Im Staatsapparat, insbesondere in den Abteilungen Justiz, Polizei und Bundeswehr, sind nicht nur vereinzelt Rechtsradikale beschäftigt. Lässt sich das Staatstheoretisch erklären? Dieser Frage gehen Andreas Kallert und Vincent Gengnagel nach in: „Staatsraison statt Aufklärung – Zur Notwendigkeit einer staatskritischen Perspektive auf den NSU-Komplex“, Analysen Nr. 39 der Rosa Luxemburg Stiftung, Berlin 2017.[1] Die Frage bleibt relevant, auch wenn heutzutage (2020) der Staat hinsichtlich rechtsradikaler Betätigungen etwas mehr auf die Polizei und Bundeswehr schaut. Daher die folgende Besprechung der Analyse.
Im Jahr 2020 werden die Bundeswehr und die Polizei partiell schärfer unter die Lupe genommen. Chatgruppen mit rechtsradikalem Inhalt werden aufgedeckt, Soldat*innen oder Polizist*innen, die Munitionslager für rechte Zwecke horten, ausgehoben. Klar ist, dass der Mord an dem CDU- Regierungspräsident Walter Lübcke und zahlreiche rechte Drohmails an Politiker*innen im deutschen Staat zu einer gewissen Kursänderung geführt haben. Die Bedrohung von seinen von Amtsträger*innen nimmt der demokratische Staat als das, als was sie auch gemeint ist: Als eine Kampfansage gegen sein politisches System und seine Verfassung. Darum wird jetzt ein wenig mehr hingeschaut und nachgeforscht als zu Zeiten, in denen der NSU abgesehen von einer Polizistin „nur“ Menschen mit „sogenannten Migrationshintergrund“ umgebracht hat. Kallert und Gengnagel machen in ihrer Analyse (2017) über das Verhalten des deutschen Staates in der Aufarbeitung des NSU-Falles anschaulich, dass die ermordeten Menschen (und zukünftige potentielle Opfer) nicht so wichtig waren, als dass der Staat genauer auf seine eigenen Institutionen geguckt hätte; beziehungsweise stellen die Autoren gut dar, dass der Staat sehr genau darauf geachtet hat, dass der Verfassungsschutz, die Polizei und führende Politiker*innen bei der Aufarbeitung keinen Schaden nehmen. Dass das die politische Priorität war, zeigt der Vizepräsident des BfV von 1996–2005 und Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt von 2005–2009 Klaus-Dieter Fritsche (CSU). Im Untersuchungsausschuss zum NSU-Komplex erklärte er: das Zurückhalten von Akten
„(…) schützt zum Beispiel die Grundrechte einzelner unbeteiligter Bürger. Darunter fallen auch die Daten von Mitarbeitern besonders sensibler Bereiche der Sicherheitsbehörden. Aber auch die Funktionsfähigkeit und das Wohl des Staates und seiner Behörden ist in einem Kernbereich besonders geschützt. Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren. Es darf auch nicht so weit kommen, dass jeder Verfassungsfeind und Straftäter am Ende genau weiß, wie Sicherheitsbehörden operativ arbeiten und welche V-Leute und verdeckten Ermittler im Auftrag des Staates eingesetzt sind. Es gilt der Grundsatz ‹Kenntnis nur wenn nötig›. Das gilt sogar innerhalb der Exekutive“. (6)
Merkel hat dann diesen Mann 2014 zu ihrem Staatssekretär im Bundeskanzleramt und zum Beauftragten für die Nachrichtendienste des Bundes gemacht. Es gibt weitere Seiten an der Behandlung des NSU-Falles, die zeigen, dass staatliche Organe nicht besonders interessiert an der Aufklärung des Unterstützernetzwerkes des NSU (im Gerichtsverfahren), über die direkten staatlichen Beihilfen (V-Leute) oder über indirekte Hilfen (Ermittlungsstrategie) waren.
Hier kann man schon merken, dass die Parole, der Staat sei auf dem rechten Auge „blind“ – er könne da also nicht sehen – die Sache gar nicht trifft. Einige Abteilungen des demokratischen Staates wissen nur zu gut, was die rechtsradikalen Fans eines starken Staates treiben, und finden das ganz in Ordnung. Andere Abteilungen möchten genau darüber lieber nicht allzu viel wissen.
