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„Die Frauen wurden entmachtet“ – im Gespräch mit Nasim

Im Sommer 2021 übernahmen die Taliban nach 20 Jahren Krieg in Afghanistan die Macht. Die Lage der Frauen ist unter den Taliban katastrophal. Doch der Widerstand wächst. Im Gespräch mit der Aktivistin Nasim.

Nasim ist aus Afghanistan über Moria nach Europa geflohen und setzt sich heute für die Rechte von Geflüchteten auf den griechischen Inseln ein.

Das Interview erschien in gekürzter Form zuerst am 21.10. in der linken Tageszeitung junge Welt und ist online hier zu lesen. Wir bedanken uns vielmals bei der jW für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung.

Das Interview wurde online geführt und von Zohra Khurrami gedolmetscht.

Nach der Machtübernahme der Taliban im Sommer 2021 versprach die Putschregierung, Frauen würden »Schulter an Schulter mit uns arbeiten« und dass Frauenrechte respektiert werden. Wie sieht die Lage von Frauen im Land ein Jahr später aus?

Wir können genau sehen, was daraus geworden ist. Es ist die Politik der Taliban, die Lage der Frauen medial deutlich besser darzustellen, als sie tatsächlich ist. Wir haben letzte Woche erlebt, dass viele Frauen bei einem Anschlag in Kabul ermordet wurden, nur weil sie studieren wollten. Leider Gottes ist der Ansatz der Taliban völlig gescheitert. Das war alles nicht ehrlich und nicht authentisch. Jetzt können wir hautnah erleben, was von den Versprechen der Taliban zu halten ist und was deren Politik überhaupt bedeutet, die alles andere als frauenfreundlich ist. Die Lage der Frauen ist katastrophal.

Vor der Machtübernahme der Taliban gab es Frauen etwa in Medien, es gab Fernsehmoderatorinnen. Wie sieht die Lage der Frauen auf dem Arbeitsmarkt jetzt aus?

Richtig, zuvor hatte sich die Lage der Frauen auf dem Arbeitsmarkt sehr gut entwickelt. Sie hatten oft gute und angesehene Positionen inne. Doch bedauerlicherweise brach das alles zusammen und Frauen haben keinerlei Rechte mehr. Die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern, die etwas Selbstverständliches sein sollte, existiert in Afghanistan heute nicht mehr. Den Frauen wurde einfach alles weggenommen. Sie wurden in jeder Art und Weise entmachtet.

Im Sommer 2021 gab es anfangs international ein sehr großes Interesse an Afghanistan, insbesondere die Lage von Frauen und Mädchen stand im Fokus der Aufmerksamkeit. Dieses Interesse hat sich jetzt komplett in Luft aufgelöst. Denken Sie, es gehörte zur Strategie der Taliban, die Zeit und die Aufmerksamkeit einfach auszusitzen?

Es ist für mich schwierig, über deren Politik zu reden. Ich halte mich, was Politik angeht auch etwas zurück, weil ich da nicht sehr involviert bin und das auch gar nicht möchte. Ich will andere Sachen bewegen und die Situation von Frauen verbessern. Aber ich gehe davon aus, dass die Taliban durchaus so etwas geahnt haben. Doch jetzt haben sie viel mehr Macht bekommen und mehr Selbstbewusstsein. Anfangs haben sie durchaus befürchtet, dass vielleicht etwas Großes passieren könnte, denn international waren die Gegenstimmen sehr laut und alle schauten genau hin. Doch das hat sich alles, vollkommen richtig, in Luft aufgelöst. Kaum jemand spricht noch über Menschenrechte in Afghanistan. Dadurch hat sich die Machtbasis der Taliban deutlich gefestigt und jetzt sind sie sich hundertprozentig sicher, dass ihr Handeln zumindest für sie selbst keinerlei Konsequenzen haben wird.

Anfangs gab es viele Frauenproteste gegen die Taliban-Herrschaft. Sie sprachen vorhin den tödlichen Selbstmordanschlag auf eine Schule in Kabul vor wenigen Tagen an, bei dem mindestens 46 Schülerinnen getötet wurden. Danach gab es erneut Demonstrationen. Erleben wir nun möglicherweise eine Wiederbelebung der Frauenproteste?

Das ist hundert Prozent richtig. Die Frauen geben einfach nicht auf. Sie bestehen auf ihren Rechten. Es war auch sehr deutlich zu sehen, welche Botschaft die Taliban durch ihren Umgang mit dem Anschlag aussenden wollten. Ihre Denkweise ist alle andere als menschenwürdig. Die Frauen sind damit nicht einverstanden und die werden in jedem Fall weiter protestieren und ihre Rechte einfordern.

Gibt es in Afghanistan eine organisierte, vernetzte Frauenbewegung oder haben wir es eher mit punktuellen Phänomenen zu tun?

Über die aktuelle Situation bin ich nur wenig informiert, doch vor dem Putsch gab es eine Frauenbewegung und gut organisierte Gruppen. Heute gibt es versteckte nichtöffentliche Schulen, die im Hintergrund agieren und im Geheimen Kurse an interessierte Mädchen und Frauen geben. Auch dort verbinden sich Frauen und organisieren dann unter anderem solche Proteste.

