Willkürliche Verhaftung von Geflüchteten durch die serbische Polizei in Belgrad. © Lukas Geisler

Die Balkanroute: Illegale Pushbacks und Polizeigewalt

Am Sonntag, den 26. September 2021 war Bundestagswahl in Deutschland, aber über das Thema Migration wurde in den sogenannten Triellen der Kandidierenden für das Kanzler*innenamt nicht gestritten. Zwar war das katastrophale Ende des Afghanistaneinsatzes der Bundeswehr ein Thema, aber Verantwortung für Schutzsuchende wollte niemand so recht übernehmen – von der Nicht-Rettung der Ortskräfte ganz zu Schweigen.

Nur allzu oft wurde die leere Phrase „2015 darf sich nicht wiederholen“ runtergebetet und über Zusammenarbeit mit Nachbarstaaten von Afghanistan gesprochen, wenn es um flüchtende Menschen geht. Allerdings befinden sich viele Afghan*innen schon seit Jahren auf der Flucht – ohne dabei einen sicheren Ort gefunden zu haben. Nicht nur Griechenland, das Mittelmeer oder die Kanaren sind Schauplätze, die die Auswirkungen der europäischen Abschottungspolitik sichtbar werden lassen, sondern auch wieder und immer noch die Balkanroute. Durch den Brand im Lager Lipa in Bosnien und Herzegowina Ende 2020 gab es eine kurze mediale Berichterstattung über die menschenunwürdige Situation vor Ort, aber die Lebensumstände haben sich seither eher verschlechtert als verbessert.

Die Situation vor den Toren der Europäischen Union

Gerade in Bosnien und Herzegowina und Serbien, die beide nicht Mitglieder in der Europäischen Union (EU) sind, aber direkt an EU-Länder angrenzen, spitzt sich die Situation für die Flüchtenden zu. Nach Angaben von UNHCR befanden sich im August nach offiziellen Zahlen über 5.000 Flüchtende in Serbien – 32 Prozent von ihnen kommen aus Afghanistan, 24 Prozent aus Syrien.[1] Die Zahlen in Bosnien sind ähnlich.[2]

Belgrad, das die Hauptstadt von Serbien ist und zentral in dem sieben Millionen Einwohner*innenland liegt, ist dabei nur ein Zwischenstopp vieler Flüchtender. Von hier geht es weiter an die ungarische Grenze oder nach Bosnien und Herzegowina. Doch auch hier nehmen die Vertreibungen aus Parks und auch die Misshandlung von Flüchtenden durch die Polizei zu. Die schutzlosen Menschen werden in Polizeivans geladen und auf die Polizeistation gebracht – manche werden sogar in Lager an die Südgrenze, wo Serbien an Nordmazedonien grenzt, deportiert. Diese ist über 300 Kilometer entfernt und entspricht einer vierstündigen Autofahrt. Da es dort keine Perspektive für die Flüchtenden gibt, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als den Weg nach Belgrad erneut auf sich zu nehmen.

Die Polizei hat ihre üblichen Razzien und Vertreibungen aber nicht nur fortgesetzt, sondern auch häufiger werden lassen. Auch schon im August berichteten lokale Nichtregierungsorganisationen über groß angelegte Räumungen von besetzten Häusern. Das serbische Innenministerium hat der serbischen Öffentlichkeit weitere regelmäßige Räumungen dieses Ausmaßes für einen unbestimmten Zeitraum versprochen. Obendrein arbeiten viele Polizist*innen verdeckt. Täglich berichten nationale Medien über die Aktionen der Sicherheitsbehörden.

Auch wenn die Flüchtenden nicht das Geringste falsch machen, werden sie auf Trab gehalten. Ihnen werden ihre bloße Existenz und Anwesenheit im Land zur Last gelegt. Der Umgang von Vertriebenen in Serbien ist nicht nur entmutigend, sondern oft auch bedrohlich für Leib und Leben der Menschen. Geflüchtete werden kriminalisiert und man begegnet ihnen weniger mit Gleichgültigkeit, wie dies in den Jahren zuvor der Fall war. Die serbischen Behörden greifen zu hinterhältigen und drakonischen Polizeimaßnahmen. Ihre Botschaft ist klar: Wer auf der Suche nach Sicherheit ist, ist hier nicht willkommen. Doch wo sollen die Flüchtenden hin?

Willkürliche Verhaftungen von flüchtenden Menschen in Belgrad. © Lukas Geisler

Die Balkanroute nach 2015

Die meisten sind über die Türkei in Griechenland eingereist, doch hier ist die Situation seit Jahren katastrophal, ob auf den griechischen Inseln oder auf dem Festland. Die meisten haben ein klares Ziel vor Augen: Mittel- und Nordeuropa. Von Serbien und Bosnien soll es entweder über Ungarn oder Kroatien in die EU gehen.

Im Jahr 2015 begann in der Balkanregion ein Prozess der Wiederherstellung der restriktiven Grenzen. Im Sommer 2015 begann Ungarn als erstes Land entlang der sogenannten Balkanroute mit der Errichtung eines vier Meter hohen und 175 Kilometer langen Zauns entlang seiner Grenze zu Serbien. Elektronische Sensoren, elektrische Drähte, Hubschrauber, Drohnenpatrouillen und die Aufstockung des Personals der ungarischen Grenzschutzbehörden um bis zu 10.000 Personen markierten die rasche Sicherung der ungarischen Balkangrenzen. Im Oktober 2015 wurde ein zweiter Grenzzaun entlang der ungarischen Grenze zu Kroatien fertiggestellt.