Die Autoren bringen die Sache gut auf den Punkt:
„Die konsequente Aufklärung des NSU-Komplexes und der Verstrickungen der Behörden erscheint (…) als nachrangig und sogar kontraproduktiv, wenn durch die Aufklärung das Staatswohl gefährdet und das Regierungshandeln unterminiert werden könnte.“ (6)
Die Autoren halten es zu Recht für wichtig, über eine moralische Empörung hinauszugehen. Man muss dieses Verhalten des Staates beziehungsweise einzelner Abteilungen erklären. Im weiteren Sinne gilt ihr Erklärungsinteresse auch der Beantwortung der Frage, warum der Staat so agiert und warum sich in bestimmten Staatsabteilungen so viele Rechte einfinden.
Ein staatstheoretischer Exkurs
Wie es sich für moderne Akademiker*innen gehört und leider auch in der Theorielinken verbreitet ist, werden aber erstmal Staatstheorien vorgestellt, die man dann auf den Fall anwenden will. Bevor man etwas erklärt, müsse man also erstmal seinen Besteckkasten auspacken, mit dem man dann die Sache wie mit einer Gabel aufspießen kann. Das zweite Kapitel hat daher folgende Überschrift: „Strukturalistisch-materialistische Perspektiven auf die Rechtslastigkeit des Staates“ (7)
Dieser Theorieschwenk soll in dieser Besprechung mitgemacht werden. Das mag zunächst etwas vom Thema wegführen. Es lohnt sich aber, weil sich bereits hier ein zentraler Fehler der Autoren findet, der sich dann später bei der Anwendung der Theorie auf die gestellte Ausgangsfrage – Warum ist der Staat so nachsichtig mit dem Rechtsradikalismus? – rächen wird.
„Aus einer strukturalistisch-materialistischen Perspektive auf den bürgerlich-kapitalistischen Staat besteht seine zentrale Aufgabe darin, mittels allgemeiner Gesetze sowohl die rechtliche Gleichheit aller BürgerInnen als auch das Privateigentum vor allem an Produktionsmitteln zu sichern. Dadurch ermöglicht und garantiert der Staat die Kapitalakkumulation im Sinne einer ‹Ermöglichungsagentur kapitalistischer Bewegung› (Lessenich 2009: 134) und ist als Steuerstaat zugleich auf wirtschaftliche Prosperität angewiesen. Insofern ist der Staat kein ‹geheiligtes Gefäß›, das man mit unterschiedlichem Inhalt füllen könnte (Müller/Neusüß 1971: 8), sondern strukturell an das Kapitalverhältnis gebunden.“ (7)
Mit der Formulierung, dass der Staat dieses oder jenes nur aus dieser oder jener „Perspektive“ so mache oder sei, haben die beiden Autoren schon von vornherein ihre Thesen relativiert und legen nahe: aus anderen Perspektiven kann der Staat auch ganz andere Aufgaben haben. Das ist schon mal komisch.
Inhaltlich muss man der „strukturalistisch-materialistischen Perspektive“ entgegnen: Der Staat sichert gar nicht „vor allem“ das Privateigentum an Produktionsmitteln. Er sichert das Privateigentum überhaupt, und diese Gleichbehandlung ist ja gerade ein Moment rechtlicher Gleichheit. Das Privateigentum wird für alle geschützt, für den Millionär wie für die Bettlerin, also für Leute, die welches haben, und für Leute, die eher keines haben. Dass die Bürger*innen unterschiedlich gut mit Privateigentum ausgestattet sind, ist gar kein Geheimnis, und mit der Eigentumsgarantie wird dafür gesorgt, dass das auch so bleibt. Wenn dann alle frei und gleich um Geld konkurrieren, mit ihren vorhandenen Mitteln, stellen sich die Eigentumsunterschiede nämlich regelmäßig wieder her. Die Autoren machen dagegen die Idee vorstellig, dass die Neutralität der obersten Verfassungsgrundsätze im Gegensatz zur Parteilichkeit des Staates für eine bestimmte Produktionsweise stände. Ihre Analyse – deren Zwischenschritte in diesem Text noch besprochen werden – endet so:
„Aus den oben angeführten Gründen verteidigen die repressiven Staatsapparate die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik nicht auf neutrale Art und Weise (im Sinne des Art. 3 GG ‹Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich›), sondern sind in erster Linie an der Aufrechterhaltung des Staatswesens im Sinne einer ‹Ermöglichungsagentur kapitalistischer Bewegung› (Lessenich 2009: 134) interessiert.“ (24)
Hier wird deutlich, dass die Autoren eine hohe Meinung von dem Gleichheitsgrundsatz haben. Dagegen muss festgehalten werden: Der bürgerliche Staat ist nicht erst da Klassenstaat, wo er sich besonders um die Kapitalist*innen kümmert, sondern bereits in seinen einfachsten Prinzipien Gleichheit und Eigentum.
