Die Grenzen der Empathie – Wieso das Aufwiegen von Menschenleben nichts bringt

Ich hasse diese Texte, die Opfer von Tragödien gegeneinander aufwiegen. Die den moralischen Zeigefinger erheben, wenn die Menschen um ein paar Tote eines Flugzeugsabsturzes weinen, nicht aber um die Tausenden von Flüchtlingen oder die Millionen, die jedes Jahr an Hunger und Armut sterben. Nur weil die Opfer Deutsche, Europäer, Amerikaner, Menschen der westlichen Hemisphäre waren. Nicht, weil ich genau das nicht auch oft kritisiere, nicht, weil mich die offensichtliche Differenzierung zwischen Menschen, die unterschiedlichen Werte, die ihnen offenbar beibemessen werden, nicht auch so unglaublich wütend machen, so dass ich meiner Wut in jedem Moment, in jeder einzelnen Sekunde Luft machen will – aber so einfach ist es nun einmal nicht. Und darüber hinaus führt es auch zu nichts.

Empathie– Zwei Gründe für die Präferenz des Nahen

Es ist immer das Gleiche. Es passiert ein Terroranschlag, eine Tragödie mit vielen westlichen Opfern oder gar deutschen Opfern wie kürzlich der Germanwings-Absturz und die deutsche Medienlandschaft – und in Wechselwirkung mit ihr die deutsche Gesellschaft – befinden sich im Ausnahmezustand. Es wird Sondersendung an Sondersendung gereiht, fremde Menschen erklären sich solidarisch mit den Angehörigen und weinen bittere Tränen vor laufender Kamera. Fieberhaft wird den Ursachen auf den Grund gegangen, der Wille zur Aufklärung, die Absicht, einen Schuldigen zu finden, ist nahezu grenzenlos. Umgekehrt sind die 400 Opfer der neuesten Flüchtlingskatastrophe der Medienlandschaft allenfalls ein paar kurze Nachrichtenbeiträge, ein paar wenige Artikel in den Zeitungen wert. Artikel, die eigentlich immer die gleichen Inhalte transportieren, die eigentlich am Ende doch nichts ändern und einfach im nirgendwo verschwinden. „Ja, wir müssten, wir sollten, wir könnten….“ – nichts als fromme Wünsche und ewig wiederkehrende Analysen, die doch nicht dafür sorgen, dass die Menschen aufwachen, aktiv gegen all diese Ungerechtigkeiten vorgehen wollen. Dafür sind sie nicht kritisch, nicht präsent genug. Die Gesellschaft ist schlicht nicht interessiert genug, um das Thema länger auf der Agenda zu behalten. Die bemerkenswerte Abstumpfung in Bezug auf Opfer aus der Dritten Welt – hier zeigt sie wieder deutlich ihre hässliche Fratze. Vor allem auch, weil man dann seine eigene Schuld, sein eigenes Unterlassen kritisch reflektieren müsste. Sofort folgen die wenigen Stimmen des kritischen Gewissens. All jene Texte und Artikel, welche die Kritiklosigkeit an der Politik, das Desinteresse der Mehrheitsgesellschaft für diese Opfer kritisieren. Und ich lese sie und denke mir: „Ja!. Genau so ist es!“. Und ich teile sie weiter, weil sie meiner Wut und Machtlosigkeit für einen kurzen Augenblick Ausdruck verleihen. Und dennoch hinterlassen sie einen faden Beigeschmack, erscheint es mir irgendwie nicht richtig, Opfer gegeneinander aufzuwiegen. Denn letztlich ist es das, was passiert. Obgleich die Absicht dahinter eine andere sein mag, obgleich es schlicht darum geht, endlich allen Menschen einen gleichen Wert zu geben, endlich jenen eine Stimme zu geben, die keine haben.

