„Clan-Debatten“ sind geprägt von sicherheitspolitischen Hardlinern – Im Gespräch mit Mohammed Ali Chahrour

Im Zuge ihres lahmenden Wahlkampfes in Hessen hat die Bundesinnenministerin die sog. Clankriminalität zum Anlass genommen um die Abschiebung von „Clanmitgliedern“ auch ohne Verurteilung zu fordern. Der Vorstoß sorgte für viel Diskussionsstoff. Auch wenn dies wahrscheinlich nur ein Wahlkampfmanöver war, so wird die sog. „Clankriminalität“ immer wieder von rechten Kräfte zu Hetze gegen migrantische Communities genutzt.

Mit den Menschen, die durch dieses Stigma kriminalisiert und rassifiziert werden, wird kaum gesprochen. Mohammed Ali Chahrour will das ändern und bringt gemeinsam mit anderen den kritischen Sammelband: „Generalverdacht – Wie mit dem Mythos Clankriminalität Politik gemacht wird“ raus. Wir haben mit ihm gesprochen.

Die Freiheitsliebe: Du bringst in wenigen Wochen das Buch „Generalverdacht – Wie mit dem Mythos Clankriminalität Politik gemacht wird“ raus – Worum geht’s?

Mohammed Ali Chahrour: Ich bringe gemeinsam mit vier weiteren Herausgeberinnen das Buch heraus. Unser Buch ist ein kritischer Sammelband mit einem wissenschaftlichen Anspruch; mit Beiträgen aus der Forschung von Juristinnen, Kriminologinnen, Migrationsforschern,wir haben aber auch Beiträge aus der Zivilgesellschaft. Wir versuchen, die ganze rassistische Debatte um die Clankriminalität aus verschiedenen Sichtweisen zu betrachten und dem rassistischen Bauchgefühl Fakten entgegenzustellen.

Gemessen an der Massenkriminalität macht die „Clankriminalität“ zwischen 0,1 und 0,6% der Straftatermittlungen aus, das heißt wir haben ein sehr kleines Phänomen, was aber ein sehr hohes Gewicht in der öffentlichen und politischen Debatte hat. Ein Phänomen, das auch genutzt wird, um migrations- und sicherheitspolitische Verschärfungen zu erwirken. Zuletzt haben die Debatten um Freibäder zugenommen, bei denen auch suggeriert wird, dass es sich bei Straftaten in Freibädern um ein Massenphänomen handelt und von rechten Politikern behauptet wird, man könne nicht mehr in ein Freibad in Berlin Kreuzberg oder Neukölln. Dabei zeigen die Zahlen deutlich, dass die Kriminalität dort stark zurückgeht.

Diese Debatten haben in den letzten Jahren immer weiter zugenommen, das führt zu einer immer stärkeren Polizeipräsenz in den Kiezen in Berlin, wie auch in Essen, das geht einher mit Großrazzien und vielen Medienauftritten von Reul oder Hickel. Diese Show möchten wir mit dem Band adressieren.

Die Freiheitsliebe: Bevor wir zu den politischen Dimensionen kommen, lass uns erst noch über das Wort „Clan“ reden, das taucht immer wieder auf, dabei ist es weder in den Polizeiberichten noch in der Wissenschaft wirklich definiert. Wer ist denn damit gemeint?

Mohammed Ali Chahrour: Der Begriff „Clan“ ist das pseudo-ethnologische Feigenblatt was versucht dieser Debatte einen wissenschaftlichen Bezug zu geben. Der Begriff kommt aus der Polizeiarbeit, dort gab es vor nicht allzu langer Zeit den Begriff „Nafri“ für Nordafrikaner, ähnlich verhielt es sich mit dem Begriff Clan, der für kurdische, arabische und türkische Familien angewendet wurde. Der Begriff wurde dann über eher rechte Kreise der Politik in die Debatte getragen.

Der Begriff meint Großfamilien, die wie kriminellen Banden funktionieren und agieren, allerdings gibt es keine Belege, dass diese Familien so funktionieren. Es gibt natürlich Menschen aus Großfamilien, die kriminell sind, dafür gibt es auch Ursachen, auch wenn es keine Rechtfertigung gibt. Es gibt allerdings nicht diese Großfamilien, in denen mehrere hundert Menschen einem Patriarchen gehorchen und gemeinsam Straftaten begehen. Das ist eine rassistische Konstruktion, die vorherrscht, dazu gibt es auch Studien, die das zeigen.

Es gibt zwar keine Belege für diese Funktionsweisen von Großfamilien, auf Grundlage dieses Ansatzes werden allerdings Menschen kriminalisiert, es gibt zum einen namensbasierte Ansätze, zum anderen ethnische. Was sie aber gemein haben ist, dass die Zuordnung zu einer Gruppe jemanden als Teil einer kriminellen Gruppe abstempelt. Das geht inzwischen so weit, dass die Zuordnung nahöstlich oder muslimisch schon reicht, um jemanden unter Generalverdacht zu stellen, damit werden dann potentiell hunderttausende in Deutschland unter Generalverdacht gestellt.