An diesen, seinen Prinzipien lässt sich erkennen, dass der bürgerliche Staat die politische Gewalt der kapitalistischen Ökonomie ist. Das ist sein Zweck und diesen Zweck setzt er mit seiner Freiheit, die er aufgrund der Monopolisierung der Gewaltmittel hat, um. Die Autoren mögen mit den von ihnen zitierten Staatstheoretiker*innen von einem Zweck nicht reden. Stattdessen habe der Staat „Aufgaben“ und es wäre zu fragen, wer ihm die eigentlich gestellt hat. Und der Staat ist einkommensmäßig abhängig vom Erfolg der Kapitalakkumulation. Nur: Dass der Staat sich nicht selber als ökonomisches Subjekt betätigen will, das zwingt ihm niemand auf. Er will ein „Steuerstaat“ sein, der davon lebt, dass er den Bürger*innen die ökonomischen Aktivitäten überlässt und ihnen dann immer etwas von ihrem Ertrag wegnimmt. Das heißt, dass er die Trennung von politischer und ökonomischer Sphäre will – und nicht, dass er an das Kapitalverhältnis gebunden wird (Von wem denn?). Kurzum: Der zentrale Fehler der zitierten Staatstheorien und der Autoren ist es, ständig von der „Funktion des Staates“ (7) zu sprechen, statt vom Zweck des Staates.
„Infolgedessen ist er auch politisch nicht neutral gegenüber verschiedenen gesellschaftspolitischen Kräften, sondern parteiisch und mit eigenen (sic!) Interessen ausgestattet (Offe 2006: 115).“ (7)
Hier wird immerhin mal von Staatsinteressen gesprochen. Die unterscheiden sich von anderen Interessen in der Gesellschaft. Und zwar sowohl inhaltlich, als auch von der Durchsetzungskraft.
Das Interesse des bürgerlichen Staates, sich eine bürgerliche Gesellschaft gegenüberzustellen, in der es allgemein ums Geldverdienen gehen soll und alle darin eine Einheit bilden, dass sie mit- und gegeneinander konkurrieren – dieses Interesse hat so kein einzelnes Konkurrenzsubjekt. Dieses kümmert sich eben um seinen privaten Gelderwerb. Weil der Staat die Bürger*innen auf lauter Gegensätze verpflichtet (Unternehmer*innen–Arbeiter*innen, Vermieter*innen–Mieter*innen, Verkäufer*innen–Käufer*innen und so weiter), muss er die Garantie des Eigentums und der Verträge auch gegen die Bürger*innen durchsetzen. Die Durchsetzung von „Recht und Ordnung“ verlangt das Verbot privater Gewalt mittels Monopolisierung der Gewalt in der Hand des Staates. Der Staat und seine Durchsetzungskraft gegen alle Bürger*innen ist somit die absolute Bedingung des gesellschaftlichen Staatszweckes. So wird die Frage der Durchsetzungskraft selber zum Staatszweck. In diesen Staatszwecken ist der Staat nicht neutral, sondern parteiisch und zwar für sich.
Der zitierte Politologe Offe denkt allerdings bei dem staatlichen Eigeninteresse gar nicht an diese Prinzipien des bürgerlichen Staates, sondern ist gleich bei der Abteilung Wirtschaftspolitik. Da kennt der Staat Lieblingsbürger*innen, nämlich die erfolgreichen Kapitalist*innen (also keineswegs alle!). Die heißen auch gerne mal „die Wirtschaft“, von der bekanntlich alles abhängt. Und egal wie gut die kapitalistische Gesellschaft gerade läuft, immer fragt sich der Staat, wie er den Gesamterfolg in Sachen Geldverdienen verbessern kann. Zum Beispiel fördert er dann mit Subventionen, steuerlichen „Entlastungen“ oder gekonnten Kürzungen in der sozialstaatlichen Abteilung direkt und indirekt die erfolgreichen Unternehmen. Nur diese Parteilichkeit kennt Offe als staatliches Interesse. Und damit ist er in der Staatsanalyse viele Schritte zu spät. Der Staat ist gerade da „parteiisch“ für den Kapitalismus, wo er es sich in Form von Grundgesetzartikel geradezu verbietet, parteiisch für Einzelne zu sein: Bei den Gleichheitsgrundsätzen in Sachen Freiheit und Eigentum. Und nicht erst wenn der Staat Arbeiteraufstände niederschlagen muss (was in der BRD so gut wie nie der Fall war), legt der Staat auf sein Gewaltmonopol sehr viel wert. Das Gewaltmonopol ist die absolute Bedingung der funktionierenden Klassengesellschaft und nicht erst da, wo Kommunist*innen oder Anarchist*innen den Aufstand proben.
