Immer am Puls der Zeit: Kerem Schamberger. Foto: Kerem Schamberger

Die Türkei braucht einen demokratischen Block gegen das AKP-Regime – Im Gespräch mit Kerem Schamberger

In der Türkei wird in einigen Wochen darüber abgestimmt, ob ein Präsidialsystem etabliert wird, für das AKP und MHP argumentieren, oder das parlamentarische System beibehalten wird. Die Abstimmung ist begleitet von weiteren Repressionen gegen demokratische Kräfte, insbesondere die HDP. Wir haben mit dem Aktivisten Kerem Schamberger über die Situation in der Türkei, die Ursachen der Eskalation und die Folgen eines Neins gesprochen.

Die Freiheitsliebe: Du hast gestern berichtet, dass Figen Yüksekdag, die Ko-Vorsitzende der HDP ihr Abgeordnetenmandat verloren hat. Das ist die Entwicklung eines schon länger währenden Kampfs gegen die HDP, wo siehst du den Anfang dieser Auseinandersetzung?

Kerem Schamberger: Den Anfang kann man schwer benennen, allerdings würde ich sagen, dass die Wurzeln der Verfolgung in der Gründung des türkischen Staates im Jahr 1923 selbst liegen. Schon damals gab es Repressionen und Gewalt gegen Kurden, Aleviten und andere Minderheiten, die nicht in das Konzept der neugebildeten türkischen Identität passten. Seit den 90er Jahren gab es immer wieder kurdische Parteien, die ein paar Jahre existiert haben und dann verboten worden sind. Das besondere an der HDP ist, dass sie keine rein kurdische Partei ist, sondern eine Bündnispartei aus türkischen Linken und kurdischen Organisationen. Sie ist somit um einiges größer, was ein Novum in der Geschichte der Türkei ist. Man kann ab Juni 2015 von einem neuen Anschwellen der Repression, verbunden mit der Aufkündigung der Friedensverhandlung und der Bombardierung von Kandil, feststellen. Damit geht eine verstärkte Repression gegen Organisationen der Zivilgesellschaft, wie auch der Linken und Kurden, einher. Es wurden in den letzten 18 Monaten ungefähr 9.000 Mitglieder der HDP in Polizeigewahrsam genommen, von diesen wurden etwa 3.000 in Untersuchungshaft genommen, das ist nur die Situation der HDP. Von der DBP, also der Partei der demokratischen Regionen, dem kurdischen Pendant zur HDP, sind zwischen 8-10.000 Aktivisten und Politiker in Polizeigewahrsam genommen und etwa 3.-4000 dauerhaft inhaftiert, insgesamt wurden mehr als 10.000 politisch aktive Kurden und Linke dauerhaft inhaftiert.

Die Freiheitsliebe: Die Zunahme der Eskalation verlief relativ parallel zu den Wahlen, siehst du einen Zusammenhang?

Kerem Schamberger: Die Parallelen sind eindeutig: Als die Türkei gemerkt hat, dass die kurdische Friedens- und Demokratiebewegung im Verlaufe der Friedensgespräche immer stärker wird, hat die AKP die Verhandlungen abgebrochen, da sie nicht das von ihr gewünschte Ergebnis bringen. Innerhalb des Zeitraums der Friedensgespräche konnten die Kurden in Rojava ein eigenes fortschrittliches Projekt etablieren, auch in der Türkei ist die kurdische Zivilgesellschaft immer stärker geworden. Daraufhin hat die AKP die Gespräche beendet, die sie vor allem mit dem Ziel geführt hat die Stimmen der Kurden zu gewinnen. Begonnen hat es eigentlich mit einem Bombenanschlag zwei Tage vor den ersten Wahlen 2015 am 5. Juni in Diyabakir auf die Wahlabschlusskundgebung der HDP. Das war der Beginn einer neuen Eskalation. Dieser Anschlag wurde zwar schnell dem IS angelastet, er hat sich aber bis heute nicht dazu bekannt. Der Bombenleger hatte Kontakte zum Staat, er war für den türkischen Geheimdienst kein Unbekannter.

Die Freiheitsliebe: Trotzdem konnte die HDP bei den ersten Parlamentswahlen am 7. Juni die antidemokratische 10%-Hürde überwinden und ins Parlament einziehen. Danach ist eine Verschärfung der Situation geschehen, würdest du das ähnlich sehen?

