Seit letzter Woche ist einer der wichtigsten Rüstungskontrollverträge Geschichte. Jetzt dürfen wieder Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa stationiert werden. Es droht ein neues atomares Wettrüsten.
Heute vor 74 Jahren setzten die USA die erste Atombombe gegen Japan ein. In Hiroshima starben innerhalb von Minuten 70.000 Menschen. 70.000 wurden schwer verletzt und weitere 140.000 Menschen starben bis zum Ende des Jahres 1945 an den Spätfolgen. Die massive Zerstörungskraft dieser Bomben wurde nur drei Tage später ein zweites Mal demonstriert bei dem Atombombenangriff auf Nagasaki. Noch im gleichen Jahr deklarierte die UN bei ihrer Gründung die atomare Abrüstung als eines ihrer Hauptziele.
Doch was folgte, war ein jahrzehntelanges Wettrüsten zwischen der USA und der Sowjetunion. Auch nach dem Inkrafttreten des Nicht-Verbreitungsvertrages im Jahre 1970 stieg die Zahl der Sprengköpfe weiter. Und das obwohl der Vertrag neben der Klausel zur Nichtverbreitung auch eine Verpflichtung der fünf offiziellen Atommächte zur nuklearen Abrüstung beinhaltete. Mehr als 60.000 atomare Sprengköpfe bedrohten 1985 die Weltbevölkerung.
Anfang der 80iger Jahre verschärfte sich der Konflikt aufgrund des NATO-Doppelbeschlusses. Über 500.000 Menschen demonstrierten 1983 in Bonn für Abrüstung und gegen die Stationierung der PershingII-Raketen in Mitteleuropa. Die Proteste der Friedensbewegung läuteten eine Zeit der Deeskalation ein. Ein wesentlicher Bestandteil der Rüstungskontrolle war der 1987 unterzeichnete INF-Vertrag, der alle nuklear bestückbaren Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern verbietet. Wenig später trat der New-Start Vertrag zur Reduzierung von strategischen Atomwaffensysteme in Kraft. Die Zahl der Sprengköpfe auf beiden Seiten nahm weiter ab. Beide Abkommen zeigten das Potential internationaler Verträge, Vertrauen und Kooperation zu schaffen. Sie durchbrachen die absurde Spirale gegenseitigen Misstrauens und militärischer Aufrüstung.
Doch 30 Jahre später scheint die Bedeutung dieser Verträge bereits in Vergessenheit geraten zu sein. Am 2. August lief der INF-Vertrag aus. Doch der Aufschrei, die Proteste und die Bemühungen den Vertrag zu retten waren eher kläglich. Dabei kam die Aufkündigung durch US-Präsident Donald Trump alles andere als plötzlich. Schon die Obama-Administration hatte Russland vorgeworfen, durch die Entwicklung der neuen 9M729 Marschflugkörper den Vertrag zu verletzen. Russland hingegen beschuldigte die USA, mit ihrem in Rumänien stationiertem Raketenabwehrsystem ebenfalls gegen den Geist des Vertrages zu verstoßen. Das Raketenabwehrsystem sei eine rein defensive Anlage und nicht auf Russland gerichtet, so die USA. Eine Inspektion von russischer Seite ließen sie jedoch nicht zu. Und so ist Frist um Frist verstrichen, ohne dass wesentliche Bestrebungen zur Rettung des Vertrages erkennbar wurden. Ohne den Vertrag ist es nun beiden Staaten erlaubt, Mittelstrecken in Europa zu stationieren.
Offiziell wird ein
Interesse an einem neuen Wettrüsten dementiert. Doch im Grunde genommen ist es
schon längst im Gange. Die USA investieren Milliarden in die Entwicklung des
B61-Bombers und in die Modernisierung ihrer Arsenale. Dies schließt auch die in
Deutschland stationierten Atomwaffen mit ein.
Die Logik der Abschreckung wurde nie ganz aufgegeben. Heute gibt es weltweit noch etwa 15.000 atomare Sprengköpfe, 93 Prozent davon in russischer und US-amerikanischer Hand. Alle Atomwaffenstaaten sind in regionale oder internationale Konflikte verwickelt sind. Anfang des Jahres eskalierte der anhaltende Kashmir-Konflikt zwischen den beiden Atommächten Indien und Pakistan. Israel wird zunehmend in die geostrategischen Konflikte des Nahen Ostens verwickelt und die USA drohten Nordkorea mit kompletter Auslöschung. Alle Atomwaffenstaaten modernisieren derzeit ihre Arsenale. Laut dem „Don’t bank on the bomb“-Bericht investieren die Atomwaffenstaaten täglich 300 Millionen US-Dollar in den Ausbau und die Instandhaltung ihrer Arsenale. Profiteure dieser neuen Aufrüstungswelle sind vor allem die weltweiten Rüstungsunternehmen.