Wenn das aber so ist, dann ist es auch kein großes Geheimnis mehr, warum der Staat für seine bewaffneten Verbände (Polizei, Grenzschutz, Militär) und ihre Amtsführung von vornherein sehr viel Verständnis hat – auch wenn die sich mal nicht an sein Recht und Gesetz halten. Und dann ist es auch nicht verwunderlich, dass er Leute, die die Staatsgewalt abschaffen wollen, sehr viel misstrauischer betrachtet, als Leute, die immer finden, der Staat sei zu schwach, zu nachgiebig, zu lasch und eigentlich gar kein richtiger Staat mehr.
Warum hat der Staat so wenig gegen seine rechten Fans und Feinde?
Die Analyse der Autoren wendet sich nach den staatstheoretischen Überlegungen jetzt ihrem eigentlichen Thema zu: Wie erklärt sich die eigentümliche NSU-Aufarbeitung beziehungsweise warum ist der Staat so nachsichtig mit dem Rechtsradikalismus?
„Zunächst ist festzuhalten, dass der Staat kein monolithischer Block ist. Gerade verschwörungstheoretische Analysen unterstellen oftmals den einen Akteur Staat bzw. den einen Staatsapparat (meist ein Geheimdienst), der die Strippen im NSU-Komplex zieht. Stattdessen agieren im Staat verschiedene Apparate, die von widerstreitenden Interessen aufgrund gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse und unterschiedlicher Historien durchzogen sind (Pichl 2015: 287 ff.). Das Verhalten ‹des Staates› im NSU-Komplex setzt sich entsprechend aus Institutionen mit widersprüchlichen Interessen zusammen, die diese in relativer Autonomie voneinander vertreten.“ (7f.)
Dass der Staat kein monolithischer Block ist, stimmt. Das lässt sich alleine daran erkennen, dass der Staat sich selbst eine Gewaltenteilung mit unterschiedlichen Aufgaben, Befugnissen und Unterabteilungen gibt. Deswegen muss man aber „den Staat“ nicht in distanzierende Anführungsstriche setzen. Die Gewaltenteilung beruht auf der Einheit der Gewalt, so dass ein Richterspruch die Exekutive in Gang setzt, wie umgekehrt die Gesetzgebung und die Exekutive darauf angewiesen ist, dass die Richter ihren Job machen. Zunächst hat man es mit einer Arbeitsteilung innerhalb des Staates zu tun.
Dass die unterschiedlichen Abteilungen des Staates eine relative Autonomie genießen, stimmt auch. Nur so macht die Gewaltenteilung ja überhaupt Sinn. Manchmal geraten sie sogar in Gegensatz zueinander, etwa wenn das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz des Parlaments kassiert. Weil die Autoren keinen Staatszweck kennen, wissen sie auch nicht, warum eine Gewaltenteilung dafür ganz sinnvoll ist und welche Rolle die einzelnen Abteilungen dafür haben. Die widerstreitenden Interessen zwischen den Apparaten erklären sie sich nicht aus den Apparaten, sondern mit Pichl aus staatsfremden „gesellschaftlichen Kräften“. Irgendwie spiegeln sich die widerstreitenden Interessen aus der bürgerlichen Gesellschaft (seien es ökonomische Interessen oder zivilgesellschaftliche, parteiliche Interessen) in die Apparate hinein.
Die Autoren stellen jetzt folgende These auf: „Staatsbehörden lassen sich ideologisch tendenziell als eher rechts und gegen linke Ideen ausgerichtet beschreiben.“ (8) Mit Beispielen wollen die Autoren erläutern, woran sie dabei denken: „Linke Weltanschauungen wollen die Bedingungen der (Lohn-)Arbeit verbessern. Das bedeutet gleichzeitig, die Kapitalakkumulation zu erschweren, an der der bürgerliche Staat als deren ‹Ermöglichungsagentur› wiederum ein wesentliches Interesse haben muss.“ (8)
Wie bereits oben kritisiert, denken die Autoren bei der Ermöglichungsagentur direkt an die Wirtschaftspolitik im Interesse der einzelnen Kapitalist*innen. Dagegen muss festgehalten werden, dass der Staat bereits mit seiner Gleichbehandlung in Sachen Freiheit und Eigentum den Kapitalismus „ermöglicht“ – wenn man das so ausdrücken will. Als Sozialstaat hilft er dann den Lohnarbeiter*innen, überhaupt eine Existenz als Lohnarbeiter*in zu pflegen. In der wirtschaftspolitischen Reflexion gerät dann wiederum der Sozialstaat zum Abtrag, gegen den der Staat den erfolgreichen Kapitalist*innen behilflich sein will. Der bürgerliche Staat lotet den Widerspruch zwischen Wirtschaftsförderung und Sozialstaat also ständig aus. Insofern kann man festhalten: Sowohl Weltanschauungen, die meinen, man müsse alles nur dem Markt überlassen, als auch solche, die die Lohnarbeitsbedingungen auf Kosten des Kapitals verbessern wollen, kommen im demokratischen Staat nur bedingt und in absoluter Hinsicht gar nicht zum Zuge. Weil die Autoren aber den Staat nur als – indirektes – Instrument der Kapitalist*innen sehen, können sie das nicht erkennen.
