Kaskade von sich gegenseitig verstärkenden Mechanismen führt dazu, dass sich die Erde zu einem heißen Planeten entwickelt, der für die gegenwärtigen menschlichen Gesellschaften wie auch für viele weitere Arten nur noch eingeschränkt bewohnbar ist.[20]
Die Erderhitzung ist aber nur eine von mehreren planetaren Grenzen, die kapitalistische Weltgesellschaft überschritten hat oder dabei ist zu überschreiten. Der Verlust der Biodiversität, die Versauerung der Ozeane, Landnutzungsänderungen durch Abholzung sowie der Stickstoff- und Phosphoreintrag in die Biosphäre und Atmosphäre stellen ebenfalls existenzielle Herausforderungen dar.[21]
Durch die Berichte des IPCC zieht sich allerdings ein grundlegender Widerspruch. Einerseits zeigen sie mit aller Deutlichkeit, dass sich das Klimasystem ruckartig qualitativ so stark verändert, dass es die Erde und damit auch die Weltgesellschaft in eine völlig neue Situation führt. Andererseits gehen die Autor:innen der Berichte davon aus, dass die gesellschaftlichen Bedingungen andauern werden. Sie nehmen die kapitalistischen Verhältnisse als zwingend gegeben an. Das entspricht einem linearen und deterministischen Verständnis der gesellschaftlichen Entwicklung, was widersinnig ist. Zugleich modellieren die Autor:innen der IPCC-Berichte den massiven Einsatz von Kernenergie sowie von CO2-Abscheide- und Speicherungstechnologien, die noch nicht ausgereift sind oder noch nicht einmal existieren. Deren Einsatz ist mit unermesslichen gesellschaftlichen Risiken verbunden. Auch das ist widersinnig und Ausdruck des deterministischen Gesellschaftsverständnisses. Noch nicht existierende Technologien erscheinen paradoxerweise als realistischer als gesellschaftliche Veränderungen, die eigentlich „nur“ Machtverhältnisse umstoßen und die gesellschaftliche Organisation der Menschen verändern würden. Solche abrupten gesellschaftlichen Veränderungen oder gar Revolutionen gab es oft in der Geschichte und sind demnach eigentlich realistischer als die Wette auf nichtexistierende Technologien.
Die Erderhitzung und die Brüche im Erdsystem im Anthropozän-Kapitalismus sind ebenso wie die kapitalistische Weltwirtschaft nur als planetare Totalität zu verstehen, obwohl sich diese räumlich und gesellschaftlich ausgesprochen ungleich durchsetzt. Historisch und global betrachtet tragen die frühindustrialisierten imperialistischen Länder die Hauptschuld für die Erderhitzung. Mit dem Anthropozän-Kapitalismus treten wir in eine Phase voller Ungewissheiten und Instabilitäten. Die Dynamiken des Erdsystems mit seinen Kipppunkten werden den Gesellschaften abrupte Veränderungen aufzwingen. Pandemien sowie gesellschaftliche Katastrophen durch Dürren, Überschwemmungen und Hitzeperioden werden auf der Tagesordnung stehen und politische Auseinandersetzungen prägen.
Dennoch zeichnet die Arbeit vieler naturwissenschaftlicher Forscher:innen eine inhärente Radikalität aus. Sie zeigen mit ihren Forschungsergebnissen, dass eine Fortsetzung der bisherigen Entwicklung unweigerlich in eine zahllose Verkettung gesellschaftlicher Katastrophen münden wird. Sie treten öffentlich auf, sie warnen Politiker:innen, Konzernleitungen und die Gesellschaft vor den Konsequenzen unseres unangemessenen Handelns. Ganz ähnlich warnen seit Anfang 2020 Virolog:innen, Epidemiolog:innen, Mediziner:innen und Physiker:innen die Gesellschaft vor den Konsequenzen, wenn es nicht gelingt, die Ansteckungsketten in der Pandemie zu brechen. Viele Naturwissenschaftler:innen leiten aus ihren Befunden ab, dass die Gesellschaft kollektiv handeln und letztlich anders leben und produzieren muss. Die Unruhe bei Wissenschaftler:innen zeigt sich auch darin, dass Teile des Berichtsentwurfs der Arbeitsgruppe III des IPCC vorab den Medien zugespielt wurden. Dummerweise strafen viele kritische Sozialwissenschaftler:innen, Aktive in sozialen Bewegungen und sozialistische Parteien die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse mit Ignoranz. Sie erkennen das Potential zur Entwicklung einer gemeinsamen gemeinsamen – auch wissenschaftlich begründeten – Kritik an den kapitalistischen Verhältnissen nicht, weil sie ihr Denken selbst den kapitalistischen Zwängen und der vermeintlichen Stabilität der bürgerlichen Ordnung unterworfen haben. Unsinnigerweise halten sie kapitalistische Zwänge für relevanter als naturgesetzliche Zusammenhänge.