Die Freiheitsliebe: Du hast grade schon angesprochen, dass die Fokussierung auf Menschen mit Migrationsgeschichte aus speziellen Ländern mit bestimmten Nachnamen liegt. Grade im Berliner Wahlkampf wurde aber auch mit bestimmten Symboliken gearbeitet, wie dem teuren Auto mit Schusslöchern. Wie funktioniert die Darstellung in der Öffentlichkeit?

Mohammed Ali Chahrour: Das war eine Aktion des neuen Jugendstaatssekretärs Falko Liecke. Die „Clans“ sind inzwischen nicht mehr nur ein polizeiliches oder politisches Phänomen, sondern auch ein Popkulturelles, die „Berliner Clans“ erinnern dabei an die New Yorker Mafia. Es gibt natürlich auch immer wieder spektakuläre Verbrechen, wie den Raub im Bode-Museum, aber die Gesamtdarstellung in der Öffentlichkeit ist insgesamt überzogen. Mit diesem Buch versuchen wir dem eine nüchterne Darstellung entgegenzusetzen.

Denn wir wissen, dass dieses Phänomen an der Gesamtkriminalität unter 1% ausmacht. Die hohe Aufmerksamkeit liegt auch an der rassistischen Komponente.

Dieses Clan-Label sorgt heute dafür, dass den Menschen individuelle Rechte abgesprochen werden und sie im Kontext eines vermeintlichen Kollektiven betrachtet werden. Dies trifft vor allem Menschen, die historisch auch schon ausgegrenzt waren, vor allem durch die Duldungspolitik, es traf dann die staatenlosen Kurden, Araber oder Palästinenser. Diesen Menschen wurde in den 80er Jahren ihr Recht auf Asyl und Schutz verwehrt, was einher ging mit Arbeitsverboten und dem Ausschluss aus dem Bildungssystem. Die Folge war, dass diese Menschen über Jahrzehnte hinweg deutlich schlechtere Chancen hatten, woraufhin einige wenige einen illegalen Weg gingen. Diese kleine Zahl wurde dann genutzt, um die gesamte große Community zu diskriminieren. Das geschieht dann vor allem über das Clan-Label. Man könnte sagen:

Das Clan-Label ist die Fortsetzung der Kettenduldung, früher durfte man mit der Duldung kein Job haben, heute bekommt man ihn wegen des Nachnamens nicht, die Duldung hieß, ich durfte mir keine Wohnung suchen, das Clan-Label führt dazu, dass ich keine Wohnung kriege. Es ist eine irrwitzige sicherheitspolitische Fortsetzung der falschen Integrationspolitik.

Die Freiheitsliebe: Du sprichst die Praxis der Kettenduldung als Vergangenheitselement an, im Ruhrgebiet gibt es inzwischen Menschen, die über 40 Jahre in Kettenduldung leben. Was auffällt, ist die Verknüpfung von sicherheitspolitischen und asylrechtlichen Diskursen, die immer radikaler werden. Sind die Forderung mit dem Grundgesetz vereinbar?

Mohammed Ali Chahrour: Einige der Forderungen sind mit dem Grundgesetz überhaupt nicht in Einklang zu bringen. Aber wir sind in einer Situation, in der die AfD immer stärker wird und die CDU unter Merz immer rechter, so könnte eine grundgesetzändernde Mehrheit im Bundestag, die gewisse Gleichheitsgrundsätze abschafft, möglich sein. Es weiß schließlich niemand, wie der Bundestag dann aussieht. Wir haben viele Probleme in diesem Land, wie Fachkräftemangel oder soziale Probleme, wie Armut oder niedrige Löhne. Die Lösung für all diese Probleme wird heute in der Sicherheitspolitik gesehen statt in der Sozialpolitik. Mängel im Sozial- oder Bildungssystem werden sicherheitspolitisch beantwortet, statt diese zu beheben.

Wir sehen eine Verknüpfung von Diskursen im Kontext „Clan“ mit Forderungen aus dem Terrorismusbereich. Wie die Forderung nach Abschiebung von Menschen aufgrund des Nachnamens, dabei stammt die Forderung nach Abschiebung von Menschen und der Entzug der Staatsbürgerschaft, aus dem Kampf gegen den Terror. Dort hat die Abschiebung von islamistischen Terroristen bereits Anwendung gefunden. Die Sicherheitspolitik in Deutschland behandelt mit dem Blick durch die rassistische Brille beide Phänomene ähnlich, da die betreffenden muslimisch rassifiziert werden. Dass es einen großen Unterschied macht, ob man im Irak für den IS gekämpft hat oder in Deutschland kriminell auffällig wurde, wird dabei völlig unterschlagen.

