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Kapitalismus und Katastrophen

Die COVID-19-Krise, die wir durchgemacht haben, ist keine Anomalie des Systems, sondern ein Aspekt seiner permanenten Krise, argumentiert Alex Callinicos.

„Das Ende ist in Sicht. Effektiv eingesetzte Tests könnten die soziale Distanzierung beschränken, bis die Impfstoffe eintreffen. (…) Nach weniger als einem Jahr über mehrere hochwirksamen Impfstoffe gegen dieses fürchterliche Virus zu verfügen, ist eine erstaunliche Leistung, die zu den größten Dingen gehört, die wir – damit meine ich sowohl die Menschheit im Allgemeinen als auch die Molekularbiologen im Speziellen – je vollbracht haben.“

So schrieb Rupert Beale vom Francis Crick Institute Anfang letzten Monats im London Review of Books. Bevor wir anfangen zu feiern sollten wir uns allerdings daran erinnern, dass vor einem Jahr die Möglichkeit, dass die Welt von einer Pandemie heimgesucht werden könnte, die Millionen von Menschen töten und den schlimmsten Wirtschaftseinbruch seit den 1930er Jahren auslösen würde, jenseits der Vorstellungskraft fast von uns allen lag.

Beale beendet seinen Artikel mit einer Warnung: „Wir haben uns geschickt angestellt, aber wir haben auch Glück gehabt. Ein Impfstoff gegen Sars-CoV-2 ist relativ leicht zu entwickeln. Das Virus, das die nächste Pandemie auslöst, ist vielleicht nicht so nachsichtig mit uns.“ Die jüngste rasante Ausbreitung von Infektionen durch das Auftreten eines neuen Covid-19-Stammes ist eine düstere Erinnerung an die Grenzen unserer Fähigkeit, die Natur zu verstehen – geschweige denn, sie zu kontrollieren.

Wir sollten es jetzt also besser wissen. Viele von uns haben bedeutende Marxisten wie Mike Davis und Rob Wallace gelesen, die seit Jahren davor warnen, dass die Zerstörung der Natur durch den Kapitalismus die Voraussetzungen für Pandemien wie COVID-19 schafft. Diese konkrete Pandemie mag vielleicht nicht vorhersehbar gewesen sein, doch dass es Pandemien (im Plural) geben würde, die mit der Spanischen Grippe von 1918/19 vergleichbar sind, die zwischen 50 und 100 Millionen Menschen tötete, war sicher.

Der Welthistoriker W. H. McNeill schrieb in seinem Klassiker Plagues and Peoples (1976): „Es ist immer möglich, dass ein bisher unbekannter parasitärer Organismus aus seiner gewohnten ökologischen Nische ausbricht und die dichten menschlichen Populationen, die zu einem so auffälligen Merkmal der Erde geworden sind, einer neuen und möglicherweise verheerenden Sterblichkeit aussetzt.“ Wie McNeill erkannt hat, ist die Beziehung zwischen den Menschen und ihren Mikroparasiten – Viren und Bakterien – nicht stabil. Im Zeitalter des Neoliberalismus hat der Kapitalismus die Landwirtschaft weltweit industrialisiert und ist in die verbliebenen Wildnisgebiete eingedrungen. Jetzt beginnen wir, die Ergebnisse zu sehen.

Die Katastrophe ist nicht mehr die Ausnahme, sondern der Normalfall. Dies dringt in die Mainstream-Planungen ein. Die Brookings Institution, eine intellektuelle Hochburg der Demokratischen Partei in den USA, hat einen Aufruf an die neue Regierung von Joe Biden veröffentlicht, eine Kommission zu COVID-19 einzusetzen, vergleichbar mit den Untersuchungen des Kennedy-Attentats und der Anschläge vom 11. September.

Die Autorin und Thinktankerin Elaine Kamarck sagt, dass diese Kommission nicht einfach Donald Trump zur Rechenschaft ziehen würde, sondern sich mit der Frage beschäftigen sollte, „wie wir uns auf Ereignisse mit hoher Intensität und geringer Wahrscheinlichkeit vorbereiten sollten“. Diese so genannten „schwarzen Schwäne“ sind selten und unvorhersehbar, fallen aus dem normalen Muster der Ereignisse heraus, haben aber eine große zerstörerische Wirkung und sie „scheinen im 21. Jahrhundert immer häufiger aufzutreten“. „Der Klimawandel wird zum Beispiel dazu führen, dass Naturkatastrophen häufiger und tödlicher werden“.