Das Schwerste ist wohl, hinzunehmen, dass die menschliche Empathie Grenzen hat und dass sie bei den meisten Menschen oft nicht über die eigenen Landesgrenzen, den eigenen Kulturkreis hinausreichen. Bei manchen geht sie nicht einmal über das eigene unmittelbare Umfeld, die eigene Familie und Freunde hinaus. Sind diese Menschen deswegen schlechter, ignoranter, dümmer? Sind wir, die manchmal sogar mehr Empathie mit einem syrischen Flüchtling als mit einem deutschen Flugabsturzopfer empfinden, besser? Für mich ist diese Frage unmöglich zu beantworten. Vielleicht, weil ich bis heute selber keine empirisch fassbare Antwort auf die Frage gefunden habe, weshalb ich überhaupt so viel Empathie mit Menschen empfinde, die eigentlich so weit weg von mir sind und manchmal so wenig Empathie mit jenen, die mich unmittelbar umgeben. Manchmal wohl, weil ich denke, dass wir ohnehin so viel mehr haben, dass Unglücke eben passieren, dass diese Unglücke aber in der Regel nicht oder nur sehr indirekt im System begründet liegen. Aber sind diese Unglücke deswegen weniger gewichtig, weniger traurig, die Opfer, die Angehörigen weniger bemitleidenswert? Oder werte ich dann nicht am Ende genauso?

Vielleicht versuchen wir wenigen Kritiker der Grenzen der Empathie auch nur ein Gegengewicht zu sein. Gegen das Vergessen von Opfern ohne Namen. Die, deren Geschichten, Einzelschicksale keine Thematisierung in den Medien finden, deren Mörder nicht auf der Titelseite der BILD erscheinen, weil es zu viele Schuldige gibt. Die, für die Joachim Gauck keine frommen Worte übrig hat, die, zu denen Merkel schweigt. Vielleicht ist es nur die Ohnmacht darüber, alleine nichts gegen dieses Massensterben tun zu können und die Wut darüber, dass die Gesellschaft im Ganzen es ein Stück weit könnte. Wenn sie nur hinsehen, wenn sie nur den gleichen Druck ausüben würde wie bei den Tragödien, die ihr so viel näher erscheinen. Letztlich ist es wohl aber der Unterschied, die Trennlinie, die wir zwischen Tragödien, die in den eigenen Augen zu verhindern wären und solchen, die es nicht sind, ziehen. Aber wer weiß schon, was wirklich zu verhindern wäre und ob wir am Ende nicht doch einfach Opfer unseres eigenen Idealismus, unseres Glaubens an eine bessere Welt sind, an die die anderen einfach nicht mehr oder noch nie geglaubt haben. Es gibt zweifelsohne zahlreiche und individuelle Gründe für unsere Empathie eben wie für ihre Grenzen. Und dennoch gibt es vielleicht zwei, die annähernd so etwas wie Allgemeingültigkeit besitzen, die auf eine größere Masse von Menschen anwendbar sind. Diese möchte ich im Folgenden erläutern.

Der erste Grund dreht sich um den Begriff der Identität. Die eigene Identität, zu wissen, wer man ist, ist das wesentliche Konstitutiv für die Orientierung des Menschen. Wir alle suchen zwangsläufig im Laufe unseres Lebens nach ihr. Identität bedeutet gleichsam sich zu etwas, einer Gruppe zu zählen und sich von etwas abzugrenzen. Sie ist also stets Zuordnung und Abgrenzung zugleich und je kleiner die Bezugsgruppe, desto einfacher die Fassbarkeit dessen, dem man sich zuordnet und damit die Identitätsstiftung. Über die Reflexion der eigenen Zuordnung und Abgrenzung definieren wir schlussendlich unser Ich, unsere Identität. Die kleinste Bezugsgruppe ist die Familie, Freunde, das unmittelbare Umfeld. Größere Bezugsgruppen können die eigene Nationalität, die im weitesten Sinne eigene Kultur, Religion etc. sein. Je unsicherer die Zeiten, desto stärker die Rückbindung an die identitätsstiftenden Bezugsgruppen Je kleiner oder je klarer, einfacher definiert dabei die Bezugsgruppe, desto leichter die Rückbindung.

Dem Menschen, der sich aus unterschiedlichsten Gründen nicht über die klassischen Bezugsgruppen wie Nationalitäten, Kultur etc. definiert, mag das nicht verständlich und mitunter in Bezug auf solche Erscheinungen wie den Vaterlandsstolz fast schon dümmlich erscheinen, weil er schlicht andere Bezugsgruppen besitzt oder diese Art der Bezugsgruppen weniger benötigt. Dennoch: In einer Welt, die so komplex, so undurchsichtig ist, sind sie für viele der rettende Anker. Das, was sie an der Welt noch greifen, verstehen können. Und je kleiner sie sind, desto einfacher ist es, sich an diesem Anker festzuhalten.