Im März 2016 setzte sich die rasche Sicherung der Grenzen auf dem Balkan fort. Donald Tusk, der damalige Präsident des Europäischen Rates, erklärte im März 2016 öffentlich, dass „die irregulären Migrationsströme entlang der westlichen Balkanroute ein Ende gefunden haben“.[3] Letztlich hat diese Politik der geschlossenen Grenzen weder die Migration reduziert noch die Route geschlossen. Stattdessen begannen die Menschen auf der Durchreise, sich heimlichere und gefährlichere Wege in die EU zu suchen. Da es, wenn überhaupt, nur sehr wenige legale Wege gibt, um Asyl in der EU zu beantragen, sehen sich viele Menschen gezwungen, oft tagelang im Schutz der Nacht zu reisen, sich in Lastwägen zu verstecken oder sich an Güterzüge zu klammern.

Die systematische Verstärkung der Grenzen in ganz Südosteuropa wurde bis heute fortgesetzt, wodurch sich die Situation für Flüchtende verschärft. Jede Nacht werden in den Grenzregionen auf dem Balkan Flüchtende angegriffen, ausgeraubt und schlechten Lebensbedingungen ausgesetzt. Dies ist die Realität für jeden, der versucht, ohne die richtigen Papiere in die EU einzureisen.

Serbische Polizei lädt schutzlose Menschen in Käfige in Polizeivans. © Lukas Geisler

Dokumentierte illegale Pushbacks

Im September 2021 veröffentlichte das Border Violence Monitoring Network (BVMN), das illegale Zurückweisungen – sogenannte Pushbacks – an den EU-Außengrenzen dokumentiert, den monatlichen Bericht von August: 324 Menschen waren allein in diesem Monat von illegalen Zurückweisungen betroffen. Die Dunkelziffer liegt höchstwahrscheinlich weit höher. Das Netzwerk fasst in ihrem monatlichen Bericht Zeugenaussagen mit Feldbeobachtungen aus der gesamten Region zusammen und beleuchtet die verschiedenen Arten von Gewalt an den Außengrenzen der EU, die von Mitgliedsstaaten und der Grenzschutzagentur FRONTEX verübt werden. Dabei stellt der Monat August keinen Ausnahmemonat dar: BVMN dokumentierte im Juli 544 betroffene Flüchtende, im Juni waren es 1.073 Menschen und im Mai 760.[4] Doch nicht nur die illegalen Grenzpraktiken entsprechen keinen menschenrechtlichen Normen, sondern auch die legalen Wege, wie Menschen aus EU-Staaten abgeschoben werden können, sind für viele Schutzsuchende lebensbedrohlich. Weder die Lage in Afghanistan noch in Syrien lassen Abschiebungen zu.

Die zunehmende Erweiterung der Festung Europa

Letztendlich wälzen unter anderem Deutschland sowie die Staaten aus Mittel- und Nordeuropa die Verantwortung für Schutzsuchende auf Länder in Süd- sowie Südosteuropa ab. Akademisch gesprochen lässt sich hier von einer Externalisierung, also einer Auslagerung, sprechen. Ob Kroatien, Ungarn oder Serbien, sie treten als willige Türsteher*innen der tonbestimmenden europäischen Länder auf. Am 13. und 14. September reiste Angela Merkel ein letztes Mal nach Serbien. Nach Angaben der Bundesregierung standen bei bilateralen Gesprächen vor allem „wirtschaftspolitische und Fragen der EU-Annäherung im Mittelpunkt“.[5] War ein Verhandlungsfeld auch die Unterstützung bei der Grenzsicherung? Dazu gab es keine Äußerung auf der anschließenden öffentlichen Pressekonferenz. Dass die serbische Regierung im Interesse der Kanzlerin handelt, wenn es um das Vorgehen gegen Schutzsuchende geht, ist allerdings nicht von der Hand zu weisen. Eine zunehmende Erweiterung der Festung Europa löst allerdings keine Probleme, sondern verschlimmert die Situation von vielen Menschen nur.

Ob auf dem Mittelmeer oder im Balkan: Es wird Zeit, dass sich stärkerer Widerstand gegen den Festungskapitalismus regt. An den Außengrenzen der EU kulminieren Rassismus und Kapitalismus – auch die Praktiken an der Grenze sind eine Klassenfrage: Wer nicht genug Geld hat, muss draußen bleiben.

Lukas Geisler setzt sich aktivistisch, journalistisch und wissenschaftlich für ein Ende des restriktiven Grenzregimes der Europäischen Union ein. Dafür reist er regelmäßig an deren Außengrenzen.


[1] https://data2.unhcr.org/en/documents/details/88658

[2] https://data.unhcr.org/en/documents/details/88801

[3] https://twitter.com/eucopresident/status/707543984890060800

[4] https://www.borderviolence.eu/category/monthly-report/

[5] https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/bundeskanzlerin-merkel-reist-am-13-und-14-september-nach-serbien-und-albanien-1958432

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