„Linke Politik richtet sich zudem oftmals gegen die staatliche, als zu restriktiv beurteilte Asylpolitik und gerät so in Konflikt mit den entsprechenden staatlichen Behörden.“ (8) Das stimmt. Umgekehrt stimmt auch, dass rechte Politik (AfD, Pegida, Bürgerwehren) sich oft gegen die staatliche, als zu freizügig beurteilte Asylpolitik richtet und so auch in Konflikt gerät mit den staatlichen Behörden. Warum diese zwei Sorten Konflikt vom Staat unterschiedlich beurteilt werden, ist gerade die Frage.
„Darüber hinaus bedroht sie zumindest als Oppositionsrhetorik die Sicherheitsapparate, wenn etwa der Verfassungsschutz durch linke Parteien und Strömungen infrage gestellt wird: so etwa Avanti – Projekt undogmatische Linke, das den Verfassungsschutz als ‹politisches Kampfinstrument gegen links›, insbesondere in den Händen der CDU, begreift (Avanti 2012). Demzufolge will nicht nur die Partei DIE LINKE den Geheimdienst abschaffen, sondern dieser auch die Partei (vgl. Petermann 2013).“ (8)
Ob der Verfassungsschutz DIE LINKE und Avanti (heute IL) vor allem deswegen beobachtet, weil diese Gruppierungen den Verfassungsschutz abschaffen wollen oder nicht aus gewichtigeren Gründen, sei hier einmal dahingestellt. Vor allem aber bleibt die Frage, ob der Verfassungsschutz das Anliegen seiner Abschaffung nur deshalb nicht lustig findet, weil dann die Beamtengehälter nicht mehr gezahlt werden würden. Vielmehr sieht der Verfassungsschutz in dem linken Ansinnen der Abschaffung von Geheimdiensten ein staatsgefährdendes Anliegen – und es ist schließlich der originäre Auftrag an die Geheimdienste innerhalb des Staates: Staatsfeinde und -gefährder*innen ausfindig machen und beobachten.
„Im Unterschied dazu haben Rechtskonservative und Nazis mit einem mächtigen Staat, Geheimdiensten und staatlichen Institutionen, die der parlamentarischen Kontrolle weitgehend entzogen sind, grundsätzlich weniger Probleme, da ihr vigilantistisches Selbstverständnis eher auf die Erhaltung oder Verstärkung des rassistischen Normalzustands abzielt (vgl. Waldmann 2010; Quent 2016: 130–163).“ (8)
Vigilantismus bedeutet Selbstjustiz. Aus diesem Begehren heraus haben Rechtskonservative und Nazis bestimmt nicht weniger Probleme mit einem mächtigen Staat und Geheimdiensten, sofern der nicht macht, was sie wollen. Und: Geheimdienste, die stärker unter die parlamentarische Kontrolle gebracht werden, machen einen Staat nicht weniger mächtig. Hier hätte man aber immerhin mal einen Bogen zum rechten Standpunkt angesprochen: Er meint fälschlicherweise, dass eine rechtsstaatlich gebundene Gewalt, die dann noch einer parlamentarischen Kontrolle unterliegt, in einem Parlament, in dem es streitende Parteien gibt, tatsächlich ein Weniger an Gewalt bedeutete. Dabei wird der Gewalt dadurch nur ein bestimmter Inhalt mit auf den Weg gegeben. Der rechte Fehler ist, eine rechtsstaatliche Gewalt als mangelnde Gewalt aufzufassen. Diesen Fehler teilen sie mit vielen Linken, nur dass die Linken weniger Gewalt tendenziell gut finden und sich daher für den Rechtsstaat einsetzen.