Die Bezugsgruppe Nationalität ist eine solche. Trauer über den Tod von Menschen innerhalb der eigenen Bezugsgruppe zu empfinden, ist nichts Abstraktes. Empathie innerhalb der eigenen Identifikationsgruppe etwas sehr Menschliches. Was ist dagegen die Empathie mit 400 Flüchtlingen, deren Gesichter wir nicht kennen, deren Leben und selbst deren Kultur für viele etwas Unbekanntes sind? Was ist Empathie mit hungernden Menschen in Äthiopien, mit den hunderttausenden Menschen des Darfur-Konfliktes, mit all den toten Syrern, Irakern, Afghanen, wenn die Bezugsgruppe Mensch zu groß erscheint, wenn sie so wenig greifbar gemacht wird?

Der zweite Grund steckt bereits im Ersten. Es ist die Komplexität der Welt. Genauer genommen die Komplexität, die von der strukturellen, der indirekten Gewalt ausgeht. Das, was bei einem Terroranschlag passiert, das, was passiert, wenn ein Copilot ein Flugzeug gegen einen Berg lenkt, ist nichts anderes als direkte Gewalt, die von einem klar bestimmten Akteur ausgeht. Sie ist daher vielleicht ungeheuerlich und wenig nachvollziehbar und dennoch – und das mag auf den ersten Blick absurd erscheinen – zugleich im hohen Maße fassbar. Denn wir haben einen klaren zeitlichen Verlauf, einen früher oder später klar definierten Akteur und damit Schuldigen, wir haben eine klare Anzahl von Opfern, deren Geschichten uns erzählt werden. Wir haben somit für sich genommen EINE Tat, EINE Tragödie. Die Struktur hinter der Tat (im Falle von Andreas L. vermutlich die psychische Erkrankung) wird verständlich von den Medien aufbereitet. Zwar macht das eine psychische Erkrankung, die Beweggründe für einen Suizid für den gesunden Menschen nicht zwingend verständlicher, aber das Private, das, was sich in einem einzelnen Kopf abspielt, erscheint dennoch greifbarer, weil vom Wirkradius und der Dimension leichter einzugrenzen als all das, was wir unter dem Begriff strukturelle/indirekte Gewalt subsumieren können und überhaupt nicht auf die Gedanken, die Tat eines einzelnen Menschen herunterzubrechen sind. Und das ist das Entscheidende. Denn obgleich die strukturelle Gewalt jährlich so viel mehr Opfer fordert, als jede direkte Gewalt es zu tun vermag, ist und bleibt sie am Ende das weniger Fassbare, die Linie, an der die Empathie der meisten an ihre Grenzen stößt. Denn es gibt keinen klaren Akteur, keinen Bösewicht, keinen alleinigen Schuldigen. Die 400 Flüchtlinge jetzt und die Tausenden Opfer davor und danach wurden nicht von Merkel persönlich ins Mittelmeer geschubst. Es gibt auch keinen Bösewicht, der den Menschen in Afrika das Essen wegnimmt. Es existiert ebenso wenig eine zeitliche Begrenzung dieser Tragödien und kein einzelner, sondern ganz viele Gründe dafür. Diese Gründe in ihrer Komplexität zu erfassen, erfordert Zeit und intensive Auseinandersetzung und selbst dann ist zumeist nur eine Annäherung an die Tatsachen möglich. Nein, das ist nicht nur eine Linie, an die die Empathie stößt, dass ist ein ganzer Berg, den sie zu überwinden hat.