Dies ist nicht nur eine intellektuelle und politische Herausforderung für die herrschenden Klassen weltweit. Es setzt auch den Marxismus enorm unter Druck. Das bedeutet nicht, dass wir keine Strategien haben, Katastrophen zu denken und zu analysieren. Sie wurden von Rosa Luxemburg in ihrer Junius-Broschüre (1916) gegen den Ersten Weltkrieg klassisch formuliert: „Wir stehen also heute, genau wie Friedrich Engels vor einem Menschenalter, vor vierzig Jahren, voraussagte, vor der Wahl: entweder Triumph des Imperialismus und Untergang jeglicher Kultur, wie im alten Rom, Entvölkerung, Verödung, Degeneration, ein großer Friedhof; oder Sieg des Sozialismus, das heißt der bewussten Kampfaktion des internationalen Proletariats gegen den Imperialismus und seine Methode: den Krieg.“[1]

Oder mit anderen Worten: Sozialismus oder Barbarei. Und in der Tat nannte Eric Hobsbawm die Zeit zwischen 1914 und 1945 „das Zeitalter der Katastrophe“ – die beiden Weltkriege, die Weltwirtschaftskrise, die Siege des Faschismus und des Nationalsozialismus, den Triumph des Stalinismus, den Holocaust. Luxemburg spürte die Tragweite dieser Kette von Katastrophen, deren frühes Opfer sie war, als sie im Januar 1919 von einer protofaschistischen Miliz zu Tode geprügelt wurde, am eigenen Leib.

Doch nach 1945 baute sich der fortgeschrittene Kapitalismus unter der Aufsicht der Vereinigten Staaten in Westeuropa und Japan wieder auf, und die Weltwirtschaft erlebte ihren größten Aufschwung. Die Arbeiter*innenklasse im reichen Norden hörte nicht auf zu kämpfen, doch sie erlebte ein Vierteljahrhundert der Vollbeschäftigung und eines wachsenden Wohlfahrtsstaats. Die großen Katastrophen waren im Westen auf dem Rückzug – in Korea Anfang der 1950er Jahre, in Indonesien Mitte der 1960er Jahre und in Indochina blieben sie jedoch bis Ende der 1970er Jahre grausame Realität.

Die 1970er Jahre markierten den Beginn einer neuen Ära langanhaltender Wirtschaftskrisen, die Michael Roberts als „Lange Depression“ bezeichnet. Der Neoliberalismus war die Antwort der herrschenden Klasse, die der organisierten Arbeiter*innenklasse eine Reihe schwerer Niederlagen zufügte, die Produktion umstrukturierte (und damit die Industrialisierung von Teilen des Südens förderte) und alle Lebensbereiche unerbittlich modifizierte. Es gelang jedoch nicht, die Rentabilität in einem ausreichenden Maße wiederherzustellen, unter dem eine relativ stabile wirtschaftliche Expansion des Systems möglich gewesen wäre.

Das globale Wachstum wurde zunehmend durch die Entwicklung von Finanzblasen vorangetrieben, die Konsum und Investitionen anregten. Die westlichen Staaten haben stets dazu beigetragen, diese Blasen zu erzeugen, doch hängt seit dem Crash von 2007/2008 das Wachstum von der Zuführung neuen Geldes durch die Zentralbanken in das Finanzsystem ab. So werden die Vermögensmärkte angekurbelt, die Preise von Immobilien, Aktien und Anleihen wiederum in die Höhe getrieben und die Reichen immer reicher gemacht. Der neue Wirtschaftsgigant China hat seine eigene Version dieser Dynamik, die auf schuldenfinanzierten Investitionen in Exportindustrien beruht.

Die Grundvoraussetzung

1938 schrieb Leo Trotzki: „Die ökonomische Voraussetzung für die proletarische Revolution hat im Allgemeinen bereits den Höhepunkt der Fruchtbarkeit erreicht, der im Kapitalismus möglich ist. Die Produktivkräfte der Menschheit stagnieren. Neue Erfindungen und Verbesserungen schaffen es nicht länger, das Niveau des materiellen Reichtums zu erhöhen.“ Das stimmte damals nicht, und es stimmt auch heute nicht. Das Produktivitätswachstum verlangsamt sich zwar, weil die Investitionen in Ermangelung einer soliden Rentabilität stagnieren, doch die Produktivkräfte wachsen weiter, und Innovationen wie künstliche Intelligenz und Elektroautos drängen auch weiterhin auf den Markt. Die schnelle Entdeckung von COVID-19-Impfstoffen ist ein Beispiel für diese technologische Vitalität.