Rechte Standpunkte zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Einheit der Nation in Gefahr sehen und die staatliche Gewalt als entscheidendes Mittel zur Wiederherstellung der Einheit sehen.[2] Das erklärt, warum sie den direkten staatlichen Gewaltbehörden, Bundeswehr, Polizei, Staatsschutz, mehr abgewinnen können, ja beklagen, dass sie zu wenig zum Zuge kommen. Vielleicht hat Althusser das ja so gemeint:
„Gerade die ‹repressiven Apparate› (Althusser 11), die in erster Linie die mit Gewalt funktionierenden Institutionen umfassen – Justiz, Polizei, Militär, Geheimdienste – stehen strukturell einem rechten Normensystem nahe.“ (8)
In der „Analyse“ kommt das aber wieder sehr beschreibend daher – das ist so, aber warum, das wird nicht erklärt.
„Nichtsdestotrotz zeigt sich die staatsoffizielle Politik gemäß dem Extremismusmodell gleichermaßen gegen Links- als auch Rechtsextremismus eingestellt (vgl. Liebscher 2013). Dabei wird unterstellt, dass von beiden ‹Rändern› eine vergleichbare Bedrohung ausgehe. Problematisch ist an dieser Gleichsetzung insbesondere, dass zentrale Unterschiede im Gewaltpotenzial, das von rechten und linken Bewegungen ausgeht, eingeebnet werden: Auf den Punkt gebracht stellt Gewalt in linken Ideologien allenfalls ein (letztes) Mittel zur Schaffung einer Gesellschaft der Gleichen dar, während die Vernichtung ‹unwerten› Lebens ein Kernbestandteil rechter Weltanschauungen ist.“ (8)
Nachdem die Autoren eher beschreibend versucht haben darzustellen, dass staatliche Behörden eher für rechte Gedanken denn für linke Gedanken offen seien, fällt den Autoren ein, dass die offizielle Theorie diesen Unterschied so nicht macht, ja explizit beide politischen Spektren als Extremismus gleichsetzt. Die Autoren finden das problematisch, aber in ihrer Analyse sollte es ja gerade nicht um moralische Empörung, sondern um die Erklärung des Staatshandelns gehen. Daher muss man ganz klar sagen: Den Unterschied zwischen linkem und rechtem Gewaltpotential, den die Autoren wichtig finden, findet der demokratische Staat erstmal nicht so wichtig. Unter dem Stichwort „Extremismus“ ist erst mal alles subsumiert, was grundlegende Veränderungen will. Der Staat sieht seinen Zweck gefährdet und in diesem Lichte sind ihm unterschiedlichste Akteure gleich: Extremisten.
Dass diese Unterschiede dann aber doch nicht gleichgültig sind, zeigt sich darin, dass der Staat in seiner Abteilung Staatsschutz die Extremismustheorie pflegt und genau damit dann doch mehr nach links schaut. Der Grund dafür ist: Rechte wollen einen starken Staat und stellen sich deswegen gegen die Demokratie, also die Staatsform. Insoweit hat der Staatsschutz Gründe, so auf die Rechten zu schauen: Die Rechten sind zwar tendenziell Verfassungsfeinde, aber aus lauter Gründen, die viele Staatsbedienstete gut nachvollziehen können, weil es ihnen auch in der Hauptsache um das Wohl des Staates und der Nation geht. Die Linken dagegen stehen im Verdacht, eine andere Ökonomie einführen und Herrschaft überhaupt abschaffen zu wollen. Sie stellen sich so gegen den Staatszweck. Das ist in den Augen des Staatsschutzes pur ein Verbrechen, da müssen keine Häuser besetzt oder Molotow-Cocktails mehr geschmissen werden.
Die spezielle Rechtslastigkeit in den „repressiven Staatsapparaten“
„Die ideologische Rechtslastigkeit und der entsprechende Korpsgeist hängen wiederum eng mit der Personalrekrutierung vor allem in den repressiven Staatsapparaten zusammen. (…) Dabei bildet das Personal in den repressiven Apparaten nicht einfach nur den Querschnitt der Einstellungen in der Bevölkerung ab (vgl. Decker et al. 2016), vielmehr ziehen die Sicherheitsbehörden RekrutInnen mit spezifischen, rechtsgerichteten Normen- und Wertemustern an.“ (9)
Diese beiden Urteile werden unterfüttert mit empirischen Studien. Vor der Einstellung sind die zukünftigen Richter*innen, Polizist*innen und Soldat*innen schon überproportional stramm rechts (wählen die oder sind zu großen Anteilen bei der Front National oder AfD) und sind es auch als berufstätige Richter*innen, Polizist*innen und Soldat*innen. Richtig stellen die Autoren fest:
„Überproportional vertreten sind in den repressiven Staatsapparaten also nicht nur Staatsdiener, die ‹auf dem rechten Auge blind›, sondern schlicht rechts sind.“ (9f.)