Wieso Wut die falsche Methode ist

Natürlich gibt es weitere essentielle Gründe für die Grenzen der Empathie. Das Zutun der Politik, die diese Mitschuld nicht thematisiert, die oft sogar falsch informiert und heuchelt, die Medien, die sich dieser Heuchelei anschließen, sind die beiden anderen entscheidenden Gründe, weshalb manche Tragödien, unabhängig von ihrer Größe, mehr Beachtung und andere weniger finden. Doch sind diese Gründe mehr als bekannt und zahlreich aufgeführt in den zahlreichen Texten über das Aufwiegen des Wertes eines Menschen. Texte, die mir selbst nur allzu oft aus der Seele sprechen, auch wenn ich sie zeitgleich oft auch nicht richtig finde. Denn sie unterschlagen eben jene, dem Menschen innewohnenden Gründe für die eigenen Grenzen der Empathie, die ich hier versucht habe, zu skizzieren. Darüber hinaus helfen sie nicht dabei, konstruktiv für mehr Empathie zu plädieren. Denn sie formulieren auch immer einen Vorwurf gegenüber jenen, deren Empathie nicht so weit reicht. Sie unterstellen immer eine gewisse Herzlosigkeit, eine Doppelmoral, die zumeist weder intendiert noch ein wirkliches Anzeichen für Herzlosigkeit ist.

Denn sollten wir den Menschen, die heute z.B. den Trauergottesdienst für die Opfer des Germanwings-Absturzes verfolgt, die wirklich auf’s Tiefste emotional ergriffen waren, Empathielosigkeit unterstellen? Ich denke nein. Vielmehr sollten uns genau diese Momente Hoffnung geben, zeigen, dass es so etwas wie Empathie, tiefes Mitgefühl überhaupt noch gibt. Natürlich sollten wir uns dabei nicht damit abfinden, dass sie oft so begrenzt ist, aber wir sollten ihre Begrenzung auch nicht verurteilen, sondern versuchen, zu verstehen und über dieses Verständnis heraus an einem Dialog arbeiten, der zeigt, dass es auch andere Bezugsgruppen gibt und dass die Bezugsgruppe Mensch, wenn sie wohl auch eine der Größten und Komplexesten, doch zeitgleich auch eine der Wichtigsten, Wertvollsten und Besten ist, weil sie die spaltenden Unterschiede zwischen uns auflöst und das Wesentliche erkennt. Weil sie uns erst ermöglicht, wirklich zu erkennen, was wir tun können und sollten, weil sie uns so am Ende am meisten Identität von allen schenkt. Weil sie unsere Grenzen der Empathie aufsprengt. Denn wenn diese Grenzen aufgesprengt sind, spielt es keine Rolle mehr, was Politik und Medien tun, weil das eigene Bewusstsein darüber erhaben ist. Ja, wir können sicherlich darüber streiten, wie die Medien berichten, wir können sicherlich auch immer wieder Momente der Wut empfinden, in denen wir uns machtlos und unverstanden fühlen, in denen wir es verachten, dass den Dingen unterschiedliches Gewicht bei bemessen wird und die Politik so voll von widerlichen Heuchlern ist, die sich alle mitschuldig machen, aber wir können auch lernen, was die Menschen selbst dazu bewegt, mit vielen hier vor Ort mehr Mitleid zu empfinden als mit den Hunderten Flüchtlingen im Mittelmeer und dass es nicht an einem beabsichtigten unterschiedlichen Wert liegt, den die Menschen Ihnen zuteilen, sondern schlicht an anderen Faktoren, von denen ich zwei versucht habe, zu benennen. Und vielleicht können wir so zu einem stärkeren Miteinander kommen, in dem wir nicht verurteilen, sondern öffnen und Bewusstsein schaffen, unsere Empathie auf andere übertragen, so dass sich ihre Grenzen insgesamt ausweiten. Ein solches Bewusstsein schafft man nicht durch Verurteilung, sondern durch das Aufgreifen der Argumente des anderen. Und ist das nicht auch eine Form der Empathie?

 

Ein Beitrag von Anabel Schunke

 

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Eine Antwort

  1. „Sind wir, die manchmal sogar mehr Empathie mit einem syrischen Flüchtling als mit einem deutschen Flugabsturzopfer empfinden, besser? Für mich ist diese Frage unmöglich zu beantworten.“
    Für mich ist die Antwort ganz klar: Nein!
    Im Artikel wird doch dargelegt, dass Empathie individuell verschieden und auf bestimmte Gruppen bezogen ist und bei jedem seine Grenze hat.
    Die Frage, ob das eigene Empfinden besser sei, als das anderer Menschen, wirkt schon sehr arrogant.

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