Angesichts der aktuellen Entwicklung kann man die Hoffnung in internationale Rüstungskontrolle leicht verlieren. Doch es gibt eine Alternative zu einer zweiten Aufrüstungsspirale: Am 7. Juli 2017 unterzeichneten 122 Staaten in der UN den Atomwaffenverbotsvertrag – ein bahnbrechendes Dokument. Der Vertrag verbietet nicht nur den Einsatz und die Erprobung, sondern auch die Drohung mit Atomwaffen, den Besitz, die Lagerung, den Erwerb, die Entwicklung und Herstellung, aber auch einen Transfer von Atomwaffen. In den letzten zwei Jahren haben den Vertrag bereits 70 Staaten unterzeichnet, 24 haben ihn ratifiziert – darunter allerdings keine Atomwaffen- oder NATO-Mitgliedsstaaten. Auch Deutschland boykottiert den Vertrag weiterhin. Dabei bietet das Abkommen Atomwaffenstaaten die Möglichkeit beizutreten, noch bevor sie ihre Arsenale abrüsten. Sie können dann innerhalb des Vertrages ein bi(multi)laterales Abrüstungsprotokoll ausarbeiten, das unter der Aufsicht der IAEO und den anderen Vertragsparteien umgesetzt wird.
Derzeit erscheint es noch utopisch, dass sich die Atomwaffenstaaten unter die Aufsicht der Nicht-Atomwaffenstaaten auf ein Abrüstungsprotokoll einigen könnten. Würde doch so ihre globale Vormachtstellung bröckeln. Doch der Druck von unten wächst, auch in den Atomwaffenstaaten: Hauptstädte wie Washington, Paris und Berlin; ja ganze Bundesstaaten wie Kalifornien haben den Vertrag bereits symbolisch unterzeichnet. Schon 1.300 Parlamentarier in mehr als 30 Ländern haben sich verpflichtet, ihre Regierung zum Beitritt zum Verbotsvertrag zu bewegen. In Deutschland unterstützen mehr als 500 Bundestags- und Landtagsabgeordnete die Erklärung. Die Zahl deutscher Städte, die ihre Zustimmung zu dem Vertrag bekennen, wächst. Laut einer aktuellen Umfrage meinen 91 % der Deutschen, die Bundesregierung sollten den Vertrag unterzeichnen.
Zudem ziehen sich große Bankinstitute und staatliche Pensionsfonds zunehmend aus dem Atomwaffengeschäft zurück. Zwei der fünf größten Pensionsfonds der Welt haben Änderungen ihrer Geschäftspolitik in Bezug auf Atomwaffenhersteller angekündigt. Und auch die Deutsche Bank hat zugesagt, ihre Geschäftspolitik zu ändern.
Doch all das reicht nicht. Parteien, die sich für Abrüstung aussprechen müssen in die Pflicht genommen werden. Die Bundesregierung darf sich von der USA nicht in ein Wettrüsten drängen lassen und sollte sich nach dem Auslaufen des INF-Vertrages innerhalb Europas für einen Vertrag mit den USA und Russland einsetzen, der die Stationierung ballistischer Raketen in Europa verbietet.
Die Welt befindet sich an einem Wendepunkt. Entweder schafft es die globale Staatengemeinschaft, sich auf gemeinsame und faire Regelwerke zu einigen oder aber wir fallen zurück in eine Zeit der egozentrisch handelnden Nationalstaaten. Die Geschichte hat uns gelehrt, dass Frieden nur durch internationale Vertrauensbildung und Kooperation geschaffen werden kann. Aktuelle und zukünftige Herausforderungen wie der Klimawandel können nur auf internationaler Ebene gelöst werden. Die neun Atomwaffenstaaten sind zusammen für fast Dreiviertel der weltweiten Treibhausgas-Emissionen verantwortlich. Atomwaffen sind eines der mächtigsten Mittel, um die bestehende globale Ungleichheit zu festigen. Wie soll ein kooperatives Handeln möglich sein, wenn sich einige Staaten gegenseitig mit kompletter Vernichtung drohen?
IPPNW und ICAN fordern nukleare Abrüstung, damit sich Hiroshima und Nagasaki niemals wiederholen. Diese Forderung stellt aber auch die derzeit bestehenden Macht- und Autoritätsansprüche in Frage, denn Atomwaffen festigen die bestehende globale Ungleichheit. Um adäquate Lösungen für aktuelle Probleme zu finden, müssen wird das veraltete Prinzip von „Sicherheit durch Abschreckung“ überwinden.
Franca Brüggen ist Mitglied von IPPNW und ICAN Deutschland.
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