Gleich kommt die Analyse der Autoren auf eine Sorte Erklärung für diese Fakten. Vorweg soll noch auf Folgendes hingewiesen: Bislang haben sich die Autoren überhaupt nicht mit den speziellen Staatsaufträgen an die Richter*innen, Polizist*innen und Soldat*innen beschäftigt. Wozu sind diese Apparate da? Was ist das Selbstbild dieser Berufsgruppen? Wie verarbeiten sie ihr Selbstbild angesichts des beruflichen Alltags? Mit welchen Überlegungen kriegen sie es hin, diese Berufe dauerhaft auszuüben? Dass die Berufe zu „rechtsgerichteten Normen- und Wertemustern“ passen, ist so nur behauptet und überhaupt nicht an der spezifischen Tätigkeit dieser Staatsabteilungen nachgewiesen. Vielleicht käme bei einer solchen Untersuchung sogar heraus, dass die Berufsgruppen aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit im Staatsdienst ein spezifisches Radikalisierungspotential nach Rechts haben.[3] Das sei vorweggeschickt, weil die „Erklärung“ seitens der Autoren dann wieder recht brachial an ihre eingangs gemachten Staatstheorien anknüpft:
„Die Rechtslastigkeit des Staates ist kein Zufall. Eine hilfreiche Kategorie zu ihrer Erklärung ist der Begriff der strukturellen Selektivität. Der Staatstheoretiker Nicos Poulantzas beschreibt damit in Anlehnung an Claus Offe, dass die unterschiedlichen Staatsapparate manchen gesellschaftlichen Kräften gegenüber offener sind als anderen (Poulantzas 2002: 165 f.). Die staatlichen Apparate filtern sozusagen je nach gegenwärtiger Konfiguration der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse bestimmte Politiken und politische Kräfte: Strukturell sind daher im bürgerlichen Staat die Kapitalakkumulation und damit die Interessen des Kapitals wichtig und besonders schützenswert (und damit für ‹Staatsschutz› konstitutiv) – unter anderem auch deshalb, weil der Staat als Steuerstaat auf eine möglichst hohe Kapitalakkumulation angewiesen ist.“ (10)
War man gerade noch bei der Frage, warum speziell bei den Richter*innen, Polizist*innen und Soldat*innen der rechte Standpunkt weit verbreitet ist, ist man jetzt wieder allgemein beim Staat angelangt. Da kämen selektiv eher Rechte zum Zuge, weil der Staat vom Kapital abhänge. Wenn hohe Beamte im Verfassungsschutz von Staatsschutz reden, dann meinen die Autoren mithilfe ihrer Theoretiker*innen, dass der Staat eigentlich nur Kapitalschutz betreibe.
Dieser ungebrochene Übergang von speziellen Staatsabteilungen zu dem Staat wird dann versucht mit folgendem Theorieversatzstück zu kitten: „Die einzelnen Apparate weisen dabei widersprüchliche Selektivitäten auf, weshalb die Vorstellung einer Staatsentität zurückgewiesen werden muss (vgl. Bretthauer 2006: 93).“ (10)
Dass in anderen Abteilungen des Staates und bei deren Angestellten andere Weltbilder überwiegen, mag sein. Aber warum, das wäre mal zu klären. Warum man deshalb eine Staatsentität, also die Vorstellung von „dem Staat“ zurückweisen muss, ist das Geheimnis der Autoren. Ist es so schwer zu verstehen, dass zur Aufrechterhaltung einer Konkurrenzgesellschaft sowohl Sozialarbeiter*innen als auch Polizist*innen nützlich sind und sie trotz wechselseitiger Skepsis und fallweiser Kollision letztlich gut zusammenarbeiten? Das ist, als ob man bei einem Auto sagen würde, dass es keine Einheit ist, weil es neben dem Gaspedal auch eine Bremse hat, und das Licht und der Scheibenwischer auch unabhängig voneinander funktionieren.