Doch der Kapitalismus zeigt alle Anzeichen, dass er in einer langfristigen wirtschaftlichen Sackgasse steckt. Der Neoliberalismus dominiert nach wie vor die Politik, doch liegen seine heroischen Zeiten längst hinter ihm. Er läuft auf Autopilot und wird verwaltet von Zentralbanken und Bürokratien wie der Europäischen Kommission. Daher kommt auch der Einbruch der extremen Rechten in die bürgerliche Politik, die sich die Unzufriedenheit zunutze machen, die durch die globale Finanzkrise und die endlosen neoliberalen „Reformen“ entstanden ist. Aber wie die Präsidentschaft von Trump gezeigt hat, haben diese Störenfriede kein kohärentes alternatives Wirtschaftsprogramm, wie es (auf unterschiedliche Art und Weise) Franklin Roosevelt und Adolf Hitler in den 1930er Jahren hatten.

Es ist eine Übertreibung zu sagen, dass das System zusammenbricht. Es ist zutreffender zu sagen, dass es zerstörerische Folgen hervorruft, mit denen es immer schwerer fertig wird. In den Jahrzehnten seit 1945 zeichnete sich die Katastrophe wie ein wachsender Schatten am Horizont ab. Schon vor langer Zeit wurde klar, dass – abgesehen von der ultimativen Katastrophe eines Atomkriegs, die über der Ära des Kalten Krieges (1946–1991) schwebte – die größte Bedrohung von der Art und Weise ausgeht, wie der blinde Prozess der ständigen Kapitalakkumulation die natürliche Welt zerstört, von der die Menschen nur ein abhängiger Teil sind.

Die wichtigste dieser Formen der Zerstörung (wenn auch, wie uns COVID-19 gelehrt hat, beileibe nicht die einzige) ist der Klimawandel. Ian Angus zeigt in seinem ausgezeichneten Buch Facing the Anthropocene, dass die globale Erwärmung nicht einfach eine langfristige Folge menschlicher Eingriffe in die Natur oder gar der wachsenden Abhängigkeit des Kapitalismus von fossilen Brennstoffen ist, die mit der industriellen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts begann. Die berühmten Hockeystick-Diagramme, die den Temperaturanstieg und seine Auswirkungen zeigen, sind erst Mitte des 20. Jahrhunderts richtig in Gang gekommen, und zwar dank der industrialisierten Kriegsführung von 1939–45, die buchstäblich mit Öl und Kohle angeheizt wurde, und der anschließenden Expansion dessen, was Andreas Malm als fossiles Kapital bezeichnet, im langen Nachkriegsboom und der Ausbreitung der Produktion nach Ostasien.

Die unvermeidliche Folge dieses Prozesses – der Klimawandel – wurde von Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen, einschließlich der wachsenden Schule der ökologischen Marxist*innen, lange vorhergesagt. Jetzt ist er da. Nehmen wir den Zyklon Idai, der im März 2019 in Ostafrika zu weitreichenden Überschwemmungen und Todesfällen führte. Ich [Alex Callinicos] bin in Simbabwe (damals Südrhodesien) aufgewachsen. Wir verbrachten unsere Ferien am Meer in Beira, einer Hafenstadt an der Küste des benachbarten Mosambiks. Idai setzte Beira sechs Meter unter Wasser, zerstörte neun Zehntel der Stadt und tötete tausend Menschen. Und wir erkennen hier ein viel größeres Muster. Nach Angaben der Vereinten Nationen waren 2020 in Ostafrika sechs Millionen Menschen von Überschwemmungen betroffen, fünfmal so viele wie noch vier Jahre zuvor.

Die Ausnahme wird zur Regel, zur neuen Normalität. Die Brände im Amazonas-Gebiet im Jahr 2019 lösten einen großen Schock aus. Seitdem hatten wir Waldbrände und Überschwemmungen in Australien, im Sommer gab es die Waldbrände an der Westküste der Vereinigten Staaten – Dunkelheit am Mittag in San Francisco. Natürlich können reiche Länder wie die USA und Australien mit solchen Katastrophen leichter fertig werden. Aber wie die Pandemie zeigt, haben Jahrzehnte der Privatisierung und der Sparmaßnahmen die staatlichen Kapazitäten ausgehöhlt, was es den Regierungen erschwert, wirksam reagieren zu können (vorausgesetzt, sie haben den Willen dazu, was bei Donald Trump und Boris Johnson eindeutig nicht der Fall war).