Kerem Schamberger: Mit dem Einzug der HDP hat sie eine einfache Mehrheit der AKP im Parlament verhindert. Die AKP wäre somit zu einer Koalition gezwungen gewesen, wozu sie aber nicht bereit war. Die Folge waren verschärfte Repressionen und eine Politik der Eskalation. Die Neuwahlen im November 2015 haben in einer bürgerkriegsähnlichen Situation stattgefunden. In dieser konnten Hunderttausende kurdische Wählerinnen und Wähler nicht zur Wahl gehen, weil Ausgangssperren herrschten oder die Städte vom türkischen Militär belagert waren. Das war eine gezielte Politik der AKP, damit die Leute eingeschüchtert sind oder im Falle der türkischen Mehrheitsgesellschaft für die AKP stimmen, als vermeintlicher Garant für Sicherheit und Ordnung.

Die Freiheitsliebe: Aktuell befindet sich viele HDP-Abgeordnete, wie auch ein gewichtiger Teil der Mitglieder der HDP im Gefängnis, ist von Haft bedroht oder war in Untersuchungshaft, welche Auswirkungen hat das auf die HDP?

Kerem Schamberger: 750 Kreis- und Regionalvorsitzender der HDP sind in Haft, das heißt eine wirkliche politische Arbeit ist kaum möglich. Ich kenne das am Beispiel des Ortes an dem meine Familie wohnt. Dort wurden der örtlichen HDP die Räume gekündigt, weil gesagt wird, dass man Terroristen keine Räume geben will. Trotzdem bildet sich gerade eine breite Basisbewegung gegen das Nein. Darauf reagiert der Staat panisch und versucht zum Beispiel alle Symbole eines „Neins“ aus der Öffentlichkeit verschwinden zu lassen. Alle Umfragen deuten trotzdem auf einen Erfolg des „Neins“ hin.

Die Freiheitsliebe: Was hätte das ein Nein für eine politische Folgen, könnte es zur Deeskalation beitragen?

Kerem Schamberger: Ich bin zwar der Meinung, dass wir eine große Nein-Kampagne brauchen und alles daran setzen sollten, um für das Nein zu werben. Allerdings kann die AKP auch nach einem Nein einfach weiterhin ihre Regierung per Ausnahmezustandsdekreten am Parlament vorbei fortsetzen.

Die Freiheitsliebe: Siehst du denn trotzdem ein Perspektive nach einem Nein, den aktuellen Zustand verbessern und das de facto Präsidialsystem abschaffen?

Kerem Schamberger: Ich glaube es hängt von 3 Faktoren ab. Der erste Punkt ist der Zusammenschluss aller Oppositionsgruppen zu einem demokratischen Block, das ist mit Organisationen wie der HDP und dem HDK (Demokratischer Kongress der Völker) schon teilweise geschehen. Allerdings müsste es meiner Ansicht nach auch in einigen Fragen die links-nationalistischen Teile der CHP beinhalten. Dafür müsste die CHP allerdings ihre strukturelle Kurdenfeindlichkeit überwinden. Hoffentlich geschieht das eher schneller als langsam. Dieser demokratische Block bräuchte auch die Unterstützung von anderen Gruppen wie Gewerkschaften, Antiprivatisierungsbewegungen und anderen Bewegungen. Der zweite Punkt ist unsere Aufgabe hier im Westen: Wir müssen unsere Regierungen dazu bringen ihre Nibelungentreue zum Erdogan-Regime zu beenden. Das hängt von unserem Druck auf die große Koalition ab. Das ist allerdings leichter gesagt als getan.
Der dritte Faktor ist eine mögliche Wirtschaftskrise., Ich will als Kommunist nicht Werbung für eine Krise machen, die zuallererst die arbeitende Bevölkerung und insbesondere die Kurden treffen würde. Allerdings könnte eine solche Krise zur Folge haben, dass die nach wie vor breite Unterstützung der AKP schwächer wird.
Die Frage ist wie die AKP auf eine solche Krise reagieren wird, momentan gründet sie Stiftungen, bestehend aus den Kapitalvermögen der staatlichen Konzerne, um die Handlungs- und Investitionsfähigkeit des Staates bei Großprojekten beizubehalten. Derzeit gehen ausländische Kapitalinvestitionen massiv zurück.

Die Freiheitsliebe: Danke dir für das Gespräch.

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