Eine weitere besorgniserregende Debatte, die wir diesen Sommer verfolgen konnten, war die Frage der Freibäder. Wir hatten in Neukölln erst die Silvesternacht und später die Freibäder. In beiden Fällen sehen wir, dass die Zahlen faktisch runtergehen, aber das ist dem rassistische Voyeurismus des deutschen Boulevards egal. Es geht um Kinder oder Jugendliche von migrantisch- muslimisch gelesenen Menschen. Dann wird aus einer Schlägerei von 15 -jährigen im Freibad, wie es sie über all in der Republik diesen Sommer gab, ein Sicherheitsrisiko.

Die Freiheitsliebe: Du hast die Freibäder angesprochen, noch stärker mit dem Thema verknüpft ist allerdings die Shishabar.

Mohammed Ali Chahrour: Wenn wir über Shishabars reden, die Orte, die immer stärker markiert werden, immer häufiger von Razzien betroffen sind und zum Ort der Ausgrenzung gemacht werden; wenn wir uns Herbert Reul anschauen, der von den 1000 Nadelstichen spricht und sich gerne bei Razzien ablichten lässt, dann sehen wir, dass Politiker gerne den Eindruck der starken, eingreifenden Polizei erwecken. Dabei wissen wir, dass es sich eigentlich um Maßnahmen des Ordnungsamts handelt und die Polizei von diesen in Form der Amtshilfe gerufen wird. Diese Amtshilfe wird dann ausgenutzt, um mit mehreren dutzenden Polizisten in Shishabars zu kommen, woraufhin dort Unruhe entsteht, weswegen die Polizei dann im Sinne der Gefahrenabwehr eingreifen kann. Was aber tatsächlich gefunden wird, sind Kleinigkeiten, nämlich vor allem unverzollter Shishatabak, da dieser bis vor kurzem in 250 Gramm-Packungen verkauft wurde, wäre jedes geöffnete Paket unverzollter Tabak, da man diesen nur als Gesamtpacket hätte nutzen können.

Aber abseits von Zollfragen ist entscheidend, was die Folge ist, und das haben wir in Hanau gesehen, dort wurden Menschen in einer Shishabar umgebracht, von einem Rechtsterroristen, der durch solche Debatten motiviert wurde. Es gibt genug Studien, die zeigen, dass die Markierung von Orten als kriminell, dazu führen kann, dass Menschen sich selbst als „Ordnungshüter“ sehen und eingreifen wollen. Genau das ist in Hanau geschehen. Besonders schockierend ist dabei der Vorwurf von Angehörigen der Opfer, dass der Notausgang verschlossen war, weil vom Shishabarbesitzer erwartet wurde, diesen zu schließen, damit bei Razzien niemand abhaut. Razzien und Kontrollen, die eh nur auf tönernen Füßen stehen. Hanau ist das schlimmste Beispiel, wir wissen aber auch in Berlin von Läden, die auch nur im Hintergrund eines Berichts über Shishabars zu sehen waren, bei denen dann die Scheiben eingeworfen wurden oder Hakenkreuze an die Tür gemalt wurden. Das wollen wir auch mit dem Buch zeigen: Die aktuelle Debatte ist ein Brandbeschleuniger für Rassismus gegenüber den Communities.

Die Freiheitsliebe: Du hast deutlich auf die Ausgrenzung und den Rassismus aufmerksam gemacht, es gibt aber einen Bereich, in dem es anders läuft, nämlich den Kultursektor.

Mohammed Ali Chahrour: Dort ist es anders, da ist die „Credibilty“ über das „Clan-Narrativ“ eine gewisse Währung. Wenn ich in der Rapwelt zeigen will, dass ich gefährlich bin, dann kombiniere ich da in Musikvideos teure Autos mit der Erzählung, der „Clan“ so und so stände hinter mir. Dieses gefährliche Image, dieser vermeintlich breite Rücken, wird dabei genutzt. Für die Menschen aus den Communities ist es aber ein Bärendienst.

Wenn wir beide als muslimisch-gelesene junge Männer reden, dann fällt auf, dass wir als Akademiker überhaupt nicht vorkommen. Ich würde gerne die 4 Blocks-Staffel sehen, in der es um so jemanden geht. Das ist das Dilemma. Mein Name Mohammed, wenn er in Deutschland vorkommt, dann kommt er nur als Terrorist, als Clan-Mitglieder oder Geflüchteter vor, ich kann das reflektieren, aber Mohammed, der 5 Jahre alt ist, der immer nur diese ihm zugewiesene Rolle sieht, wird davon auch beeinflusst. Es fehlt also auch an einer positiven Darstellung.

Die Freiheitsliebe: Danke dir für das Gespräch.

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