Die Pandemie hat auch ein Merkmal von Seuchen und Hungersnöten zum Vorschein gebracht, das so alt ist wie die Klassengesellschaft selbst. Die Armen sind weitaus anfälliger für Katastrophen, weil ihnen die Mittel fehlen, um sich aus der Gefahr herauszukaufen. Die Sterblichkeitszahlen für COVID-19 waren entlang Ethnie und Klasse kodiert. Auf der anderen Seite der Gleichung steht zum Beispiel die gestiegene Nachfrage nach Luxusjachten. Auf diesen können die Reichen die Infektionsherde meiden, ihre Geschäfte weiterführen und so noch mehr Reichtum anhäufen.

In diesen Gegensätzen und in dem unerbittlichen Druck auf viele Arbeiter, täglich ihr Leben zu riskieren, sehen wir, wie „die Normalisierung der Barbarei“, wie es die argentinische marxistische Philosophin Natalia Romé nennt, bis tief in die Poren der Gesellschaft vordringt. Wir können sehen, wie der große radikale Kritiker Walter Benjamin kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schrieb: „Der Ausnahmezustand, in dem wir leben, ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel.“

Der marxistische Denker, der sich am systematischsten mit der Katastrophe auseinandersetzte, war Theodor Adorno. Als deutscher Jude konnte er nach der Machtergreifung der Nazis aus Europa fliehen, anders als sein Freund und Mentor Benjamin, der Selbstmord beging, als er im September 1940 an der Flucht aus dem Vichy-Regime gehindert wurde. Adorno kehrte 1950 aus dem amerikanischen Exil nach Deutschland zurück, doch vergessen konnte er nie. In seinem philosophischen Meisterwerk Negative Dialektik (1966) schrieb er: „Zu definieren wäre der Weltgeist als permanente Katastrophe.“ Adorno machte deutlich, dass er mit „Weltgeist“ ironisch den Kapitalismus meinte. Im Zentrum seiner Katastrophenvorstellung standen der Nationalsozialismus und der Holocaust. Dennoch scheint sein Urteil genau richtig zu sein. Der Kapitalismus hat sich überlebt und ist zur „Dauerkatastrophe“ geworden, wenn auch – zumindest vorläufig – weniger in Form von staatlicher Gewalt als von Feuer, Flut und Pest.

Die Frage ist wie immer: Was ist zu tun? Das, was Adorno sein „beschädigtes Leben“ nannte, stimmte ihn nicht gerade optimistisch. Er schrieb: „Heute ist die vereitelte Möglichkeit von etwas anderem auf die Abwendung der Katastrophe trotz allem geschrumpft.“ Aber beides – das Erreichen von „etwas anderem“ und das „Abwenden einer Katastrophe“ – lässt sich nicht so einfach gegeneinander aufrechnen. Natürlich sollten wir uns organisieren, um zu verhindern, dass die Dinge noch schlimmer werden – auch während der Pandemie. Wir sollten uns organisieren, um für den Schutz der systemrelevanten Arbeiter*innen zu kämpfen und gegen die Bedrohung sinkender Löhne und schlechter Arbeitsbedingungen.

Doch wenn der Kapitalismus selbst die Katastrophe ist, können wir uns und unsere Kinder nur schützen, indem wir ihn abschaffen. Die Idee eines „Green New Deal“, die von Alexandria Ocasio-Cortez in den USA vorangetrieben wurde, ist ein Schritt in Richtung einer systemischen Alternative zum Kapitalismus, die dringen notwendig ist.

Doch der Sturz von Jeremy Corbyn unterstreicht den erbitterten Widerstand, den das Kapital formieren wird. Der Wiederaufbau einer starken Linken, mit revolutionären Sozialist*innen in ihrem Kern, ist die dringendste aller Aufgaben.

Dieser Text von Alex Callinicos erschien hier im Socialist Review und wurde von Lukas Geisler übersetzt.


[1] https://www.rosalux.de/themen/international-transnational/specials-archiv/sozialforen/sfid-2005/sozialismus-oder-barbarei-das-es-so-weiter-geht-ist-die-katastrophe

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