Es ist wahrscheinlich schwierig zu sagen, doch gibt es Zahlen, wie viele Frauen sich in den verschiedenen Bewegungen organisieren?

Eine Zahl kann ich Ihnen nicht nennen. Doch ich weiß, dass sich die Bewegung tagtäglich vermehrt und stärker wird.

Organisieren sich Frauen auch über die Sozialen Medien oder ist das unter den Taliban nicht mehr möglich?

Es ist zwar schwierig, doch in der Tat werden Apps und Soziale Medien wie Twitter, Whatsapp und Facebook von Frauen intensiv zur Organisation, Vernetzung und zur Kommunikation untereinander genutzt.

In vielen Aspekten gibt es in Afghanistan ein deutliches Stadt-Land-Gefälle. Wie unterscheidet sich die Lage von Frauen in den urbanen und den ländlichen Gebieten?

Frauen, die in ländlichen Bereichen von Afghanistan leben, werden oft in die Rolle von Müttern, Hausfrauen, Ehefrauen und Kümmerern hineingezwungen. Oft werden sie, auch im jungen Alter, zwangsverheiratet. Sie führen den Haushalt, erziehen die Kinder, kochen. Obwohl es oft nicht einfach ist, sorgen sie sich darum, die Familie zusammenzuhalten. Doch ihre Stimmen werden überhaupt nicht gehört. In den Städten sind Frauen oft leidenschaftliche Aktivistinnen, sie wollen rausgehen und um jeden Preis etwas bewegen. Doch auch für sie bringt diese Doppelrolle, Hausfrau, Mutter und Ehefrau und gleichzeitig Aktivistin zu sein, auch viele Probleme mit sich. Vor der Machtübernahme der Taliban gab es noch ein Mindestmaß an Rechten für Frauen. Sie konnten sich scheiden lassen oder sich gegen häusliche Gewalt wehren. Das ist heute alles Geschichte. Ich höre von vielen Fällen von Selbstmorden von Frauen.

Es gibt bekanntlich eine recht große afghanische Diaspora von Ausgewanderten und Geflüchteten. In welchem Maße sind die Frauen etwa auch in Deutschland vernetzt und organisiert?

Ja, es gibt durchaus Frauengruppen, die sich hier engagieren. Zum Beispiel kochen sie zusammen oder betätigen sich handwerklich und verkaufen die Dinge dann. Das Geld, was da zusammenkommt, wird dann nach Afghanistan gespendet. Besonders Frauen, die keinen direkten Zugang zur Bildung haben, engagieren sich so.

Gibt es noch andere Wege, wie Afghaninnen aus dem Exil die Kämpfe vor Ort unterstützen?

Es gibt auch hier in Deutschland Frauengruppen, in denen ich auch aktiv bin. Wir organisieren hier Demonstrationen und Proteste. Als Frauen in der Diaspora vertreten wir die Frauen in Afghanistan. In der Hoffnung, dort etwas bewegen zu können, zum Beispiel die Geschehnisse in Herat. All diesen Frauen versuchen wir hier eine Stimme zu geben. Wir wollen die Stimme all jener Frauen sein, die dort nicht gehört und unterdrückt werden.

Die Politikwissenschaftlerin Paniz Musawi Natanzi spricht im Kontext des Überfalls der US-Armee auf Afghanistan 2001 von einem „neoimperialen Feminismus“ und meint damit, dass Staaten die Lage von Frauen instrumentalisieren, um Kriege zu rechtfertigen. Auch die Bundeswehr war ja angeblich in Afghanistan, um dort Mädchenschulen zu bauen. Was halten Sie von dem Narrativ, „wir“ müssten in andere Länder einmarschieren, um dort die Frauen zu beschützen?

Das ist in keiner Art und Weise hilfreich. Krieg kann niemals Frieden bringen. Und Krieg kann auch für Frauen niemals etwas Gutes sein. Ich kann sicher sagen, dass jede Familie in Afghanistan Opfer gebracht hat. Jede Frau, die in Afghanistan lebt, hat durch den Krieg großen Schaden genommen. Ein solcher Einmarsch kann niemals durch irgendetwas gerechtfertigt werden. Krieg kann niemals gut sein, egal welche Gründe zur Rechtfertigung herangezogen werden. Was die USA gemacht haben, war grundlegend falsch. Die Frauen in Afghanistan sind unglaublich stark. Was sie durchgemacht haben, ist einfach unglaublich, ist unvorstellbar.

Vor kurzem habe ich im Zug nach Dessau erlebt, wie eine Afghanin angeschrien, rassistisch beleidigt und auch körperlich angegangen wurde. Haben Sie in Deutschland oder Europa rassistische Gewalt erfahren?

Mir persönlich ist so etwas noch nicht passiert, nein. Doch gestern war ich mit Ole [Jacobs, Regisseur der Dokumentation „Nasim“, jW] in Hamburg essen. Ole trug einen Rucksack mit einem Zeichen, aus dem klar wurde, dass er sich für Geflüchtete engagiert. Als wir rausgingen, wurde er von einer Gruppe älterer Damen und Herren heftig kritisiert. Schließlich gäbe es hier doch schon „so viele Flüchtlinge“. Er wurde einfach nur für sein Engagement, seinen Einsatz für Menschenrechte und seine Taten von der Gruppe verbal attackiert.

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