Die grün-kapitalistische Modernisierung verschärft die neokoloniale Ausplünderung und die innerimperialistische Rivalität. Diese Entwicklung eines imperialistischen „grünen“ Kapitalismus gilt es zu stoppen. „Netto Null“ ist Bestandteil einer imperialistischen Klimapolitik. Die Klimabewegung sollte sich diesem Ablenkungsmanöver widersetzen.
Keine einzige Regierung der Welt handelt derzeit angemessen. Nichts deutet momentan darauf hin, dass die dominierenden Kapitalfraktionen und ihre Regierungen das Steuer herumreißen werden. Zu wirkungsmächtig sind die Zwänge des Profits und des kapitalistischen Wettbewerbs. Nicht einmal die Parteien, die für eine sozial-ökologische Reform eintreten, haben den Ernst der Lage erkannt. Es gilt, die Glaubwürdigkeit und Legitimität der Herrschenden und Regierenden in Frage zu stellen. Darum muss die Klimagerechtigkeitsbewegung dringend Strategien entwickeln, die auf den Aufbau stabiler Gegenmachtstrukturen zielen. Erst auf der Grundlage einer umfassenden gesellschaftlichen Gegenmacht wird es möglich sein, die gesellschaftlichen Grundlagen der fossilen Treibhausgas-Ökonomie zu überwinden. Die Herausforderung ist gigantisch: Globale Massenbewegungen müssen einen historisch einmaligen Um- und Rückbau großer Teile des gesamten produktiven Apparats in den imperialistischen Ländern einschließlich China durchsetzen können. Ein derartig umfassender und schneller Wandel erfordert antikapitalistische und sozial-ökologische Strukturreformen, die ihrerseits in eine ökosozialistische Revolution münden.[22]
In Teil 3 der Reihe Ökosozialistische Strategien im Anthropozän wird der Autor zeigen, wie sich das kapitalistische Wirtschafts- und Herrschaftssystem im Anthropozän entwickelt. Warum allerdings nur eine revolutionäre Perspektive den Brüchen des Erdsystems im Anthropozän-Kapitalismus gerecht wird, wird in Teil 4 erklärt.
Quellen und Anmerkungen
[1] OPEC 2021:58, 66, 80f
[2] IPCC 2021: 1-100, 1-104
[3] IPCC 2021: SPM-19
[4] IPCC 2021: TS-39
[5] IPCC 2021: TS-48
[6] Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung 2021: Willkommen auf den Meeresspiegel-Seiten des PIK https://www.pik-potsdam.de/sealevel/de/
[7] Climate Central 2021; Earth.Org 2020
[8] IPCC 2021: SPM-14, SPM-28, TS-44, 2-75, 12-95
[9] Caesar, et al. 2021; Boers 2021
[10] IPCC 2021: TS-38, TS-39
[11] Die Tabelle 4.10 erörtert den Kenntnisstand über einige wichtige Kipppunkte (IPCC 2021: 4-96, table 4.10 ).
[12] IPCC 2021: Kasten 11.2, 9.6.4
[13] Gatti, et al. 2021
[14] Xu, et al. 2020
[15] Die NGO Oxfam hat zu diesem Thema am 3. August 2021 eine lesenswerte Studie vorgelegt. https://www.oxfam.org/en/research/tightening-net-implications-net-zero-climate-targets-land-and-food-equity
[16] Dyke, et al. 2021
[17] IEA 2021: 20, 27, 79-80, 107
[18] Siehe hierzu meine beiden Artikel über linke Green New Deal Projekte (Zeller 2021a, 2021b).
[19] Die Tabelle 4.10 erörtert den Kenntnisstand über einige wichtige Kipppunkte (IPCC 2021: 4-96, table 4.10 ).
[20] Steffen, et al. 2018
[21] Rockström, et al. 2009; Steffen, et al. 2015
[22] Zeller 2020
Literatur
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