„Poulantzas spricht von einer ‹Prioritätendetermination› in den verschiedenen Staatsapparaten (Poulantzas 2002: 166). Auf den NSU-Komplex bezogen sind deshalb eine funktionierende Wirtschaft und das Vertrauen des Kapitals in die (rechtsstaatlichen) Institutionen wichtiger für das Staatswohl als das Verhindern bzw. Aufklären von Morden an Menschen, die als MigrantInnen identifiziert werden: Deren Verunsicherung und Vertrauensverlust angesichts einer (nicht aufgeklärten) rassistischen Mordserie erscheinen demgegenüber als relativ irrelevant. Nicht zuletzt diese Prioritätensetzung bringt den kapitalismusimmanenten Rassismus zum Ausdruck (vgl. Hirsch 2005: 66 ff.).“
Es wäre zu klären, was eine Prioritätendetermination der Staatsabteilungen wäre. Vernünftigerweise könnte man darunter verstehen, dass alle Abteilungen wichtig sind, aber je nach gesellschaftlicher Lage, manche Abteilungen wichtiger sind als andere. Das zeigt sich in Extremsituationen wie dem Krieg, wo die ganze Freiheit des Kapitals, die der Staat in normalen Zeiten in Form gleichberechtigter Eigentumsgarantie gewährt, dem Selbstbehauptungszweck des Staates gegen einen anderen Staat, untergeordnet wird – und dann das Wirtschaftsministerium wenig zu melden hat relativ zum Kriegsministerium. Das zeigt sich aber auch im Falle der NSU-Aufarbeitung: Das Ansehen der Polizei-, Geheimdienstbehörden und einzelnen Ministern inklusive ihre Arbeitsweise wurde von allerhand Staatsagent*innen (Merkel, das Gericht, die Behörden selbst) höher gestellt, als das intensive Nachbohren bei den anrüchigen Behörden oder Einzelpersonen zum Zwecke der allseitigen Offenlegung aller Beiträge in der NSU-Zeit. Da die Autoren aber den Staatsschutz gar nicht getrennt vom Kapitalschutz kennen, läuft ihr Urteil über die ganze Affäre darauf hinaus, dass dem Staat das Kapital wichtiger sei als die Verunsicherung eines bestimmten Bevölkerungsanteil.
Dass Politiker*innen und Staatsangestellte aus der Logik heraus, dass nur der Staat für die Sicherheit der Bürger*innen sorgen könne und dabei das Vertrauen aller Staatsbürger*innen in die Sicherheitsbehörden sehr wichtig ist, zum selben Schluss kommen können wie rechtsradikale Staatsdiener*innen, denen das Schicksal von Leuten, die sie als „Ausländer“ betrachten, egal ist, weil sie diese sowieso gerne aus der deutschen Gesellschaft entfernen wollen: Dass der Schutz des Ansehens der Sicherheitsorgane wichtiger ist als das Bedürfnis nach allseitiger Aufklärung – das kommt den Autoren nicht in den Sinn. Das kommt daher, dass sie sich mit dem Staat und seiner Arbeitsteilung gar nicht beschäftigen. Ständig warnen sie in widersprüchlicher Weise davor, den Staat als ein Subjekt zu betrachten, wenn sie den Staat dann doch als Subjekt besprechen – schließlich ist er irgendwie rechtslastig, weil für das Kapital. Wo der Staat qua Gewaltmonopol über den Kräfteverhältnissen steht, wollen sie ihn lieber als umkämpftes Terrain betrachten, auf das man als linke Bewegung oder Partei gehörig Einfluss nehmen könnte, wenn man kämpferisch wäre. Ist die Linke oder wahlweise die „Zivilgesellschaft“ nicht kämpferisch (diesen Vorwurf machen die Autoren ihnen in Sachen mangelhafter Aufklärung in Sachen NSU-Komplex auch noch und wollen den Vorwurf dann mit Gramsci durchaus als Mit-Schuld verstanden haben – S. 10f.), dann setzen sich die rechten zivilgesellschaftlichen oder ökonomischen Kräfte im Staat durch. Von einer „strukturellen“ Logik des Staates selber bleibt so nichts übrig, sondern nur seine strukturelle Abhängigkeit von dem, was woanders passiert. Er ist abhängig vom Kapital und dann auch noch Spielball von sonstigen Kräften in der Gesellschaft – armer Staat, da kann man wirklich nicht viel von ihm erwarten. Oder sollten wir Linke nicht doch mehr um und für ihn kämpfen? Auf der Straße und im Parlament? Lieber nicht.
Ein Text von den Gruppen gegen Kapital und Nation – www.gegner.in
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Anmerkungen und Quellen:
[1] https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Analysen/Analysen39_Staatsraison.pdf
[2] Siehe dazu die Broschüre: „Von Schland nach Gauland – Das Krisenprogramm der AfD und seine demokratische Grundlage“, Gruppen gegen Nation und Kapital, erhältlich unter: https://gegen-kapital-und-nation.org/page/broschueren-und-flugblatter-von-gkn
[3] Diese Fragen behandelt der Text „Bei der Polizei und der Bundeswehr wird es umtriebig: vom gesellschaftlichen Vorbild, über den nestbeschmutzenden Einzelfall, zur Operation ‚Eiserner Besen‘“ von den Gruppen gegen Kapital und Nation; http//:gegner.in